Ein rotes Band hält den dicken Leinenstoffballen zusammen. Die zierliche, akkurat von Hand gebundene Schleife bildet einen schönen Kontrast zur rustikalen und festen, aber faszinierend lebendigen Struktur des Stoffes: kein Vergleich zu den aseptischen Textilprodukten der industriellen Massenproduktion. Der Ballen hat eine weite Reise hinter sich: Er stammt aus Österreich und wurde noch vor dem Zweiten Weltkrieg gewebt. Der Mensch, dem die begabten Hände gehörten, die den Flachs für den Eigenbedarf verarbeiteten und die Schleife banden, ist wahrscheinlich schon vor vielen Jahren verstorben. Was könnte er uns heute erzählen?
„Bei einem Antiquitätenhändler fiel mir ein Ballen eines alten Leinenstoffes in die Hände. Ich wusste sofort, dass ich daraus etwas machen wollte.“
Beate Wuschka freute sich schon als junges Mädchen über die Kleidungsstücke, die ihr die Mutter – eine gelernte Damenschneiderin – nach ihren eigenen Wünschen anfertigte. Trotzdem schlug sie zunächst eine andere Laufbahn ein, studierte Germanistik und Theologie und arbeitete im Schuldienst, bis eine schwere Krankheit sie vor 20 Jahren zwang, ihr Leben zu verändern. Nach ihrer Genesung suchte Wuschka eine neue Beschäftigung – und entdeckte durch Zufall die alte Begeisterung für Stoffe und Textilien wieder. „Bei einem Antiquitätenhändler fiel mir ein Ballen eines alten Leinenstoffes in die Hände. Ich wusste sofort, dass ich daraus etwas machen wollte“, erinnert sie sich an die Initialzündung. Aus dem Leinenstoff fertigte Wuschka Brotbeutel, Wäschesäcke, Zierdeckchen oder Markttaschen an, zunächst nur für sich selbst, Familie, Freunde und Bekannte. Doch das Hobby verselbstständigte sich und nahm immer mehr Zeit in Anspruch, bis sie beschloss, ein Gewerbe zu gründen. Heute arbeitet Beate Wuschka in einem Atelier unter dem Dach ihres Hauses und verkauft ihre Textilien (sowie handgefertigte Schmuckstücke) unter der Marke „Betucht“.
„Leinen ist ein faszinierendes Material. Es hat zahlreiche nützliche Eigenschaften, nimmt zum Beispiel viel Feuchtigkeit auf und wirkt antibakteriell, was es besonders für das Lagern von Lebensmitteln prädestiniert. Als Kleidungsstück ist es außerdem angenehm kühlend bei Hitze“, beschreibt Wuschka nur einige der „hard facts“. Aber sie sind nicht wirklich das, was sie an der Verarbeitung des Naturstoffes reizt, eher schon die Tatsache,
dass Leinen vollständig biologisch abbaubar ist. „Ich bin ein Kind der Nachhaltigkeits- und Friedensbewegung der 1980er-Jahre“, erklärt sie. „Die Stoffe, mit denen ich arbeite, sind alle in traditioneller Handwerksarbeit
gewebt; es kommen bei der Fertigung keine Chemikalien oder künstlichen Farbstoffe zum Einsatz.“ Es gibt heute nur noch ganz wenige kleine Unternehmen, die Leinen nach diesen Kriterien herstellen, und auch der Bestand
alter Stoffe, die ihren Qualitätsanforderungen entsprechen, wird von Jahr zu Jahr immer geringer. Aber auf Massenfertigung hat sie es eh nicht abgesehen. „Jedes Stück Stoff, das ich verarbeite, ist anders, und dem möchte
ich mit meiner Arbeit gerecht werden“, gibt sie Einblick in ihre Philosophie.
Dass sie auf die Einkünfte aus ihrer Arbeit wirtschaftlich nicht angewiesen ist, empfindet sie als großen Luxus: „Ich kann den Produkten Zeit geben, sich zu entwickeln.“ Wenn Beate Wuschka in ihrem Atelier sitzt, große Stoffbahnen in passende Stücke schneidet, ihre Brotbeutel von Hand bedruckt oder Säume mit der alten Nähmaschine von Pfaff näht (die, so sagt sie „laut wie ein Trecker“ ist), gerät sie im besten Fall in einen „Flow“, und es stellen sich jene Glücksgefühle ein, die jeder kennt, der kreativ tätig ist und dabei ein bestimmtes Niveau erreicht hat. „Natürlich ist es manchmal auch einfach nur Arbeit“, gesteht sie lachend. Jedes Jahr besucht Beate Wuschka zehn bis zwölf Märkte, auf denen sie ausstellt und verkauft. Im Juni etwa ist sie zum ersten Mal mit einem Stand auf dem Krefelder Flachsmarkt vertreten, für den sie noch einige Brotbeutel fertigstellen muss. Die praktischen Beutel mit dem nostalgisch-ursprünglichen Design haben sich zu einem absoluten Bestseller ihres Sortiments entwickelt.
Wuschkas Handwerk könnte man poetisch durchaus auch als das Weiterspinnen einer vor vielen Jahren abgebrochenen Geschichte beschreiben. Die Stoffe, die sie in großer Zahl in Schränken und Regalen lagert, kommen aus Österreich, Süddeutschland und Siebenbürgen, dem heutigen Rumänien, und werden von ihr viele Jahrzehnte nach ihrer Erzeugung und weit von ihrem Ursprungsort entfernt endlich einer neuen Bestimmung zugeführt. Sie erhalten gewissermaßen das Happy End, das ihrer Geschichte bislang noch fehlte. Aber Beate Wuschka setzt auch ihre eigene Erzählung fort, denn sie belebt mit ihrer Arbeit eine Tradition, die ihre Mutter damals begründete, als sie ihrer Tochter ihre Wunschkleider nähte. „Es ist schade, dass sie mittlerweile zu alt ist, um aktiv an meiner Arbeit teilzuhaben“, gesteht sie über das zuverlässige Rattern der Pfaff hinweg, „aber ich fühle mich ihr darin tatsächlich verbunden.“ Was Beate Wuschka so einfach als „Kunsthandwerk“ bezeichnet, bekommt vor diesem Hintergrund plötzlich eine fast mystische Note: Spürt sie manchmal, wie der Geist der Historie durch das Gewebe weht und von dort durch ihr Atelier spukt? Beate Wuschka lacht. Sie ist glücklich, eine Tätigkeit gefunden zu haben, die sie ausfüllt – und sie liebt das Material, mit dem sie arbeitet. Wer ihre Stücke einmal in den Händen gehalten hat, ihr zugehört und zugeschaut hat, der spürt das. Mehr Geist und Zauber braucht es gar nicht.
Beate Wuschka
Auf der Papenburg 20, 44801 Bochum
Telefon: 0234-87935341
Mail: betucht@wuschka.de
www.wuschka.de