Crash Kurs NRW
Wie sich Eltern fühlen müssen, wenn ihnen vom einen auf den anderen Moment das Kind entrissen wird, kann sich niemand vorstellen, der es nicht selbst erlebt hat. Dorothea Pasch, eine kleine schlanke Frau mit grau meliertem dunklem Haar und Brille betritt die Bühne des Veranstaltungsraums im Weiterbildungskolleg Linn, in dem rund 200 Schüler zwischen 16 und 18 Jahren anwesend sind. Ihr Sohn Martin ist 2008 als Beifahrer eines Fahranfängers ums Leben gekommen.
Dorothea Pasch schildert ruhig und in sich gekehrt ihre Erinnerungen an den Tag, an dem ihr damals 15-jähriger Sohn nach seinem Praktikumstag nicht mehr nach Hause kam. „Man rief mich an und sagte mir, Martin habe einen Unfall gehabt und sei verletzt. Ich bin sofort mit meinem Mann dorthin gefahren, um zu sehen, was los ist. Als wir die Unfallstelle erreichten, standen dort schon mehrere Einsatzwagen mit Blaulicht“, erzählt sie. In den darauffolgenden Minuten musste die vierfache Mutter mit ansehen, wie Notärzte und Sanitäter versuchten, ihren Sohn zu reanimieren und irgendwann aufgaben. Sie erinnert sich: „Ich habe mich aufgeregt und geschrien, sie sollten weitermachen. Aber ich musste begreifen, dass man nichts mehr machen konnte.“ Den anwesenden Schülern wird merklich unbehaglich. Als Dorothea Pasch mit ihrer Geschichte endet, weinen einige. Alle sehen stumm dabei zu, wie sie die Bühne verlässt.
Martins Geschichte steht allegorisch für viele Unfälle, bei denen Fahranfänger sich selbst oder anderen Verkehrsteilnehmern schwere Schäden zufügen. Seine Mutter Dorothea Pasch gehört zu den freiwilligen Mitgliedern des Projekts „Crash Kurs NRW“, einer Veranstaltungsreihe zur Verkehrsunfallprävention bei Jugendlichen. Im Rahmen der Vorträge sprechen Menschen, die selbst schwere Verkehrsunfälle und ihre Folgen miterlebt haben – privat oder beruflich. Ins Leben gerufen wurde „Crash Kurs“ vom nordrhein-westfälischen Innenministerium im Jahr 2010 und wird seither von den Polizeibehörden in allen Städten angeboten. Von den anwesenden Schülern befinden sich bereits einige in der Führerscheinausbildung. Bald werden sie zu der Zielgruppe gehören, um die es bei der heutigen Veranstaltung geht.

Veranstaltungsleiter und Polizeihauptkommissar der Abteilung Unfallprävention und Opferschutz, Rainer Behrens
Bei ihrer Ankunft hatten die Schüler zunächst Lebensziele, Wünsche und Träume auf Post-it-Zettel geschrieben und sie anschließend auf eine Tafel geklebt. Es sind viele Wünsche, große Ziele: „Familie gründen“, „Studieren“, „Arzt werden“. Veranstaltungsleiter und Polizeihauptkommissar der Abteilung Unfallprävention und Opferschutz, Rainer Behrens, hatte uns auch direkt erklärt, was es mit diesen Zetteln auf sich hat: „Die Zettel kleben wir nachher auf den großen blauen Ballon, den Sie dort vorne am Rand der Bühne sehen. Dieser Ballon wird heute noch zum Sinnbild für uns.“ Anfangs hatten viele Schüler noch herumgewitzelt, die Veranstaltung nicht ernst genommen. Sie sind in einem Alter, in dem man sich unbesiegbar fühlt und unbekümmert durchs Leben geht.
“Verkehrsunfälle haben immer die gleichen Auslöser: Drogen. Alkohol. Das Handy. Der Killer Nummer eins ist die Geschwindigkeit.”
Wie schnell das vorbei sein kann, haben sie an diesem Vormittag von mehreren Menschen erfahren, die es wissen müssen: Marco Grogs von der Berufsfeuerwehr, Polizistin Sandra Tilmes, Notarzt Dr. Stefan Arens und Unfallseelsorger Hubert Hämig. Sie alle haben verschiedene Begebenheiten aus verschiedenen Blickwinkeln erläutert. Die einzige Gemeinsamkeit aller Geschichten: ein junger Fahrer. Ein junger Fahrer, der den Tod eines anderen Fahrers verursachte. Eine Fahrerin, die aus einem selbstverschuldeten Unfall schwere lebenslange Schäden davontrug. Ein 18-Jähriger, der in Wut und Trauer über das Ende seiner Beziehung die Straßenlage unterschätzte und deshalb sein Leben verlor. Und zuletzt die Mutter eines Jungen, der die Fahrt mit einem befreundeten Fahranfänger nicht überlebt hatte. „Verkehrsunfälle“, hatte Rainer Behrens die Veranstaltung eingeleitet, „haben immer die gleichen Auslöser: Drogen. Alkohol. Das Handy. Der Killer Nummer eins ist die Geschwindigkeit.“ Die Essenz der Veranstaltung ist mittlerweile allen Anwesenden bewusst: Wir haben die Wahl, ob wir uns ans Steuer setzen und wie wir fahren. Wir alle tragen Verantwortung im Straßenverkehr. Nicht nur für uns selbst, sondern auch für andere Fahrer, für unsere Freunde und unsere Familie.
Nachdem Dorothea Pasch die Bühne verlassen hat, tritt Behrens wieder nach vorne. Er geht zu dem großen blauen Ballon, an dem mittlerweile die Wünsche der Schüler kleben. Mit einem lauten Knall bringt er den Ballon zum Platzen, und all die Träume, Wünsche und Hoffnungen fallen zu Boden. Was diese Metapher zu bedeuten hat, verstehen alle: Manchmal braucht es nur einen Sekundenbruchteil, einen lauten Knall, der alle Zukunftsvisionen zunichtemachen kann. Das scheinen alle hier verstanden zu haben. Selbst Schüler, die sich anfangs noch unbeeindruckt gezeigt haben, verhalten sich mittlerweile deutlich zurückhaltender. Niemand hier möchte ein Schicksal erleiden wie Martin. Niemand möchte einen Schmerz erleben müssen, wie ihn Dorothea Pasch, ihr Mann und Martins drei Geschwister erfahren haben. Am Ende steht der Slogan des „Crash Kurs“, der die Essenz der Veranstaltung zusammenfasst: „Realität erleben. Echt hart.“
Weitere Informationen zum Projekt „Crash Kurs“ finden Sie unter www.polizei.nrw/artikel/crash-kurs-nrw.