Weiß verputzte Wände, Flachdach, rechte Winkel, große Fensterflächen: Angesichts der auffälligen Gebäudemerkmale im Mies van der Rohe Business Park fällt selbst dem unwissenden Laien der Begriff „Bauhaus“ ein. Dabei ist Bauhaus weit mehr als ein Architekturstil, eine Verbindung äußerlicher, unspezifischer Charakteristika. Im Bauhaus-Jahr werden viele Missverständnisse beseitigt werden, aber die Diskursmöglichkeiten, die das Jubiläum bietet, sind ungleich größer.

 

„Bauhaus ist eine Haltung“, sagt Peter Köddermann vom Museum für Architektur und Ingenieurkunst NRW e. V. (M:AI NRW) und schaut sich dabei lächelnd in den Shed-Hallen um, einem flachen Gebäude, das zum Komplex des Business Parks gehört. Es herrscht reger Betrieb: Studierende hantieren mit Rigips-Platten, Wasserwaagen und Akkuschraubern. Die Arbeiten sind Teil der Vorbereitung der Ausstellung „Mies im Westen“, die das M:AI NRW im Bauhaus-Jahr in den Städten Krefeld, Aachen und Essen ausrichtet, und die Studierenden gehören zu Professor Norbert Hanenberg von der THM Gießen und Professor Daniel Lohmann von der TH Köln. „Es ist heute wahnsinnig schwierig, die Architekturstudenten von ihren Notebooks und digitalen Bauplänen wegzubekommen“, erklärt Lohmann. „Aber Architektur muss man anfassen, erfühlen und erleben – in Auseinandersetzung mit Werkzeug und Materie.“ Was zunächst banal klingt, ist eine der zentralen Überlegungen, mit denen das Bauhaus sich vor hundert Jahren anschickte, die Welt zu verändern – und die uns heute weitaus mehr sagt, als weißer Putz und rechte Winkel. Genau darum geht es: „Der Bauhaus-Geburtstag bietet uns die Gelegenheit, darüber nachzudenken, was Bauhaus eigentlich bedeutet – und vor allem: Was es heute noch bedeuten kann“, beschreibt Köddermann, was er sich mit der Ausstellung vorgenommen hat. Angesichts der inflationären, oft falschen Verwendung des berühmten Namens keine leichte Aufgabe. Unter der Überschrift „Welches Bauhaus soll’s denn sein?“ wies Niklas Maak in der FAZ erst kürzlich darauf hin, „dass man das Bauhaus zurechtschneidet auf ein homogenes, touristisch und politisch nutzbares Idealbild – die Abgründe und Widersprüche, die es in den ideologischen Kämpfen der Weimarer Republik zerrissen […]“ aber weitestgehend ausblendet. Das Bauhaus war ein sehr heterogenes Konstrukt, das sich nicht zuletzt aus den Verwerfungen seiner Gründungszeit speiste.

1919, als das Staatliche Bauhaus aus der Vereinigung der Großherzoglich-Sächsischen Kunstschule Weimar und der Großherzoglich-Sächsischen Kunstgewerbeschule Weimar hervorgeht, befindet sich Deutschland in einer tiefen wirtschaftlichen wie ideologischen Krise. Das Kaiserreich war Geschichte, der Erste Weltkrieg hatte seine Spuren hinterlassen. „Es bedurfte einer Idee für ein neues Deutschland, eines neuen Wertekanons – aber auch einer neuen Kunst und Architektur“, beschreibt Lohmann die Ausgangssituation. Walter Gropius, der die Leitung der Schule übernimmt, weiß, wie die neue Kunst und Architektur aussehen könnte: Seine Idee ist es, den „Bauhüttengedanken“ neu zu etablieren, Kunst als Handwerk, als Beschäftigung mit Material und Werkzeug, wiederzubeleben. Alle Bereiche der bildenden Kunst sollen in einer ganzheitlich gedachten Architektur zusammenfinden, bei der alles einem übergeordneten Paradigma folgt – von der Gestaltung der Tapete über Möbelstücke bis hin zu Wohnhäusern und schließlich zur Städteplanung. „Das Endziel aller bildnerischen Tätigkeiten ist der Bau“, wie Gropius im Bauhaus-Manifest schreibt. Dem historistischen Ornament der Kaiserzeit sagt er den Kampf an, er strebt zu einer neuen Sachlichkeit. „Er wollte eigentlich weg vom Stil“, fasst Lohmann Gropius‘ Ziele pointiert zusammen.

Gropius’ Ideen waren aber nicht im luftleeren Raum entstanden: Er ist vielmehr Teil einer europäischen Reformbewegung, die im späten 19. Jahrhundert ihren Anfang nahm. Der Brite William Morris, Maler, Dichter, Architekt und Ingenieur, wandte sich gegen die Folgen der Industrialisierung und schuf mithilfe traditioneller Handwerksmethoden hochwertige Textilien, Möbel und Gebrauchsgegenstände. Er gilt heute als einer der Wegbereiter des Jugendstils, der die einheitliche Gestaltung von der Inneneinrichtung bis zum Bauwerk proklamierte und eine neue künstlerische Aufmerksamkeit für die Gegenstände des Alltags sowie die Abwendung vom Historismus forderte. Jugendstilbauten gegen den Wilhelminismus waren auch charakteristisch für den „Hagener Impuls“, ein bedeutendes Vorbild für Gropius‘ Vorstellung einer ganzheitlichen Städteplanung. Karl Ernst Osthaus, ein Kunstmäzen und -sammler, wollte nicht nur das gesamte Stadtbild Hagens verändern, sondern mit ihm auch das gesellschaftliche Zusammenleben. Dabei arbeitete er wiederum eng mit Henry van der Velde zusammen, der auch einer der Mitbegründer des Deutschen Werkbundes war, einer Vereinigung von Künstlern, Architekten und Unternehmern, die sich ebenfalls eine neue Ästhetik auf die Fahnen geschrieben hatte. Bei der Gestaltung sollte die Alltagstauglichkeit im Vordergrund stehen. Die auch vom Bauhaus angestrebte Ganzheitlichkeit schlug sich in dem Motto „Vom Sofakissen zum Städtebau“ nieder.

Gropius leitet das Bauhaus von 1919 bis 1928, zunächst in Weimar, dann in Dessau. Die enorme Wirkung, die er mit seinen Ideen erzielt, liegt nicht zuletzt in seinem herausragenden Gespür für Marketing und in seiner Eigenschaft als unermüdlicher Kommunikator begründet. Der Name „Bauhaus“ ist sein genialer Einfall, die perfekte sprachliche und typografische Umsetzung der zugrundeliegenden Philosophie. Das abstrakte Logo dazu entwirft der Maler und Bildhauer Oskar Schlemmer. „Imagebildung und Außendarstellung waren von Anfang an ein wichtiger Bestandteil von Gropius’ Strategie“, erläutert Lohmann, und Gropius kann dafür – als frühes Beispiel eines „Networkers“, der Tausende von Briefen verfasste – die Spitze der deutschen Avantgarde gewinnen. „In Weimar kamen auch die richtigen Menschen zur richtigen Zeit zusammen: Gerhard Marcks, Lyonel Feininger, Paul Klee, Oskar Schlemmer, Wassily Kandinsky, Marianne Brandt und László Moholy-Nagy …“, beseitigt Hanenberg das Fehlurteil, das Bauhaus sei mit seiner Priorisierung von Funktionalität „unpersönlich“ gewesen. „Es waren große Namen, die sich um Gropius versammelten und ihre eigene Handschrift mitbrachten.“

Die neue Kunst braucht auch neue Wege der Vermittlung und Lehre – und natürlich neue Schüler. Wer eine Begabung vorweisen kann, soll am Bauhaus studieren können, unabhängig von Schulabschuss, Geschlecht oder Staatsangehörigkeit. Dieser demokratische Impetus findet seine logische Fortsetzung in dem Wunsch, eine Architektur zu schaffen, die den Menschen mit seinen Bedürfnissen in den Mittelpunkt rückt – und bezahlbar ist. Bauhaus ist auch eine Utopie: Architektur von neuen Menschen für neue Menschen. Die Nazis, denen ebenfalls ein „neuer Mensch“ vorschwebt, sind vom avantgardistischen Treiben in Weimar aber nur wenig angetan, und auch die andere Seite des politischen Spektrums fremdelt mit den Künstlern. Als 1925 der Etat des Bauhauses um die Hälfte gekürzt wird, zieht Gropius die Konsequenzen und geht ins SPD-regierte Dessau, wo seine Schule zur vollen Blüte reift. Das neue Umfeld trägt erheblich dazu bei: Als aufstrebender Wirtschaftsstandort kommt Dessau die PR, die mit der Anwesenheit weltweit anerkannter Künstler einhergeht, sehr gelegen, darüber hinaus benötigt die Stadt dringend günstigen Wohnraum für die in Scharen anströmenden Arbeiter. Gropius konzipiert daraufhin die Siedlung in Dessau-Törten, die 314 weiß verputzte Reihenhäuser mit Garten- und Nutzfläche umfasst. Weil Kosteneffizienz oberste Priorität genießt, werden neue Baustoffe und Industrieprodukte eingesetzt und die Baustelle wie eine moderne Fabrik organisiert, sodass mehrere Häuser gleichzeitig gebaut und Bauteile vor Ort montiert werden können.

“Der Name ,Bauhaus’ ist der geniale Einfall von Walter Gropius. Er ist die perfekte sprachliche und typografische Umsetzung der zugrundeliegenden Philosophie.  Das abstrakte Logo dazu entwarf der Maler und Bildhauer Oskar Schlemmer. Imagebildung und Außendarstellung waren von Anfang an ein wichtiger Bestandteil von Gropius’ Strategie.”
(Professor Daniel Lohmann, TH Köln)

 

„Unter dem Namen ,Bauhaus‘ wurden Luxusvillen und Sozialbauten errichtet, Firmengebäude und Arbeitsämter: Es ist unmöglich, aus dieser Vielfalt eine Liste von Merkmalen zu filtern, anhand derer man bestimmen kann, was Bauhaus ist und was nicht”
(Professor Norbert Hanenberg, THM Gießen)

 

 

„Der Bauhaus-Geburtstag bietet uns die Gelegenheit,
darüber nachzudenken, was Bauhaus eigentlich bedeutet – und vor allem: Was es heute noch bedeuten kann. Bauhaus ist viel mehr, als nur ein Architektur-Stil – Bauhaus ist eine Haltung”

(Peter Köddermann, Museum für Architektur und Ingenieurkunst NRW e. V. (M:AI NRW)

 

Unter Gropius‘ Nachfolger Meyer wird der eingeschlagene Weg unter der Losung „Volksbedarf statt Luxusbedarf“ anschließend noch konsequenter beschritten. Als Beispiel seiner Philosophie gelten die Laubenganghäuser in Dessau, die Arbeitern und kleinen Angestellten günstige „Volkwohnungen“ bieten sollen. Dem Grundriss liegt eine Berechnung des tatsächlichen Wohnbedarfs einer vierköpfigen Familie zugrunde. Dass bis heute keine baulichen Veränderungen an den Häusern vorgenommen wurden, spricht für Meyers Entwurf. Mit gestalterischen Details wie der unverputzten Backsteinfassade probt er zudem die Abkehr von gängigen Bauhaus-Charakteristika, wie sie etwa in Gropius‘ Siedlung in Törten zu finden sind. „Unter dem Namen ,Bauhaus‘ wurden Luxusvillen und Sozialbauten errichtet, Firmengebäude und Arbeitsämter: Es ist unmöglich, aus dieser Vielfalt eine Liste von Merkmalen zu filtern, anhand derer man bestimmen kann, was Bauhaus ist und was nicht“, resümiert Hanenberg. Meyers Amtszeit währt nur kurz: Wegen „kommunistischer Machenschaften“ wird er 1930 entlassen, sein Nachfolger wird der pragmatische Mies van der Rohe, der seinen Fokus noch stärker auf die Architektur richtet und gesellschaftspolitische Betrachtungen dabei außen vor lässt. Doch trotz solcher Kompromisse sieht sich das Bauhaus auch unter seiner Führung immer stärkeren Repressalien der Nazis ausgesetzt. Daran ändert auch der Umzug nach Berlin nichts. Nachdem Polizei und SA das Bauhaus im April 1933 durchsuchen, versiegeln und seinem Leiter anschließend die Bedingungen für eine Wiedereröffnung diktieren, löst Mies van der Rohe den Betrieb auf und geht einige Jahre später in die USA.

„Mies van der Rohe war unglaublich streng in allem, was er tat“, charakterisiert Hanenberg den Architekten. „Er betrachtete jeden Augenblick seines Lebens als Aufgabe. Vielleicht könnte man diese Strenge als typische Bauhaus-Eigenschaft beschreiben.“ Das Paradigma der Funktionalität, das während Gropius‘ Zeit bestimmend ist, radikalisiert Mies van der Rohe noch. „Er suchte nach Wegen, Gebäude zu entwerfen, die nicht nur einem, sondern allen möglichen Zwecken dienen konnten“, schaltet sich Lohmann ein. Voraussetzung dafür war ein intensives „Hineindenken“ in seine Projekte, in die Aufgaben, die sie erfüllen sollten, und die Wünsche seiner Auftraggeber. So ist Mies van der Rohe in der Lage, erst zwei luxuriöse Unternehmer-Villen zu bauen – die Häuser Lange und Esters – und anschließend die Fabrikgebäude der VerSeidAG zu entwerfen, die heute, rund 90 Jahre später, Heimat für eine Ausstellung zu seinem Schaffen sind. Drei Gebäude mit völlig unterschiedlichen Anforderungen, die stilistisch dennoch wie aus einem Guss wirken. Die einfache Kastenform, die wir mit Bauhaus assoziieren, war tatsächlich das Ergebnis eines langwierigen intellektuellen Prozesses.

Die Studierenden haben das Werkzeug beiseite gelegt und sich zur Mittagspause auf den Grünflächen des Business Parks niedergelassen. Die picknickenden Menschen sehen inmitten der modernen Bauhaus-Architektur keineswegs deplatziert aus. Vielmehr zeigt das Bild sehr anschaulich, wie das Bauhaus Gegensätze auflöst oder aber zusammenbringt und in der Synthese etwas Neues entstehen lässt. Noch etwas anderes fällt auf: Pragmatismus und Funktionalität müssen nicht zwingend nüchtern sein, wenn Sie vom Menschen mit Leben gefüllt werden. Das Bauhaus-Jahr hat eben erst begonnen, aber schon jetzt versetzt es Gedanken in Bewegung.