Jede Woche kommen Borderliner und Angehörige im Alexianer-Krankenhaus zusammen, um sich in der offenen Gruppe der psychologischen Beraterin Sabine Thiel auszutauschen und zu helfen. So sehr sich manche Grundmuster der Betroffenen ähneln, so unterschiedlich sind ihre Geschichten und ihre Art, mit Borderline zu leben.

Manuel Hauser will sich wieder eine Gürteltasche packen – mit Chilischoten, Murmeln, Duftöl und einer Postkarte. Für Notfälle. „Am besten sind vier, fünf Sachen, für jeden Sinn etwas“, erklärt er und stößt ein nervöses Räuspern zwischen die Sätze, „Musik wirkt bei mir gut, die habe ich immer dabei.“ Chilischoten oder ätherische Öle sind für die Zunge, die Murmeln kommen in die Schuhe. „Manche nehmen auch ein Gummiband und flitschen sich damit über die Haut“, sagt Hauser. Er ist ein Mann von Anfang 30, bulliger Nacken, blondes Stoppelhaar, Lacoste-Shirt, Unterarme liniert von Narben. Mit einer Handvoll Leuten sitzt er an einem Tisch im Alexianer-Krankenhaus, wo er zur Borderline-Gruppe der psychologischen Beraterin Sabine Thiel dazu gestoßen ist, einem wöchentlichen Treff für Betroffene und Angehörige. „Zwischen zwei und fünf Prozent der Deutschen leiden nach Schätzungen an einem Borderline-Syndrom“, sagt Thiel. In einer Stadt wie Krefeld wären das mehrere Tausend.

Borderline - Die Schere im Kopf

Bernd Richrath, Erster Vorsitzender Grenzgänger e.V.

Anders als Burnout und Depressionen ist das Thema Borderline aber noch nicht in der Öffentlichkeit angelangt. Die Erkrankung liegt im Grenzbereich zwischen Neurose und Psychose, verläuft aber bei Betroffenen oft sehr unterschiedlich. Eine Borderline-Persönlichkeit ist durch Unsicherheit und Instabilität geprägt, sowohl in ihrem Selbstbild, als auch in ihren Lebenszielen und Beziehungen. Leicht nimmt sie andere Menschen verzerrt wahr, idealisiert sie oder wertet sie plötzlich ab. Genauso extrem fallen oft ihre Reaktionen im Alltag aus: Borderliner regen sich meist schnell auf und sind impulsiv. Wie sich diese Grundmuster im Alltag zeigen, ist unterschiedlich. So kann sich die verzerrte Wahrnehmung bis zum Verfolgungswahn steigern, muss es aber nicht. Auch Suizidversuche oder andere körperliche Selbstverletzungen können, müssen jedoch nicht vorkommen.

„So eine Notfall-Tasche wäre gar nichts für mich“, sagt Meike Lang, die Hauser gegenüber sitzt. „Wenn die Wut entsteht, schreibe ich eine gemeine SMS ohne sie abzuschicken oder setze mich ins Auto, gebe richtig Gas und hupe.“ Anders als Hauser, der eines Tages auf dem Fensterbrett des Büros stand und mit dem Job aufhören musste, arbeitet sie ganz regulär im IT-Bereich. Weder ihr Arbeitgeber noch ihre Mutter wissen jedoch von ihrer Krankheit. 28 Jahre ist sie, trägt die dunklen Haare bis über die Schultern, Lidstrich, Kapuzenpulli und Schuhe mit Keilabsatz. Sich die Arme ritzen ist auch nichts für sie, zumindest nicht mehr. „Allein schon, weil ich heute doch nicht mehr mit den Narben rumlaufen will“, sagt sie. Stattdessen hat sie manchmal noch den Kopf gegen die Wand geschlagen, aber auch das seit einem Jahr nicht mehr. Selbstverletzungen und Suizidversuche sind wohl das offensichtlichste und bekannteste Bordeline-Symptom. „Wenn ein Mensch mit Borderline sich unter Anspannung schneidet“, erklärt Thiel, „gibt es tatsächlich eine objektiv messbare Entspannung.“ Selbstverletzungen sind aber eben nur eins unter vielen Symptomen und längst nicht immer so offensichtlich wie bei Hauser. „Ich habe kaum Selbstbewusstsein“, erzählt Meike Lang. „Aus Eifersucht mache ich in Beziehungen oft Unterstellungen, die nicht der Realität entsprechen.“ Auch das ist wie Arbeits- oder Magersucht eine Form der Selbstverletzung. Betroffene gehen davon aus, dass sie nichts wert seien und ohnehin von ihrem Partner verlassen würden. So entstehen in ihrem Kopf ständig neue Verdachte und Vorhaltungen. Teilweise wissen sie sogar, dass die nicht gerechtfertigt sind. „Aber ich kann mein Hirn nicht anhalten“, sagt Lang.

Das Rattern im Kopf kennen viele: mit Anspannung können sie oft schlecht umgehen, in Sekunden kann diese sich in Wutausbrüchen gegen sich oder andere entladen. Borderliner orientieren sich oft stärker als Gesunde an ihren akuten Stimmungen, so dass ihr Gesamtbild vom Gegenüber schwankt und sich für sie oft intensive, aber labile Beziehungen mit ihren Partnern ergeben. Selbst wenn Borderliner verzweifelt versuchen, Alleinsein und ein chronisches Gefühl der Leere zu vermeiden. „Ich war 24 Stunden und 7 Tage pro Woche für meine Ex da“, sagt Sven Schmitz, der mit am Tisch sitzt, „aber irgendwann konnte ich einfach nicht mehr.“ Das mit der Notfall-Tasche kennt er von seiner Ex. Die ist Borderlinerin, genau wie seine Schwester. Jetzt geht er mit seinen Eltern und seiner Schwester, wenn sie es schafft, regelmäßig zu der Borderline-Gruppe.

Borderline - Die Schere im Kopf

Sabine Thiel, psychologische Beraterin

„Zwischen zwei und fünf Prozent der Deutschen leiden nach Schätzungen an einem Borderline-Syndrom.“ In einer Stadt wie Krefeld wären das mehrere Tausend.“

Bei seiner Schwester dauerte es lange, bis sie Hilfe bekam. Sie hatte sich als Teenager heißes Wachs über den Arm gegossen, unvermittelt, als sie abends mit Vater und Bruder am Tisch saß. „Wir waren geschockt“, sagt ihr Vater, „und sie hat keine Erklärung abgegeben.“ Kurz darauf setzte sie sich so an den Computer, dass ihre Mutter die Schnitte an ihren Handgelenken sehen konnte. „Da fing die Odyssee mit den Ärzten an“, erzählt die Mutter. Die Gründe für die Krankheit ihrer Tochter vermutet sie in einer versuchten Vergewaltigung und Mobbing in der Schule. „Bei Kindern und Jugendlichen nimmt die Zahl der Betroffenen zu“, sagt Thiel. „Heute wird das Syndrom allerdings auch schneller erkannt als noch vor einigen Jahren.“ Oft käme es nach Mobbing, Gewalterfahrungen oder traumatischen Erlebnissen in der frühen Kindheit zu der Störung, manche Wissenschaftler gingen auch von einer genetischen Veranlagung aus.

„Oft ist dann die Berufsschule für Betroffene ein Problem“, sagt Thiel, „weil so viele früher in der Schule gemobbt wurden.“ Im Rahmen ihres Ausbildungsprojekts ISBAP begleitet sie gerade eine Borderlinerin bei der Ausbildung zur Krankenschwester. So etwas zu hören, macht Manuel Hauser Mut. „Bei der Grenzgänger-Selbsthilfegruppe hat es schon einmal jemand in den Wunsch-Beruf geschafft“, sagt er. „Ich will mein Abitur nachholen und Sozialarbeiter zu werden.“ Das war zumindest der Plan vor dem letzten Rückfall, der ihn hierher ins Krankenhaus brachte. „Erstmal muss ich jetzt natürlich auf mich schauen“, erklärt er. „Ich hoffe, Anfang bis Mitte nächsten Jahres die nötige Stabilität für den Unterricht zu haben.“

Bis dahin sind es noch viele Schritte. Kleine Schritte, wie sie auf dem Zettel in seiner Hand stehen. Eine Kurve hat er dort eingezeichnet, von Punkt zu Punkt für jede Tageszeit. Daneben stehen Wörter wie „Aufstehen“ und „Schlafengehen“. So trägt er auf einer Skala von eins bis zehn täglich den Druck ein, den er verspürt. Auf die Art soll er sich klar darüber werden, welche Auslöser es dafür gibt. Heute war es einfach, den Auslöser zu finden: Ein Anruf vom Betreuungsgericht. „Eigentlich eine Lappalie“, sagt Hauser und räuspert sich wieder. Er wusste auch, dass die Sekretärin nichts dafür konnte. „Ich habe sie trotzdem am Telefon beschimpft“, sagt er, „und hatte die Schere schon in der Hand.“ Aber die hat er wieder weggelegt, ohne etwas damit zu machen.
(Namen der Betroffenen von der Redaktion geändert)

Psychologische Beraterin Sabine Thiel, www.beraterin-thiel.de
Grenzgänger e.V. Selbsthilfegruppen für Borderliner und
Borderline-Angehörige, www.grenzgaenger-shg.de