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Niger 2015. Teile des zentralafrikanischen Landes sind von einer Meningitis-Epidemie gebeutelt. Hunderte Betroffene schleppen sich mit letzter Kraft in das von „Ärzte ohne Grenzen e.V.“ errichtete Lazarett. Viele von ihnen halten ihre sterbenden Kinder in den Armen. Schwerstkranke scheiden bei 47 Grad Celsius im Schatten in den Gängen unkontrolliert ihre Exkremente aus und übergeben sich. Der Geruch, die Hitze und das Leid treffen Darina Finsterer mit voller Wucht. Die Lichter gehen aus. Plötzlich ist die heute 44-Jährige auf die Hilfe ihrer Kollegen angewiesen. Ein muslimischer Mitarbeiter rollt seinen Gebetsteppich aus, hält die Füße der Krefelderin nach oben. Das Leben kehrt zurück und mit ihm eine zentrale Erkenntnis. „Selbst, wenn man glaubt, man wäre auf alles vorbereitet, ist die Realität in einem Krisengebiet noch ein Stück weit krasser“, sagt Finsterer mit in Falten gelegter Stirn und schüttelt den Kopf.

„Als ich erfuhr, dass dort auch Freiwillige für Personal, Verwaltung und Finanzen gesucht werden, war meine Entscheidung getroffen. Ich bewarb mich und wurde prompt genommen.“

Zeltlager, WasserFür Finsterer war der Einsatz im Niger der erste im Rahmen ihres Engagements für „Médecins sans Frontières“ (MSF), wie die Organisation „Ärzte ohne Grenzen e.V.“ im Original heißt. Er brachte sie zwar an ihre Grenzen, zeigte ihr aber auch, dass ihre Entscheidung richtig war. „Ich habe sehr früh erkannt, dass ich unglaubliches Glück hatte, in der westlichen Wohlstandsgesellschaft geboren worden zu sein. Ich wollte anderen etwas geben, den Schwachen helfen. Nirgendwo könnte ich das besser tun als bei MSF“, erklärt die gebürtige Pfälzerin. Der Wunsch nach einer gerechteren Welt ist seit jeher Finsterers Triebfeder. Schon als Heranwachsende kauft sie belegte Brötchen für Obdachlose, engagiert sich für „Das tägliche Brot“. Später studiert sie Jura, mit dem Ziel, als Anwältin für Gerechtigkeit zu sorgen. Doch rasch stellt sie fest, dass Recht und Gerechtigkeit nicht das Gleiche sind. Um die Lücke in ihrem Leben zu füllen, engagiert sie sich anschließend für die Flüchtlingshilfe und kümmert sich über viele Jahre bei der Bürgerstiftung Krefeld auf Vorstandsebene darum, Kindern mit schweren Schicksalen Herzenswünsche zu erfüllen. 2014 wird sie schließlich auf „Ärzte ohne Grenzen e.V.“ aufmerksam. „Wie viele dachte ich anfänglich, bei MSF würden nur Ärzte arbeiten“, sagt Finsterer und schmunzelt. „Als ich erfuhr, dass dort auch Mitarbeiter für Personal, Verwaltung und Finanzen gesucht werden, war meine Entscheidung getroffen. Ich bewarb mich und wurde prompt genommen.“

Darina Finsterer

„In Idomeni hat die EU versagt“, sagt Finsterer mit Blick auf die untragbaren Zustände nach der Grenzschließung bei einsetzendem Dauerregen

„Ärzte ohne Grenzen e.V.“ ist eine private Organisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Opfern von Naturkatastrophen oder bewaffneten Konflikten ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft und religiösen oder politischen Orientierung zu helfen. Tatsächlich sind ein großer Teil der im Projekt Beschäftigten Ärzte oder Pflegekräfte. Doch um dem medizinischen Personal ein möglichst reibungsloses Arbeiten zu ermöglichen, bedarf es Menschen, die sich beispielsweise um die Administration, Unterkunft und Verpflegung sowie die Logistik kümmern. Nicht selten müssen die Helfer in Krisengebieten ein gesamtes System der Zivilisation installieren. Dazu zählt auch, die Frischwasserzufuhr zu gewährleisten und Sanitäranlagen zu schaffen. Überdies gilt es, einheimische Mitarbeiter einzustellen und Verwaltungssysteme aufzubauen. Vor dem Hintergrund dieses facettenreichen Aufgabenspektrums hat Finsterer selbst in den zurückliegenden Jahren auf ganz unterschiedliche Weise Hilfe geleistet: Mal war sie vornehmlich Personalplanerin, ein anderes Mal kümmerte sie sich um die Etablierung der Finanzströme. Aber auch die Rückabwicklung eines Projektes stand schon auf ihrem Aufgabenzettel. „Das ist natürlich mit einer großen Portion Wehmut verbunden“, erinnert sie sich.

Menschen, ZeltlagerInsgesamt sieben Einsätze hat die in Uerdingen lebende Juristin inzwischen absolviert. Vom Niger ging es für Finsterer nach Nepal, vom griechischen Idomeni in die Zentralafrikanische Republik. Nach Etappen in Libyen und Nigeria markierte der Aufenthalt im Libanon ihre bislang letzte Station. Ihre Erinnerung an die Einsätze ist eine Mixtur aus Freud und Leid. Manchmal kommen Frustration und Wut hinzu. Meistens überwiegt in ihren Erzählungen allerdings das Positive. Ein wesentliches Kennzeichen ihrer Persönlichkeit. Doch es haben sich auch Schreckensszenarien in ihre Seele gebrannt. „Wenn man, wie ich in Nigeria, sieht, dass Kinder sterben, weil sie aufgrund der Hungersnot verlernt haben zu schlucken, dann ist das kaum auszuhalten“, gesteht die sonst so toughe Frau, während sie mit der Hand an einer Packung Erdnusspaste herumnestelt, die im Rahmen der Mission als Aufbau-Nahrung für Unterernährte diente.

Wut und Frustration verbindet sie vor allem mit Idomeni. „Ich konnte mich mit der medialen Berichterstattung und dem Begriff ‚Elendslager‘ überhaupt nicht anfreunden“, sagt sie und ballt ihre Hand zu einer Faust. „Am Anfang, als sich nur rund 2.500 Flüchtlinge im Lager aufhielten, war die Situation – den Umständen entsprechend – gut! Erst als die Grenzen geschlossen wurden, das Lager auf fast 15.000 Flüchtlinge wuchs und der Dauerregen einsetzte, wurden die Zustände kritisch. Hier hat die EU völlig versagt. Einem Land wie dem Libanon mit 5,8 Millionen Einwohnern ist es gelungen, 1,5 Millionen Syrer aufzunehmen. Und der gesamten Europäischen Union gelingt es nicht, dieselbe Anzahl von Menschen unter sich zu verteilen? Eine Schande!“

Finsterer, Kinder

Hunger, Leid und Perspektivlosigkeit: Die Zustände in Nigeria waren für Finsterer kaum zu ertragen

Doch damit nicht genug: Zurück in Deutschland wird sie über ihre öffentlich zugängliche Email der Bürgerstiftung Krefeld verunglimpft. „Was ich mir da für einen Unfug durchlesen musste, schlug dem Fass nun wirklich den Boden aus“, sagt sie, presst die Lippen zusammen und schüttelt den Kopf. Die stumpfen Parolen und fein gepflegten Klischees des rechten Randes über Flüchtlinge treiben sie förmlich zur Weißglut: „Es heißt immer, sie würden mit Absicht ihre Pässe wegwerfen, um als Syrer nach Deutschland zu reisen, aber das trifft auf den Großteil nicht zu. In Libyen haben wir erlebt, wie den Flüchtlingen systematisch die Pässe entwendet werden, um sie in Gefängnisse zu stecken und zu Zwangsarbeit zu verdonnern, damit sie ihre ‚Reisekosten‘ abarbeiten können. Frauen, die aus Somalia oder Eritrea flüchten, lassen sich eine Verhütungsspritze geben, weil sie wissen, dass sie in Libyen vergewaltigt werden. Und diesen Leuten unterstellen manche, sie würden nur wegen Autos und iPhones nach Deutschland kommen. Das macht mich rasend.“

Darina FinstererDie Erfahrungen der zurückliegenden Jahre haben Finsterer verändert, nicht in ihrem Wesen, das immer noch Tatendrang und Optimismus versprüht, sondern mit ihrem Blick auf die Welt; vor allem auf ihre Heimat in Deutschland. „Ich musste lernen, wieder mit den Dingen umzugehen, die hier als ‚Drama‘ verstanden werden. Erst wer sieht, was ich gesehen habe, kann verstehen, dass ich den Kopf schüttle, wenn jemand bei 38,5 Grad Fieber sein Kind in die Notaufnahme fährt. Auch meine Beziehung zu Wasser hat sich geändert. Ich habe eine riesige Badewanne in meinem Haus, aber ich würde nie auf die Idee kommen, sie zu benutzen, weil ich weiß, welche Bedeutung Wasser für etliche Millionen Menschen hat. Unser Umgang mit dieser Ressource ist für mich wirklich schwer zu ertragen“, sagt sie.

Aus all‘ ihren Erfahrungen und der Vision von einer besseren Welt hat sich bei Darina Finsterer der Wunsch geformt, bei „Ärzte ohne Grenzen“ auf noch höherer Ebene einen Beitrag zu leisten. Mit der Wahl in den bundesdeutschen Vorstand hat sich dieser Wunsch Anfang Mai erfüllt. Mittelfristig wird sie deswegen keine größeren Auslandseinsätze mehr absolvieren. Doch sie wird nun alles in ihrer Macht Stehende tun, um anderen Helfern Hilfe zur Hilfe zu leisten. Denn davon ist sie getrieben. Ob in Krefeld oder im Niger.