Die Bauhaus-Architektur wird im Allgemeinen als revolutionärer Umschwung der bildenden Künste – insbesondere der Architektur – charakterisiert. Formsprache, Raumaufteilung und Materialien wurden vollkommen neu definiert oder anders genutzt als bis dato üblich. Bauwerke, die aus dieser Strömung entstanden, hoben sich optisch wie strukturell stark von den im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert üblichen Gestaltungsweisen ab. Anhand zweier Gebäude inmitten der Krefelder Innenstadt lassen sich diese Kontraste gut veranschaulichen: Das ­Grüterich-Haus und das Geschäftsgebäude des Modeanbieters KULT, die sich am Standort Hochstraße, Ecke Rheinstraße gegenüberstehen, sind Produkte dieser zwei radikal unterschiedlichen Stilauffassungen, deren Hochzeiten nur wenige Jahre auseinanderliegen. Im Vergleich der beiden Häuser manifestieren sich jedoch nicht nur ästhetische Neuerungen, sondern auch historische Einflüsse des frühen 20. Jahrhunderts, die sowohl das Fach Architektur als auch die Lebensweise in der Stadt nachhaltig verändern sollten. Gemeinsam mit den Architekten Claudia Schmidt und Rainer Lucas blicken wir auf diesen gesellschaftlichen und architektonischen Wandel zurück.

Krefeld um 1900

Bevor in Europa 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, hatte die industrielle Revolution in Deutschland zu einem starken Aufschwung der Wirtschaft und dem Niedergang der klassischen Handwerke geführt. Eisenbahn- und Bergbau sowie Eisen- und Stahlproduktion waren die neuen Leitbranchen, und viele Menschen siedelten vom Land in die industriellen Zentren über, um dort Arbeit zu finden. Durch den rasanten Anstieg der städtischen Bevölkerungszahlen wurde es eng, unhygienisch und laut in den neuen Metropolen.

Architektin Claudia Schmidt

Die komfortable Wirtschaftslage machte es möglich, fortan prunkvoll und repräsentativ zu bauen – auch in Krefeld. „Um die Jahrhundertwende war die Stadt sehr reich und orientierte sich offen und weltgewandt gegenüber neuen Stilrichtungen“, erzählt Rainer Lucas, der in Krefeld bereits mit bedeutenden konzeptionellen Aufgaben wie der Wiederherstellung des Traditionsgasthauses „Et Bröckske“ betraut wurde. Der verspielte Jugendstil prägte die Architektur vor allem zum Ende des 19. Jahrhunderts und zeichnete sich durch freie unsymmetrische Formen, geschwungene Linien und zierliche florale Muster aus. Parallel dazu wurde das Wiederaufgreifen prägender Stilmittel älterer Epochen, kurz Historismus, populär. Barock anmutende Schmuckfassaden oder antike Säulen erlebten so ihr Comeback, Ornamente wurden in Masse gefertigt und standardisiert eingesetzt. Hinzu kam ab dem frühen 20. Jahrhundert die Art Déco-Strömung, die ihrerseits zwar klare geometrische Formen verlangte, jedoch nicht minder elegant und schmuckvoll war. „Dieser Lust am Dekorativen frönte auch schon die Arts and Craft-Bewegung aus England, die das Ziel verfolgte, eine sinnlichere Wahrnehmung zu schaffen und dies auch in einer menschenwürdigeren Architektur zu manifestieren. Es galt, der ungemütlichen innenstädtischen Atmosphäre der Industrialisierung etwas entgegenzusetzen. Um wohnlichere Bedingungen zu schaffen, ließen sich die Hersteller damals von der Natur inspirieren und nahmen dies auch in die Ornamentik auf“, erläutert Lucas weiter. Gemütlichkeit und ein behagliches Umfeld konnten so trotz Platzmangels durch entsprechende Dekoration hergestellt werden.

Architekt Rainer Lucas

Das 1912 errichtete Grüterich-Kaufhaus auf der Hochstraße ist eines der charakteristischen erhaltenen Bauwerke jener wirtschaftlichen Hochphase. Die elegante Sandsteinfassade ist bis auf einige markante Veränderungen im Erdgeschoss in ihrer Originalform erhalten geblieben. In der geometrischen Strenge des Hauses und den regelmäßigen Bronzefenster-Reihen zeigt sich bereits ein starker Einfluss des aufkommenden Art Déco-Stils. Eine dezente Ornamentik mit antiken Elementen lockert den optischen Eindruck auf. „Solche Gebäude wurden eigentlich allerorts gebaut. Das ist der Typus des Kaufhauses, der damals aufkam. Die sehen in ganz Europa und den Vereinigten Staaten annähernd gleich aus“, erklärt Architektin ­Claudia Schmidt. Obschon die gebürtige Krefelderin seit vielen Jahren in den Niederlanden tätig ist, setzt sie sich engagiert für ein klares gestalterisches Leitbild in der Innenstadt ein und ist vertraut mit der städtebaulichen Geschichte Krefelds. Auch im Aufbau des Gebäudes erkennt sie einen Beleg für seine Entstehungszeit. „Die Stützen des Hauses stehen“, so vermutet die Architektin, „in der Fassade, zwischen den Fenstern.“ Durch die steinerne Verkleidung des Gebäudes bleiben sie dem Betrachter verborgen. Diese Konstruktionsweise war vor dem Aufkommen der Bauhaus-Architektur beziehungsweise des „internationalen Stils“ üblich. Die Position der stützenden Elemente in einem Bauwerk ist ausschlaggebend für die Gesamtwirkung des Gebäudes. In diesem Fall bildet die Vertikale ein bestimmendes optisches Element, lässt den Bau hochgewachsen, nahezu schlank wirken.

Krefeld ab 1920: Ein großes Umdenken auf allen Ebenen

Anders verhält es sich beim Seidel-Haus, das seinerseits von dominanten horizontalen Formen bestimmt wird und etwas gedrungener, ausladender wirkt als sein Gegenüber. „In der Bauhauszeit wurde viel mit Stahlbeton gebaut. Bei dieser Vorgehensweise ist es am effektivsten, die Stützen ein Stück in das Gebäude reinzuziehen“, erläutert Schmidt. „So hat man nicht mehr die Stütze als vertikales tektonisches Element in der Fassade. Stattdessen gibt es über die statischen Fixpunkte herausragende Geschossdecken. Auf diese Art und Weise kann man die Fassade komplett frei einteilen.“ Durch diese bauliche Neuerung sei es auch möglich gewesen, die breiten Fensterbänder zu installieren, die sich noch heute durch die gesamte Fassade hindurchziehen. Bevor das vierstöckige Gebäude in den 20er Jahren errichtet wurde, hatte an derselben Stelle ein Ende der 1880er im Stil des Klassizismus erbautes Geschäftshaus gestanden, das sich ebenfalls im Besitz der Händlerfamilie Seidel befand. Statt die verspielte Fassade mit ihren Stuckelementen und Ziersäulen zu rekonstruieren, wurde beim Neubau auf klare Formen ohne überflüssiges Beiwerk gesetzt. Auf historischen Bildern ist gut zu erkennen, dass auch die vom Bauhaus erstrebte Ehrlichkeit des Materials eingehalten wurde. „Im Gegensatz zu dekorierten oder verhüllten Konstruktionen, wie es beim Grüterich-Haus der Fall ist, kann man auf alten Bildern des Seidel-Hauses gut sehen, dass es sich um verputzten Beton handelte“, erzählt Claudia Schmidt. Das heutige KULT-Haus ist eines von wenigen erhaltenen innerstädtischen Gebäuden dieser Zeit. Lediglich eine weiße Verkleidung wurde an die Fassade angebracht, um den optischen Standards der heutigen Zeit zu entsprechen.

Mit dem Aufkommen der Bauhaus-Schule setzten die Architekten bei der Planung von Gebäuden und der Stadtgestaltung völlig neue Ziele. Eine bestimmte Außenwirkung zu erzielen, trat in den Hintergrund, und die oberflächliche Optimierung eines Wohnraums durch Dekorationselemente wurde zugunsten eines räumlichen Wohnlichkeitsverständnisses aufgegeben. Als mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein hoher Bedarf an Neubauten entstand, bot sich radikalen Visionären eine Vielzahl von Möglichkeiten, diese neuartigen Vorstellungen umzusetzen – im kleinen wie im großen Stil. Die Verantwortlichen sahen sich mit der Aufgabe konfrontiert, Wiederaufbau zu betreiben, und das mit spärlichen Mitteln. Die „alte ästhetische Ordnung“ wiederherzustellen, war materiell wie ideell nicht denkbar. So konnte sich der Funktionalismus endgültig durchsetzen und alles Schmuckvolle verdrängen. Bauhaus-Mitbegründer Walter Gropius selbst sagte einst über die Infrastruktur vor den Weltkriegen: „Die Krankheit unserer heutigen Städte und Siedlungen ist das traurige Resultat unseres Versagens, menschliche Grundbedürfnisse über wirtschaftliche und industrielle Forderungen zu stellen.“ Zu wenig wohnlich, zu schlecht angepasst an die Bedürfnisse des modernen Menschen seien diese Städte gewesen. Gebäudeplaner gingen ab sofort der Frage nach, wie ein optimales Wohnumfeld für die Zukunft aussehen könnte. Moderne Gebäude sollten vielseitig nutzbar und adaptierfähig sein, es galt, die vorherrschende Enge in Krefeld zu entzerren und auch für den aufkommenden Verkehr zugänglicher zu gestalten. Neubauten an die vorhandene Struktur der Stadt anzupassen, wurde dabei allerdings versäumt, sowohl was ihre Größe als auch was ihren Stil betraf. Das Seidel-Haus gehört zu den weniger drastischen Beispielen, doch auch hier wird die Radikalität des architektonischen und gesellschaftlichen Umschwungs deutlich, steht es seinem Gegenüber unangepasst und andersartig entgegen.

Am Ende ist das Bestreben, einen radikalen Optimierungswunsch umzusetzen, nicht recht geglückt. Platz statt Prunk, Weite statt Höhe, Schlichtheit statt Schmucktapete stellten zwar grundsätzlich erstrebenswert anmutende Ideale dar, allerdings vergaßen die Verantwortlichen bei der begeisterten Umsetzung großformatiger Bauprojekte mit der Ur-Struktur der Stadt den bedeutendsten Maßstab für ihre Optimierungsmaßnahmen. Funktionalität als oberstes Gebot führte so nicht nur zur Erschließung ungeahnter Möglichkeiten und der Ausbildung einflussreicher ästhetischer Strömungen, sondern gab Krefeld auch sein unruhiges, stellenweise beinahe zerrupft wirkende Erscheinungsbild. Ein Stilmix, der heute noch von mancher Seite Missbilligung, von andere wohlwollende Solidarität erfährt: Krefeld – eine Stadt mit Ecken und Kanten. „Die verschiedenen ästhetischen Strömungen der Epochen kann man in unserer Innenstadt jedenfalls sehr gut sehen“, findet Rainer Lucas und setzt damit ein augenzwinkerndes Fazit für unseren architektonischen Erkundungsgang.