„Darm an Hirn!“

Prof. Dr. med. Thomas Frieling über das Hirn im Bauch, heroische Selbstversuche und eine Forschung, die lange als „unsexy“ galt

 

Welche Rolle spielt das Bakterien-Biotop im Dickdarm? Beeinflusst er unsere Nerven? Kann er uns mutig oder ängstlich machen, vielleicht auch depressiv? Welche Risiken birgt der Transfer von Stuhl? Können wir Nahrung zu Medizin machen? Mit genau diesen Fragen beschäftigen sich sogenannte Neurogastroenterologen. Kennen Sie nicht? Das liegt daran, dass es davon in Deutschland gerade einmal eine Handvoll gibt. Einer davon ist der Direktor des Helios Klinikums in Krefeld, Thomas Frieling. Gemeinsam mit Paul Enck, Psychologe und Psychosomatik-Experte der Universität Tübingen und Michael Schemann, Humanbiologe Nervenforscher an der TU München, hat Frieling nun ein Buch (Darm an Hirn) verfasst, das sowohl Leidgeplagten als auch Medizinern wertvolle Erkenntnisse über ein Körperteil liefert, das lange Zeit als Ekel-Organ ein Schattendasein fristete. 

Prof. Dr. med. Thomas Frieling

// Als Sie seinerzeit begannen, sich mit den Zellen in unserem Verdauungstrakt auseinanderzusetzen, galt die Beschäftigung mit dem Darm unter Medizinern – gelinde gesagt – als „unsexy“. Was hat Sie dennoch daran gereizt?

Na ja, wie das Leben manchmal so spielt. Denn: Eigentlich wollte ich Chirurg werden! Das hat sich dann im Lauf der Jahre zur Neurologie gewandelt. Dass ich letztlich Gastroenterologe wurde, hatte mit persönlichen Beziehungen zu Oberärzten zu tun, denen ich im Rahmen meines Praktischen Jahres im Krankenhaus begegnet bin. Das, worüber wir heute sprechen, ist daraus entstanden, dass ich mein Interesse aus der Neurologie in die Gastroenterologie übertragen habe.

// Damals war der Darm so wenig erforscht wie die Weltmeere.

Das stimmt! Wie Sie schon sagten, der Darm war unsexy, Fachbereiche wie die Kardiologie waren für viele Kollegen eben deutlich reizvoller. Deshalb ist die Erkenntnis, dass der Darm über ein eigenes Nervensystem verfügt, erst rund 30 Jahre alt. Lange galt der Darm als langer Schlauch, der für die Verdauung verantwortlich ist. Über die Beschäftigung mit der Bewegung – auch Motilität genannt – sind Mediziner irgendwann zu der Erkenntnis gelangt, dass einige dieser Bewegungsphänomene auf das im Darm liegende Nervensystem zurückzuführen sind. Daraus hat sich der Begriff der Neurogastroenterologie entwickelt. Danach haben Forschungsgruppen weltweit ihre Erkenntnisse zum heutigen Wissen beigetragen. Ich selbst habe mich anfangs mit den sensorischen Nerven beschäftigt – und das mit einer Technik, die ich in der Neurologie gelernt hatte. Vereinfacht gesagt, habe ich zum ersten Mal mittels elektronischen Stimulationen nachweisen können, dass Stimulationen in Speiseröhre und Darm zu Reaktionen der Hirnrinde führen. Im Verlauf wurde dann deutlich, dass komplexe Magen-Darm-Funktionen unabhängig vom Kopfhirn gesteuert werden.

// Stimmt es, dass Sie zur Bestätigung der Ergebnisse aus dem Labor einige Versuche an sich selbst vorgenommen haben?

(Lacht) Ja, absolut! Um meine Annahme zu prüfen, dass sich sensorische Nerven-Fasern im Magen-Darm-Trakt kontrolliert stimulieren lassen, habe ich Sonden geschluckt und mich anschließend sowohl mechanisch als auch elektrisch stimuliert, während wir gleichzeitig mit Elektroden die Hirnströme ableiteten. Damit konnten wir beweisen, dass es eine Methode gibt, um sensorische Nervenbahnen zu untersuchen. Die anschließende Publikation dieser Ergebnisse war mein Schlüssel für das Stipendium und die spätere Forschung in den USA.

// Nach Jahrzehnten der Forschung benutzen Sie heute ganz selbstverständlich den Begriff des „Bauchhirns“. Warum ist der Begriff aus Sicht der Medizin legitim?

All‘ das, was sie im Gehirn finden, wie Nervenzellen und Botenstoffe, finden Sie auch im Bauchhirn. Es ist mit Blick auf die Strukturen und Funktionen ein Abbild des Kopfhirns. Es kann lernen und verlernen – das ist sicher. Denken kann es natürlich nicht. Aber: Es ist vorstellbar, dass das Bauchhirn durch die Verbindung zum Kopfhirn Gefühle und auch vielleicht Entscheidungen mitbeeinflusst. Inzwischen gibt es sogar sehr interessante Hinweise, dass klassische pathologische Veränderungen im Gehirn wie Parkinson, Demenz oder Autismus ihren Ursprung im Darm finden und über die Nervenbahnen in den Kopf gelangen. Durch Tests können wir nachweisen, dass ohne jede Veränderung im Gehirn bereits Anzeichen für Parkinson im Darm festzustellen sind. Verstopfung gilt da als ein wichtiges frühes Symptom, da viele Parkinson-Erkrankungen mit Verstopfungen beginnen. Zudem gibt es Hinweise, dass Autismus durch Bakterien im Darm ausgelöst werden kann. Durch diese Forschungserkenntnisse wird der Darm zunehmend interessant für andere Fachgebiete.

// Gerade im Hinblick auf Gefühlsveränderungen stehen Sie vor der schier nicht lösbaren Beantwortung der Frage, was zuerst da war: Das Huhn oder das Ei.

Das ist richtig. Wir können es nicht abschließend beantworten. Wir können nachweisen, dass Menschen mit einer Depression Veränderungen im Darm vorweisen, aber wir können daraus nicht ableiten, ob es die Ursache oder die Folge ist. Bemerkenswert ist aber, dass man bei Tierversuchen mit Mäusen nachweisen konnte, dass von einem kranken aufs gesunde Tier übertragener Stuhl den Ausbruch von Verhaltensänderungen zur Folge hatte.

Prof. Dr. med. Thomas Frieling

// Sie widmen sich in Ihrem Buch ausführlich dem „Reizdarmsyndrom“ (RDS), unter dem Schätzungen zufolge rund acht bis 12 Prozent der Bevölkerung leidet. Was kennzeichnet dieses Krankheitsbild?

Tatsächlich ist es uns gelungen, Reizdarmpatienten ein Stück weit aus der Schmuddelecke zu holen, denn vor gar nicht allzu langer Zeit wurden diese Menschen als Spinner abgetan. Das Reizdarmsyndrom ist laut Definition die Verbindung von Bauchschmerzen oder -beschwerden mit Veränderungen des Stuhlverhaltens. Trotz gründlicher Untersuchung finden Ärzte keine körperliche Ursache für die Beschwerden. Das Reizdarmsyndrom betrifft häufiger Frauen als Männer. Charakteristisch für das RDS sind die immer gleichen Symptome, so zum Beispiel Bauchkrämpfe, Völlegefühl, Verstopfung, Durchfall und Blähungen. Die Bauchschmerzen sind unterschiedlich stark ausgeprägt, manchmal kommt Übelkeit noch hinzu. Je nachdem, welche Beschwerden überwiegen, unterscheidet man zwischen einem durchfalldominanten und einem verstopfungsdominanten Reizdarmtyp.

// Welche Ursachen hat ein Reizdarmsyndrom?

Die Ursache des Reizdarmsyndroms ist immer noch nicht geklärt. Offenbar greifen beim RDS verschiedene Faktoren ineinander, die zu den Beschwerden führen. Unter anderem wurde nachgewiesen, dass mehrere Gene, die Funktionen im Magen-Darm-Trakt regulieren, mit einem Reizdarmsyndrom in Verbindung stehen. Außerdem ist bekannt, dass infektiöse Magen-Darm-Entzündungen das Risiko, ein durchfalldominantes Reizdarmsyndrom zu entwickeln, um den Faktor 6,5 erhöhen. Möglicherweise kommt es dabei zu einer lang anhaltenden Immunaktivierung. Auch Stress kann sich auf das Immunsystem ähnlich auswirken. Bei dieser Immunaktivierung in der Darmschleimhaut spielt die lokale Zunahme von Immunzellen eine Rolle. Oft befinden sich die Mastzellen in unmittelbarer Nähe von Nervenfasern, sodass der Prozess mit Schmerzen verbunden ist. Doch auch Koliken im Säuglingsalter und psychische Traumata in Kindertagen können ursächlich für ein Reizdarmsyndrom sein. Das Thema ist wirklich komplex und alle möglichen Ursachen sind kaum im Rahmen eines Interviews in Gänze zu nennen. Wichtig ist: Heute werden Menschen mit diesen Beschwerden ernst genommen und finden Hilfe, wenn sie an den richtigen Stellen danach suchen.

// Inwieweit hat die Zunahme von Verdauungsbeschwerden zivilisatorische Gründe?

Dass unser heutiger Lebensstil damit zusammenhängt, ist unbestritten. Ernährungsgewohnheiten, die Arbeitsverdichtung und die mangelnde Bewegung nehmen Einfluss und können auch ein Reizdarmsyndrom fördern. Ein einfaches Beispiel sind Reisen: Befindet man sich in einem anderen Land und isst Nahrung, die man sonst nicht kennt, verändern sich die Bakterien im Darm. Das kann eine Ursache für Verdauungsstörungen werden, die es in Zeiten örtlicher Gebundenheit nicht geben konnte. Grundsätzlich lässt sich konstatieren, dass Verdauungsbeschwerden gerade in entwickelten Ländern zunehmen, während man so etwas wie ein Reizdarmsyndrom bei Urvölkern wenig bis gar nicht kennt.

Buch

// Nun werden viele Menschen Ihr Buch lesen, die selbst von Verdauungsbeschwerden betroffen sind. Welche Erkenntnisse dürfen diejenigen erwarten?

Zunächst einmal werden die Leser Abläufe differenziert kennenlernen, die sie vorher wahrscheinlich so noch nicht kannten. Darüber hinaus werden sie hoffentlich Erkenntnisse gewinnen, die sie dazu befähigen, sich mit ihrem Beschwerdebild neu einzuschätzen. Unser Ziel beim Schreiben dieses Buches war, Menschen den Kenntnisstand unseres Forschungsgebietes so laiengerecht wie möglich aufzuarbeiten. Ich könnte mir vorstellen, dass jemand, der schon einmal Probleme mit dem Bauch hatte, sich in seiner Vermutung bestätigt fühlt, eine organische Erkrankung zu haben. Vielleicht entwickelt er sogar eine Idee, wie es ihm besser gehen könnte.

// Wie, glauben sie, ist es um das Wissen rund um das Bauchhirn bei ihren Kollegen in den Praxen bestellt?

Noch zu gering! Auch deswegen haben wir das Bauch geschrieben. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass auch viele Allgemein-Mediziner neue Erkenntnisse aus dem Buch ziehen werden, was sie wiederum dazu befähigt, Menschen mit Verdauungsproblemen besser zu therapieren.

// Haben Sie im diesem Buch ihr Lebenswerk zusammen getragen?

Na ja, ein Stück weit wird in dem Buch Bilanz gezogen. Wir als ältere Mediziner haben natürlich auch die Verantwortung, unser Wissen an die nächste Generation weiterzutragen und junge Kollegen für das Forschungsgebiet zu begeistern.

// Und tatsächlich ist der Darm inzwischen gar nicht mehr unsexy. Was erhoffen sie sich von der neuen Begeisterung für das Thema.

In erster Linie wünsche ich mir wirklich, dass möglichst viele junge Kollegen das Interesse haben, unseren Spuren zu folgen. Und dazu kann ich sie nur motivieren. Die Neurogastroenterologie ist ein spannendes Forschungsgebiet, in dem man sich zahlreiche Meriten erwerben und im Klinikbetrieb vielen Betroffenen helfen kann. Ich bin wirklich gespannt auf die Fortschritte der kommenden Jahrzehnte.

Vielen Dank für das Gespräch.

 

„Darm an Hirn“
Gebundene Ausgabe: 176 Seiten
•Verlag:Verlag Herder; Auflage: 1 (17. März 2017)
•Sprache:Deutsch
•ISBN-10:3451600153