Vor ein paar Wochen erhielt ich den Anruf einer guten Bekannten, die mich um meine Hilfe bat. Sie wäre zu Besuch bei ihrer Mutter und habe das Gefühl, dass diese den Überblick über die täglich notwendige Medikamenteneinnahme verloren hätte. Den Hausarzt könne sie nicht um Rat fragen, da er im Moment im Urlaub sei. Ich machte mich also auf den Weg, und als ich die kleine Wohnung betrat, konnte ich die Verzweiflung der beiden Damen gut verstehen. Auf dem Küchentisch stapelten sich 20 Jahre Geschichte der deutschen und internationalen Pharmaindustrie in Form von Tablettenschachteln jeglicher Größe und Couleur. Beim Anblick des 1.000-Teile-Pillenpuzzles kam mir der Gedanke, dass sämtliche Fische „Sitz“ machen würden, wenn man diesen Chemiecocktail auf einen Schlag in den Rhein kippen würde.
Um vorübergehend für Klarheit zu sorgen, wühlte ich mich durch alte Krankenhausberichte und die dazugehörigen Verordnungszettel. Dabei stellte ich fest, dass die Patientin nicht etwa unter irgendwelchen exotischen Krankheiten litt, sondern lediglich das Leid vieler alter Menschen teilte: Bluthochdruck, Herzrhythmusstörungen, Diabetes mellitus, Gicht, eine Nierenschwäche, eine Altersdepression und eine Fettstoffwechselstörung. Zum Schluss fand sich noch das Magenmittel, damit das ganze Gebräu den Verdauungstrakt durchläuft, ohne die Schleimhäute zu drangsalieren. Alles sauber diagnostiziert und dokumentiert. Schwierig hingegen die Dosierung. Ein alleinstehender arthrotischer Achtzigjähriger hat nun mal Kompetenzprobleme, wenn er zum Beispiel 100 mg Metoprolol zur Blutdrucksenkung nehmen muss, aus Kostengründen aber Tabletten zu 200 mg bekommt, die sich nur von einem kräftigen Preisboxer teilen lassen. Und wenn der gleiche Wirkstoff dann noch über die Zeit hinweg von wechselnden Anbietern mit unterschiedlichen Namen stammt, wird die 7-Tage-Tabletten-Dosette mitunter zum Abenteuerspielplatz.
Problematisch auch ein verschreibungspflichtiger Rest von Medikamenten, der für das Vorliegen eines schmerzhaften Rückenleidens, Schlafstörungen und ein Augenleiden sprach, zu dem die Patientin aber nur mündlich eine vage Auskunft geben konnte. Sicher kann man seinen Hausarzt um Aufklärung bitten, aber Ärzte kriegen nicht immer mit, dass im Hintergrund noch andere Kollegen an ihren Patienten herumwerkeln. Deshalb an dieser Stelle ein Hoch auf die freie Arztwahl. Damit aber nicht genug. Die Mutter meiner Bekannten hatte Familie, Freunde, Bekannte, den fürsorglichen Apotheker, die Fernsehwerbung und die Regenbogenpresse. Aus diesen Reihen kamen wohl gutgemeinte Empfehlungen zur zusätzlichen Einnahme von Medizinprodukten zur Verbesserung der Hirnleistung, der Durchblutung, sowie der Blasen- und Verdauungsregulation, aufgehübscht und abgerundet durch jede Menge Lifestyle-Vital-Konzentrate.
Schlussendlich wunderte ich mich, dass die alte Dame aufgrund der ganzen Senioren-Power-Pillen noch nicht explodiert war. Nein, sie ist kein Einzelfall, und man muss sich die Frage stellen: Wieviel verträgt eigentlich ein alter Mensch, und warum läuft so manch ein Rentner herum, als sei er auf Koks oder Marihuana? Schlimmstenfalls wird ein Medikament gegeben, weil man die Nebenwirkungen eines anderen behandelt anstatt dieses in der Dosis zu reduzieren oder gar abzusetzen. Im Alter ist weniger oftmals mehr, und – nichts für ungut – aber neulich erst las ich einen Spiegel-Artikel, in dem der Verfasser schrieb, dass sich der Zustand seiner alten Mutter nach jahrelangem Schwindel, Gedächtnisstörungen und Übelkeit spontan verbessert hätte. Vielleicht der Grund: Ihr Hausarzt war gestorben.