Ich glaube, die Symptome eines deutschen Erkältungskranken unterscheiden sich erheblich von denen anderer Europäer, denn neben Kopf- und Gliederschmerzen, hohem Fieber und Bellhusten leidet er vor allem unter Schuldgefühlen, Versagensängsten und an Mordlust grenzender Wut. Nachdem ich drei Tage lang das Bett gehütet und die gut gemeinten Genesungswünsche meiner Freunde und Bekannten mit trotzigen Parolen vom baldigen Endsieg gegen Krankheit und Siechtum kommentiert habe, fühlt sich mein Pflichtbewusstsein Wick sei Dank besser. Ich will endlich wieder Struktur in meinen Tag bringen und brauche dazu eine echte Herausforderung. Deshalb wende ich mich im Rausch einer Überdosis alkoholhaltigen Erkältungssaftes einem Missstand zu, der wie kein anderer über alle Grenzen und Kulturen hinweg die Schwäche des menschlichen Charakters offenbart. Ich fühle, dass die Zeit gekommen ist, den Gegenstand in Ordnung zu bringen, dem man gleichermaßen in mongolischen Zelten, wie in Pharaonengräbern oder  im Oval Office des amerikanischen Präsidenten begegnet, der die Achillesferse jedweder Zivilisation darstellt und für den es in allen Sprachen dieser Welt einen Ausdruck gibt – die Kramschublade. Sie mag der ewig dunkle Fleck auf der Lichtgestalt des Dalai Lama sein oder der wunde Punkt des unverwundbaren Terminators, aber mit meiner versteckten Unordnung ist hier und jetzt Schluss. Ich will päpstlicher sein als der Papst und ihm inbrünstig zurufen können: „Sehet, Eure Heiligkeit! Im Gegensatz zu Ihnen weiß ich, wo meine ­Milchzahndose und die doppelten „Panini“-Bildchen hingehören. Halleluja – ich bin auf dem Weg der Erlösung, denn ich habe all die merkwürdigen Knöpfe, Türen losen Schlüssel und IKEA-Restschrauben aus dem Tabernakel meiner Ratlosigkeit entfernt – Amen!“ Frauen benutzen niedliche Döschen und schmuckvolle Schachteln zur Aufbewahrung ihrer Überflüssigkeiten, Männer brauchen dazu spezielle Baumarkt-Tupperware. Ich stelle die Kramschublade und etliche dieser Behälter auf den Tisch und fange an, den Krimskrams zu sortieren. Mit dem sicheren Gefühl, dass nach dem heutigen Tag nichts mehr so sein wird, wie es war, werfe ich zunächst einen ausgetrockneten Pritt-Stift, alte Textmarker und  ­gammelige Labellos ebenso in den Mülleimer wie ein angebrochenes Heftpflasterheftchen und ein zerfleddertes Tütchen Tempos. Doch nachdem ich elf Heftzwecken, fünf Gummiringe, sechs Büroklammern und  vier Kaugummistreifen auf Tupperdosen verteilt habe, folgt der Moment der Resignation. Wohin mit meinem  alten Uni-Büchereiausweis, dem kaputten Sturmfeuerzeug aus Bundeswehrzeiten, dem abgebrochenen Pfadfinder-Multifunktionsmesser, dem leeren „Harley-Davidson“-Bonbondöschen und all den anderen kleinen Nutzlosigkeiten, die mein Leben ein Stück weit begleiteten? Mir wird klar, dass die Rückstände persönlicher Vergangenheit und die von Atomkraftwerken eines gemeinsam haben: Sie lassen sich nicht so ohne Weiteres entsorgen. Es hilft nichts, ich besitze jetzt eine Kramtupperdose.

 

Wolfgang Jachtmann