Krefeld hat so viel zu bieten, jetzt auch noch eine Kraftquelle: Auf dem Campus Fichtenhain hilft der Mediator und Coach Otmar Müller ausgebrannten Arbeitnehmern durch den Alltag. Ein wichtiges Angebot für die Seidenstadt – denn mit Blick auf stressbedingte Erkrankungen schlagen die Krefelder Krankenkassen Alarm.

Begleitung für Burnout-Betroffene: Ottmar Müller
„Sehen Sie den Baum dort?“ Otmar Müller zeigt auf die hochgewachsene Buche vor dem Fenster. „Wenn Sie sich diesen Baum von der gegenüberliegenden Straßenseite aus ansehen: dann sieht er von dort ganz anders aus.“ Was der 55-jährige Mann aus Mönchengladbach da gerade am Beispiel des Baumes erklärt, ist der Wechsel einer Perspektive – und die ist, mit Blick auf das eigene Leben, eine Herausforderung für viele. Müller hat daraus einen Beruf gemacht.
Es ist ein sommerlich warmer Freitag, später Nachmittag. Müller steht in einem seiner Arbeitsräume auf dem Campus Fichtenhain. Seit 2011 leitet er im Krefelder Vorzeige-Büropark im Stadtbezirk Fischeln seine Firma Aukera: eine Beratungsstelle für Menschen, die einen häufig beruflich bedingten Erschöpfungszustand erlitten haben, von den Symptomen her ähnlich der psychischen Erkrankung Depression. Landläufig auch bezeichnet als „Burnout“. Müller ist kein Therapeut. Er ist Mediator und Coach. Deshalb setzt er erst dort an, wo ein Burnout-Betroffener nach der Behandlung durch einen Fachmann in den Alltag zurückkehrt; denn die Konfrontation mit der Realität ist nicht zu unterschätzen, ist der gefühlte Schutzraum der Therapie einmal nicht mehr da. „Dann“, sagt Müller, „komme ich ins Spiel und biete meine praktische Begleitung im Alltag an.“ Und einen persönlichen Erfahrungsschatz.
Vor etwas mehr als sieben Jahren, als Müller noch IT-Manager bei einem Telekommunikationsunternehmen in Düsseldorf war, wurde bei ihm selbst eine „starke Depression mit einem Erschöpfungszustand“ diagnostiziert. Ohne zu überlegen erinnert er sich an den 8. April 2008, einen Dienstag, an dem er um 7.30 Uhr morgens im Auto hinterm Lenkrad saß, auf dem Weg zur Arbeit. Vor ihm die volle Autobahn. In ihm Leere. Er sah die vielen Autos vor sich, gleichzeitig hatte er das Gefühl, sie nicht wirklich zu sehen. Er hörte die Musik aus dem Autoradio, gleichzeitig hat er das Gefühl, sie nicht wirklich zu hören. Plötzlich dieser Gedanke: „Entweder fahre ich gegen die nächste Leitplanke oder zum Arzt“. Er fährt zum Arzt.
Die Krankschreibung für vier volle Monate brachte ein Hamsterrad zum Stehen, das sich schon Jahre zuvor begonnen hatte, zu drehen. Immer schneller. Ständig war Müller mit dem Flieger in der Welt unterwegs, einen gepackten Trolley hatte er immer im Kofferraum seines Wagens: „An manchen Tagen wusste ich morgens nicht, wo ich abends übernachte“, ob in einem fremden Land oder bei der Familie, seiner Frau und den beiden Kindern, einer Tochter, einem Sohn.
„Irgendwann fing ich an, mich zu verändern“, erinnert sich Müller. „Ich isolierte mich immer mehr, unternahm nichts mehr mit Freunden, und der Aufwand, um Ergebnisse im Job zu erzielen, wurde gefühlt immer größer, erdrückender.“ Bis auch die kleinsten Kleinigkeiten im Alltag zum Kraftakt gerieten. „Die Angst zu versagen, hatte ich bei jedem Handgriff“, sagt Müller, „und wenn es nur darum ging, einen Brief von der Krankenkasse zu öffnen.“
Umso nötiger die Untersuchung 2008 beim Arzt, die Müller in ein neues Leben abbiegen ließ. Nach der mehrmonatigen Auszeit versetzte sein Arbeitgeber ihn für ein Projekt nach Budapest. „Der Tapetenwechsel tat mir gut“, sagt Müller; aber er merkte, dass er noch etwas anderes wollte. Er beantragte sechs Wochen Urlaub. Packte einen Wanderrucksack. Und lief alleine den „Jakobsweg“ von den französischen Pyrenäen bis ins nordspanische Santiago de Compostela. „Keine Erwartungen an mich zu haben, einfach nur zu laufen, zu laufen: das hatte eine befreiende Wirkung auf mich“, sagt Müller, „ich fing an, meine Batterien zu entleeren und geistigen Ballast zu entsorgen.“ So wurde Platz geschaffen für ein neues Ziel, die Firma Aukera: Das Wort komme aus dem Baskischen, sagt Müller, und bedeutet „Chance“.
„Aukera“: eine Beratungsstelle für Menschen, die einen häufig beruflich bedingten Erschöpfungszustand erlitten haben, von den Symptomen her ähnlich der psychischen Erkrankung Depression. Landläufig auch bezeichnet als „Burnout“.
Er kündigte seinen Job in Düsseldorf und absolvierte eine 15-monatige Ausbildung als Mediator und Coach im „Wissenschaftsladen“, einer Weiterbildungsakademie in Bonn. „Danach suchte ich nach passenden Büroräumen und war begeistert, als ich auf den Krefelder Campus Fichtenhain stieß“ – für diesen Ort mit seinen teils denkmalgeschützten Gebäuden wird Müller gerne täglich zum Wahl-Krefelder. Zusammen mit Ehefrau Ulrike, einer „Kinesiologin“ – einer Körpertherapeutin, spezialisiert auf entspannende Bewegungsübungen – bietet Müller auf dem Campus neben Beratungsgesprächen ebenso Muskelarbeit für eine wieder bewusstere Körperwahrnehmung an. Außerdem hat er „Wander-Coaching“ im Programm: Dabei schultert er auch persönlich den Rucksack, um seine Klienten auf ihrem (Wander-)Weg, zum Beispiel entlang des Rheins, zu begleiten. Ein Angebot, das immer wichtiger zu werden scheint.
Die AOK-Krefeld etwa verzeichnet einen alarmierenden Trend. „2010 kamen bei uns auf 100 erwerbstätige Versicherte 239 Arbeitsunfähigkeitstage wegen psychischer Erkrankungen. 2014 waren es 349 Arbeitsunfähigkeitstage – das ist ein Plus von rund 38 Prozent“, teilt AOK-Regionaldirektor Hans-Werner Stratmann mit. Überdies liege die psychisch-stressbedingte Krankheitsdauer in der Seidenstadt bei „durchschnittlich 26 Tagen“. Ausgehend von einem Mittelwert, der normalerweise bei 13 Tagen angesiedelt ist, sei sie damit „die höchste Falldauer bezogen auf alle Arbeitsunfähigkeits-Hauptdiagnosen“ und habe sich in Krefeld von der „sechsthäufigsten Diagnose“ im Jahr 2010 zur „dritthäufigsten Diagnose“ in 2014 gesteigert. Stratmann: „Das ist eine stark steigende Entwicklung.“ Und Birte Schwarz, Sprecherin für die BARMER GEK NRW, sagt: Psychische Erkrankungen seien in NRW „langwierig und daher nach wir vor der zweithäufigste Grund für Fehlzeiten. In Krefeld fehlte eine Erwerbsperson im Jahr 2013 durchschnittlich 3,2 Tage aufgrund einer psychischen Erkrankung im Job. Krefeld liegt damit über dem Bundesschnitt von drei Tagen“.
Mit zwei Klienten pro Monat hat Otmar Müller angefangen, bis zu 15 Klienten pro Monat hat Aukera heute, ein Drittel davon sind Krefelder, die restlichen Klienten kommen aus dem Umkreis. Zum Beispiel der 47-jährige Hotelangestellte aus Meerbusch, der sich für diesen Bericht zwar interviewen ließ, seinen Namen aber nicht nennen wollte. Zu nahe ging ihm die Burnout-Krise, die er 2011 erlitt, wegen der er sogar drei Monate in eine Spezial-Klinik musste. „Danach wollte ich nicht sofort wieder in den Job, sondern mir das Leben zurückerobern. Einerseits mithilfe einer Psychotherapie, andererseits wollte ich aber den Blick nicht nur in mich hinein richten, sondern auch nach außen und dafür praktische Schritte unternehmen.“ Sein Hausarzt empfahl ihm als Zusatzbegleitung Aukera. Der Mann aus Meerbusch nahm die Empfehlung an, wanderte mit Otmar Müller unter anderem den portugiesischen Jakobsweg. Und merkte schnell: „In der Psychotherapie erkennen Sie – bei Aukera planen Sie: diese Kombination war stimmig, um den Weg zurück ins Berufsleben zu finden.“ Und genau dort ist der Meerbuscher jetzt, arbeitet wieder erfolgreich in der Hotellerie bei seinem alten Arbeitgeber.
Aukera coacht aber nicht nur Einzelfälle. Auch spricht Müller aktiv Unternehmen an und schlägt den Firmen vor, einen Teil der Kosten für einen ausgebrannten Mitarbeiter zu übernehmen. Seit zwei Jahren gehört übrigens auch sein ehemaliger Arbeitgeber aus Düsseldorf zu seinen Kunden. „Für meine früheren Chefs war es toll, mir so wieder zu begegnen und zu erkennen, dass Burnout für Betroffene auch als Chance gesehen werden kann.“ Und zu erfahren, wie lohnend er ist: der Wechsel einer Perspektive.