Zurzeit ist Krefeld ein Ort, an dem Schönes entsteht. Um gegenwärtig an der Petersstraße 128 / Ecke Neue Linner Straße Schönheit zu entdecken, hilft es ungemein, jünger als zehn zu sein und seinen Pausensnack gerne in einer Bob der Baumeister-Butterbrotdose mit sich herum zu tragen. Oder zu den zahlreichen Mitarbeitern der Krefelder Wohnstätte zu gehören. Deren Vorfreude auf ihr künftiges neues Verwaltungsgebäude ist angeblich, neben dem Einsatz von Betonmischern, ein Grund für das Vibrieren rund um die Stadtmitte. Denn die Wohnstätte Krefeld ist als Bauherr auf dem „Flurstück 701“ derzeit verantwortlich für den Neubau eines viergeschossigen Verwaltungs- und Wohngebäudes plus Tiefgarage und Staffelgeschoss.

Aus WKS wird WKR - Eine Tochter der Stadt baut auf historischem Grund

Die Werkkunsschule am 22. Juni 1943. Trotz schwerer Treffer ist die Fassade noch größtenteils intakt.

Viele Krefelder können sich an das nach der letzten Renovierung  in den 50er-Jahren recht unscheinbare Vorgängergebäude, eingegangen ins kollektive Gedächtnis als „Werkkunstschule“, schon fast nicht mehr erinnern. Nur die Nordfassade des ­ursprünglichen Prachtbaus an der Neuen Linner Straße zeugt im Jahr 2016, abgestützt in Westernstadtmanier, noch von besseren Zeiten. Der Abriss ist auf youtube noch in ermüdenden Echtzeit-Videos zu beobachten. Versehen mit Kommentaren, in denen dieser Rückbau mit dem drohenden Verlust von Krefelds Identität gleichgesetzt wird. Sicher ist, dass hier die Chance verwirkt wurde, mit einer Sanierung des Gebäudes Anfang der 2000er-Jahre Krefelds Innenstadt durch die  Studenten und ihre Ideen weiterhin beliebt und belebt zu halten. Architekturgeschichte ist eben immer auch die Geschichte von gesellschaftlichem und politischem Wandel.

1887 wurde die magische Zahl von 100.000 Einwohnern überschritten

Krefelds überregionaler Ruf als Samt- und Seidenstadt stammt in etwa aus derselben Zeit wie das Fassadenrelikt an der Neuen Linner Straße. Damals hatte Krefeld, wie viele andere Städte am Niederrhein, im Zuge der Industrialisierung eine rasante Entwicklung durchlaufen. Viele Städte in der Region waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch Dörfer oder kleine Ackerbürgerstädte mit wenigen tausend Einwohnern. Doch schon 1887 konnte die damalige Crefelder Stadtverwaltung stolz vermelden, dass die magische Zahl von 100.000 Einwohnern überschritten war. Das Krähenfeld hatte sich zur Großstadt gemausert. Ein Umstand, der ihr im II. Weltkrieg noch zum Verhängnis werden sollte, machte gerade ihre Größe und geostrategische Lage Krefeld zum wichtigen Kriegsziel für die Alliierten.

Doch erst einmal wuchsen bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein die allermeisten Städte regellos und friedlich; keine Spur von Stadtplanung. In den letzten zwei Jahrzehnten vor 1900 wurden verstärkt Maßnahmen erdacht und ergriffen, um die Zusammenballung der in die Zentren strömenden Menschenmassen zu ­regeln – die deutsche Vereinskultur wurde geboren. Die Urbanisierung bildete neue Kommunikationsstrukturen, neue politische und kulturelle Anforderungen sowie ein neues Konsumverhalten aus. Das vormals bäuerliche Krefeld wurde durch die Textilindustrie reich und bekannt. Um diesem guten Ruf gerecht werden zu können, mussten Mittel und Wege der Qualitätssicherung gefunden werden.

Die Werkkunsschule am 22. Juni 1943. Trotz schwerer Treffer ist die Fassade noch größtenteils intakt.

Eine besondere bauliche Herausforderung: Das seit 2007 denkmalgeschützte Fassadenrelikt der ehemaligen Werkkunstschule wird derzeit technisch aufwändig abgestützt und später in das neu entstehende Verwaltungsgebäude der Wohnstätte Krefeld integriert.

Das von Johann Burkart entworfene Schulhaus zur Verbesserung des (Kunst-)Handwerks feierte am 25. April 1903 Eröffnung

Vertreter der Krefelder Mittel- und Oberschicht gründeten bereits in den 1860er-Jahren den „Crefelder Handwerker- und Bildungsverein“. Diese Vereinigung ­beschloss 1897 das als Kunstgewerbemuseum gedachte Kaiser Wilhelm Museum zu erbauen. Sein Architekt, Hugo Koch, engagierte sich dort ebenfalls. Sieben Jahre später eröffneten sie die „Handwerker- und Kunstgewerbeschule zu Crefeld“ an der Petersstraße, damit es in diesem Museum auch etwas auszustellen gab. Auf den Gedanken, dort zeitgenössische Kunst zu zeigen, kam man erst nach dem II. Weltkrieg. Nach zwei Jahren Bauzeit feierte das von Johann Burkart entworfene Schulhaus zur Verbesserung des (Kunst-)Handwerks am 25. April 1903 Eröffnung. Dessen Markenzeichen: große Fenster und ein weitläufiges Treppenhaus. Im Inneren warteten Werkstätten und Ateliers für verschiedenste kunstgewerbliche Techniken auf die Studenten. Von Außen sah es zumindest für moderne Augen aus wie ein Miniatur Hogwarts: Mit Türmen und Fähnchen, Ornamenten und Giebeln. Bis 1943 sorgte das hauptsächlich an der Frührenaissance orientierte repräsentative Schulgebäude für ein eindrucksvolles Bild in der Innenstadt.

Alle Direktoren der Werkkunstschule nach Carl Wolbrandt waren Architekten

Die Reformbewegung auf dem Gebiet der angewandten Künste, die zur Etablierung der Kunstgewerbeschulen führte, wurde seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, von England ausgehend, und mit dem einen oder anderen neidischen Seitenblick nach Frankreich,  vorrangig von Architekten vorangetrieben. Alle Direktoren der später nur noch „WKS“ genannten Werkkunstschule nach Carl Wolbrandt waren Architekten (Caspar Lennartz, Stephan Hirzel, und Fritz G. Winter). Bis zu ihrer endgültigen Schließung im Jahr 2005 haben Tausende Goldschmiede, Maler, Grafiker, Bildhauer, Weber, Kunstschmiede, Architekten, Textilgestalter, Innenarchitekten, Kunsttischler, Glasmaler und Bühnenbildner in Krefeld ihre Ausbildung durchlaufen. Auch Krefelder Bürger, wie Anton Sattler, der spätere „Bürgermeister vom Inrath“, durften hier studieren und so ihre Karrieren befördern.

Der Jugendstil gehörte damals zu den einflussreichsten Kunstströmungen und prägte selbstverständlich auch den Lehrplan der jungen Krefelder Schule. Erklärtes Ziel war eine ganzheitliche Erziehung. Das hieß, den Studentinnen und Studenten neben der fachlichen Kompetenz auch die Grundlagen von Urteilsfähigkeit und ästhetischem Anspruch zu vermitteln. Am besten, man gründete auch dafür einen Verein. Die Lehrerschaft der „Crefelder Handwerker- und Kunstgewerbeschule“, mit bis heute bekannten Namen wie August Biebricher, Jens Boysen, Johannes Harder, Raimund Jahn, Gustav Mörl, Julius Svensson, Jan Thorn-Prikker und Carl Wolbrand, fühlte sich kulturreformerischen Ideen verpflichtet und begründete, gemeinsam mit Friedrich Deneken, dem Direktor des Kaiser Wilhelm Museums, im Jahr 1907 den „Deutschen Werkbund“. Gewerbe, Industrie und Kunst sollten Hand in Hand gehen. Ähnliche Ideen entwickelten in diesem Zeitraum auch Henry van de Velde und Walter Gropius für ihr Bauhaus-Manifest. Die erste Ausstellung aller Fachklassen der WKS gab es 1911 im Kaiser Wilhelm Museum.

In den kommenden Jahrzehnten verließen die reformerischen Ideen in Form von künstlerischen Arbeiten die Ausbildungsstätte. Im I. Weltkrieg war der Schulbetrieb nur notdürftig aufrecht zu erhalten. Einzig der gute Ruf der Institution rettete diese; 1922 bewarben sich die ersten ausländischen Studenten aus Russland, der Schweiz, den Niederlanden und Belgien um Aufnahme.

Dieser vielversprechenden Entwicklung wurde durch den Machtwechsel im Jahr 1933 ein jähes Ende gesetzt. Moderne internationale Trends hatten im erzkonservativen Denken der Nationalsozialisten keinen Platz. Weil „Handwerkern für bau- und kunsthandwerkliche Berufe“ die Zukunft gehören sollte, wurden die Fächer ­Architektur, Bildhauerei und Keramik kurzerhand gestrichen. Fünf der sieben Künstler, die als Lehrer wirkten, mussten gehen. Während die Bauhäusler 1933 von den Nationalsozialisten zur Aufgabe gezwungen wurden, hatten verbleibende Lehrer der WKS 1934 folgenden Eid zu leisten: „Ich schwöre: Ich werde dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, treu und gehorsam sein, die Gesetze beachten und meine Amtspflicht gewissenhaft erfüllen, so wahr mir Gott helfe.“

Den Professorentitel durften sie nicht mehr führen – der Führer hatte ein persönliches Problem mit akademischen Hierarchien – mit dem Meistertitel durfte dafür die alte Herrlichkeit und Hoheit des Handwerkes wieder hergestellt werden. Tüchtige Handwerker, die Träger deutscher Wesenheit, sollten produziert werden, um das „Tausendjährige Reich“ zu errichten. Die spätere Bezeichnung „Meisterschule des deutschen Handwerks, staatlich unterstützte Fachschule für Tischlerei, Malen, Grafik, Flächenkunst und Metall“ beschrieb das eingeschränkte Tätigkeitsfeld ziemlich genau. Doch nicht nur die veränderten Ausbildungsziele brachten die Schule aus dem Takt. Ab September 1939 wurden viele Lehrer und Schüler eingezogen. Das Schulgebäude selbst wurde in der denkwürdigen Krefelder Bomben-Nacht vom 22. auf den 23. Juni 1943 so schwer zerstört, dass man gezwungen war, den provisorischen Lehrbetrieb im Herrenhaus der Burg Linn fortzusetzen, ehe er am 1. August 1944 ganz eingestellt wurde. Am 11. Januar 1945 erfolgte die weitgehende Zerstörung des ganzen Gebäudes, lediglich die Fassaden standen noch.

Aus WKS wird WKR - Eine Tochter der Stadt baut auf historischem Grund

Großes Bild: WKS 1971, Blick von der Lohstraße über den Parkplatz zur Neuen Linner Straße

Namhafte Künstler UND DESIGNER, wie Heinrich Campendonk, Helmut Macke, Josef Strater, Markus Lüpertz, Jil Sander, Janosch und Peter Lindberg studierten hier

1949 übernimmt Prof. Fritz G. Winter die Leitung der Schule. In Anlehnung an vermeintlich bessere Zeiten erfolgt auch die Umbenennung in „Werkkunstschule“. Mit dem Namen konnten sich die zu recht ideologieverdrossenen Krefelder zuerst nicht anfreunden – später wollten sie ihn dann nicht mehr hergeben. Immerhin konnte der Lehrbetrieb weitergehen. In diesen Jahren bildete die Samt und Seidenstadt namhafte Künstler und Designer, wie Heinrich Campendonk, Helmut Macke und Josef Strater sowie Markus Lüpertz, Jil Sander, Janosch und Peter Lindbergh aus.

Von Denkmalschutz, wie wir ihn heute kennen, war damals noch keine Rede. Während man in Dresden bereits 1945 zur „Sicherung der historischen Bausubstanz“ schritt, verkleidete Krefeld kurzerhand ebenjene.

1951 wird die WKS dann vom Direktor und Architekten Prof. Fritz G. Winter, gemeinsam mit seinem WKS-Kollegen Hein Stappmann, modernisiert. Das immer noch vom Krieg gezeichnete Gebäude erweiterten sie um ein viertes, als Staffelgeschoss ausgelegtes Geschoss, mit Flachdach. Die Fassade zur Petersstraße hin wurde mit Platten verkleidet, die zum Teil vor dem alten Mauerwerk saßen. Von Denkmalschutz, wie wir ihn heute kennen, war damals noch keine Rede. Während man in Dresden bereits 1945 zur „Sicherung der historischen Bausubstanz“ schritt, verkleidete Krefeld kurzerhand ebenjene. Vergessen die Gründungsgrundsätze der WKS von Ganzheitlichkeit und dem Zusammenspiel von Ästhetik und Funktion. Als logische Folge daraus konnte noch einmal  50 Jahre später das Gebäude dann nur noch abgerissen werden. Die Eintragung des letzten verbleibenden Fassadenreliktes an der Nordseite des Gebäudes in die Denkmalliste der Stadt Krefeld erfolgte erst im Jahr 2007.

Nach einer Phase der Skepsis gegenüber dieser Modeerscheinung „Design“, entwickelten sich im Laufe der Jahre gerade diese Studiengänge zu regelrechten Studentenmagneten

Von der harmlosen, fast bürokratisch nüchternen Außenansicht der 50er-Jahre durften sich die damaligen Zeitgenossen allerdings nicht irritieren lassen. Drinnen wurde viel diskutiert. Über Form und Inhalt von Kunst. Über Design, Fortschritt und deren gesellschaftliche ­Relevanz. Nach den Studentenunruhen 1968 gab es 1970 sogar den ersten Versuch einer demokratischen Selbstverwaltung des Schulbetriebs. Ohne Erfolg: 1971 verlor die WKS ihre Autonomie und wurde als „Fachbereich Design“ als einer von acht Fachbereichen in die Fachhochschule Niederrhein eingegliedert. Nach einer Phase der Skepsis gegenüber dieser Modeerscheinung „Design“, entwickelten sich im Laufe der Jahre gerade diese Studiengänge zu regelrechten Studentenmagneten. Sie wurden gar so beliebt, dass es zu eng wurde auf der Petersstraße. Nach und nach wanderten Studenten mit Staffelei, Werkbank und Computer unterm Arm herüber zum Frankenring. 2007 verkaufte die Stadt das inzwischen verlassene Gebäude an einen Investor. Dieser nahm jedoch von seinen Plänen Abstand und veräußerte seinerseits die ehemalige WKS an die Wohnstätte Krefeld AG. Was einige Krefelder Künstler und Arbeitslose als Einladung zur Hausbesetzung verstanden. Die WKS gehörte schließlich wieder uns.

Bevor die Wohnstätte Krefeld ihren europaweiten Architektenwettbewerb für die Neubebauung des Grundstückes ausschreiben konnte, musste Geschäftsführer Thomas Siegert sein ganzes diplomatisches Geschick aufbringen, um im Jahr 2014 ein künstlerinitiativefreies und unrettbar baufälliges Gebäude abreißen zu lassen. Die städtische Tochter konnte die Neubaumaßnahmen dann im Frühjahr 2015 beginnen. Als ausführende Architekten sind Blocher Blocher Partners aus Stuttgart daran interessiert, dass der Neubau dem Erbe der ehemaligen Werkkunstschule gerecht werden wird. Den Zuschlag erhielten sie nicht zuletzt wegen des gelungenen Zusammenspiels ihrer Planung mit dem historischen Fassadenelement sowie dem gegenüberliegenden Behnisch-Haus. Eine spezielle Herausforderung, dieser bauliche Spagat zwischen damals und heute.

Und auch wenn die Architekten von heute etwas andere ästhetische Vorstellungen haben als vor 100 Jahren – Türmchen suchen wir vergeblich – so steckt doch wieder der alte Wille, etwas von Bestand zu schaffen, in den Plänen. Moderne Baukultur trifft auf Bewahrenswertes. Bewahrenswertes trifft auf Unternehmenskultur. Begriffe wie repräsentativ, bodenständig und heimisch stehen in den Planungsunterlagen völlig selbstverständlich neben solchen wie hell, klar strukturiert, anregend, nachhaltig, offen und kommunikativ. Selbst die Kunst wird wieder einziehen, in Form von Ausstellungen und Abendveranstaltungen. Das hätte den Architekten und Künstlern der WKS gefallen: Ästhetische sowie funktionale und ökologisch-ökonomische Prinzipien, die ganzheitlich den Alltag der WKR durchdringen.