Der Krefelder Drummer, dessen Beat Starlight Express ins Rollen bringt

Andy Pilger

 

„Nach der Live-Fernsehübertragung des Aktuellen Sportstudios aus unserer Halle in Bochum war die Show immer ausverkauft.“

Andy PilgerNein, er kann sie nicht sehen, die ungläubigen Kinderaugen, die Tränen der Rührung und die Stürme der Begeisterung, die das Starlight Express Musical seit nunmehr 29 Jahren bei seinen Zuschauern entfacht. Die Illusion von Andrew Lloyd Webbers fantastischer Geschichte des Kampfes einer kleinen Dampflok um Anerkennung und Liebe und des Sieges des vermeintlich Schwachen über die Arroganz des Stärkeren bleibt Schlagzeuger Andy Pilger und seinen neun Musikerkollegen weitestgehend verborgen. Während die fantasievoll geschminkten Darsteller in preisgekrönten Kostümen auf ihren Rollschuhen mit bis zu 60 Stundenkilometern inmitten eines Gewitters aus Feuer, Rauch und kosmisch anmutenden Laserlicht-Installationen durch das Publikum rasen, sitzt das Orchester in einem spartanisch eingerichteten Studioraum zwei Stockwerke tiefer. In allen anderen Konzert- und Theatersälen suchen Sänger, Tänzer und Musiker den unmittelbaren Kontakt zueinander, um Einsätze und Tempi aufeinander abzustimmen.

Musik, Musikinstrumente, Raum

Im Bochumer Starlight Theater hat man aufgrund einer in der Welt einmaligen Dramaturgie darauf verzichtet. Damit die Schauspieler ihre Rennen austragen können, wurde neben der Bühne eine in mehreren Ebenen über und mitten durch die Zuschauerränge verlaufende Rollschuhbahn installiert, was den ständigen Blickkontakt zwischen Schauspielern und Musikern unmöglich gemacht hätte. Dass es trotz der räumlichen Trennung von Sound und Darstellung nicht zu Problemen kommt, bedarf des Einsatzes komplexer Kommunikationstechnik und vor allem absoluter Professionalität und sekundengenauen Timings aller Akteure. Eine Herausforderung, der sich der Krefelder Schlagzeuger Andy Pilger seit der Geburtsstunde des Starlight Express im Jahre 1988 stellt.

Während uns Pressereferentin Julia Benkel-Teubner noch die handbemalten Kostüme, die fantasievoll gestalteten Rennhelme und die speziell angefertigten Hochgeschwindigkeitsrollschuhe demonstriert, steht er auf einmal hinter uns. Andy Pilger empfängt uns mit einem breiten, gewinnenden Lächeln. Seine gesamte Erscheinung mit den langen Locken, dem Dreitagebart, den lässigen Jeans samt Schlabber T-Shirt und Lederjacke erinnert mehr an einen kompromisslosen Metal Drummer als an einen Mann, der auch die weichen, gefühlvollen Beats beherrscht und so im Laufe der Jahre in über 5.000 Vorstellungen ein gutes Drittel der 16 Millionen Zuschauer des besucherstärksten Theaters der Welt verzauberte (Guiness Book of Records, 2010). Andy übernimmt die weitere Führung, und als Antwort auf meine Frage danach, ob das Orchester nach allem, was ich gehört habe, unmittelbar unter der Bühne sitzt, führt er uns zunächst in eine von Kabelsträngen und Versorgungsschächten durchzogene hohe Halle. Nein, hier unterhalb der Bühne mit der darüber installierten, in alle Richtungen schwenkbaren, neun Tonnen schweren Showbrücke sei es einfach zu laut. Die Nebengeräusche würden den Sound beeinträchtigen, weshalb man den Musikern einen studioartigen Raum an anderer Stelle eingerichtet hätte.

Julia Benkel-Teubner

Pressereferentin Julia Benkel-Teubner

Andy ist sachlich, aber man merkt ihm seinen Stolz, nach all den Jahren immer noch fester Bestandteil des Starlight Projekts zu sein, bei seinen Schilderungen an. Auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz grüßen uns einige – ja was sind sie denn nun – Schauspieler, Sänger, Tänzer, Akrobaten oder einfach Künstler mit einzigartigen Fähigkeiten? Ich muss an das denken, was uns soeben die Pressereferentin über sie erzählt hat. Dass sie nach einem nur dreimonatigen Skatertraining die schwierigsten Rollschuhtricks beherrschen, dass sie sich selber nach einem bestimmten Ritual schminken lernen, weil sogar die Gesichtsbemalung urheberrechtlich geschützt ist, dass sie sich stundenlang in einem bis zu 15 Kilogramm schweren Kostüm bewegen müssen und dass sie je nach Bedarf bis zu acht verschiedene Rollen des Musicals übernehmen, weil hier nichts dem Zufall überlassen bleibt. Und der Zufall – oder besser noch Notfall – tritt ein. Darüber weiß auch Andy Pilger zu berichten.

Kostüm, Starlight Express

Zusammenstöße und Stürze kämen vor, und es ginge dabei nicht immer glimpflich ab. Es gäbe immer wieder mal eine schwere Prellung oder sogar einen Knochenbruch, aber „The Show must go on“, und so hielten sich Backstage auch immer zehn Ersatzdarsteller für den „Worst Case“ bereit. Mittlerweile sitzen wir im Bereich des Orchesters neben Andy’s Arbeitsplatz, der schallisolierten Kabine für den Schlagzeuger. Hier spricht er über seinen Werdegang, über Kontakte und die Erfahrungen seiner professionellen Musikerkarriere. Meiner Frage, wie er es geschafft hat, von Anfang an dabei zu sein, entgegnet er bescheiden: „Ich habe Glück gehabt. Ich kannte den ersten Musical Director.“ Dass er sich trotzdem in einem Casting gegen eine ganze Reihe anderer Bewerber durchsetzen musste, darüber berichtet er eher beiläufig. Der sympathische Mittfünfziger macht halt nicht viel Aufheben um seine Fähigkeiten. Dann blickt er zurück auf die Geschichte der Musicalszene in Deutschland, die er hautnah miterlebte.

„Ich bin Krefelder und fühle mich auch noch als Krefelder, obwohl ich aufgrund des Berufes immer unheimlich viel unterwegs gewesen bin.“

„Alles fing an mit ,Cats‘ 1986, gefolgt von ,Starlight Express‘ 1988. Danach ,Phantom der Oper‘ 1990 als zweites Hamburger Musical und 1994 dann ,Miss Saigon‘ in Stuttgart. Und der ,Grandfather‘ von allen war Fritz Kurz, der Gründer des Stella-Konzerns. Der hat quasi das Musical nach Deutschland gebracht. Es gab bis dahin keine festen Hallen, wo Musical gespielt wurde. Amerikanische Tourneen ja, aber eine deutsche Produktion nicht.“ Dann spricht Andy darüber, dass sich als Musicalspielstätte über die Jahre hinweg nur Hamburg bewährt hätte. Es sei eine absolute Ausnahme, dass so eine kleine Stadt wie Bochum so lange so ein Ding halten könne. Ich nutze die Gelegenheit und spreche ihn auf seine Beziehung zu seiner Heimatstadt an. „Ich bin Krefelder und fühle mich auch noch als Krefelder, obwohl ich aufgrund des Berufes immer unheimlich viel unterwegs gewesen bin.“ Dann erzählt er über sein im wahrsten Sinne des Wortes bewegtes Leben. Dass er eigentlich als 16-/17-Jähriger schon als Berufsmusiker in ganz Deutschland unterwegs gewesen sei und erst seit zehn Jahren wieder regelmäßig im Krefelder Jazzkeller spiele. Ihm fällt die Zeit ein, in der immer sofort nach der Schule im Keller am Schlagzeug gesessen hätte, um zum Plattenspieler zu trommeln, bis er ins Bett gemusst hätte. Dass er nach dem Abitur am Uerdinger Fabritianum schon mit 18 Jahren in die Düsseldorfer Szene gerutscht sei, wo er in Clubs wie dem Downtown und dem Dr. Jazz seine ersten musikalischen Erfahrungen sammeln durfte. Dann habe er ein Musikstudium absolviert, und ich bin überrascht, als ich von ihm erfahre, dass man Anfang der 80er Jahre nur klassische Musik studieren konnte und sich die Möglichkeit eines Jazzstudiums in Köln erst später mit Jiggs Wigham, dem ersten Professor für Jazzmusik, bot.

 

Jiggs war es auch, der das Musiker-Casting für den Starlight Express durchführte und Andy wegen seiner Fähigkeiten dem Produzenten empfahl. Dabei fallen ihm die großen Anlaufschwierigkeiten des Musicals wieder ein: „Wir waren nach einem halben Jahr kurz vor der Pleite. Unser großer Durchbruch kam erst über das Aktuelle Sportstudio im ZDF. Da haben sie drei Szenen von hier gezeigt, und ab dem Tag war die Show ausverkauft. Erfolg und musikalische Beständigkeit will eben mühevoll erarbeitet sein, und da sind Beharrlichkeit und Fleiß auch hier wieder Schlüsselwörter.“ Mit Blick auf die jungen Kollegen weist er, nachdenklich geworden, darauf hin, dass die lukrativen Jobs im Business dauerhaft besetzt bzw. hart umkämpft sind. Und diese Plätze werden in Anbetracht des DJ-Hypes und nachlassender Live Aktivität zudem immer rarer. Aber bei allem Aufwand liebt Andy auch seine musikalische Freiheit, und die findet er in verschiedenen, vorwiegend Jazz-orientierten Club-Projekten mit bekannten nationalen und internationalen Kollegen. So gibt es jeden dritten Donnerstag im Monat die klare Ansage: „YES WE JAM – Impro Concert“ im Mönchengladbacher Messajero und viermal monatlich die Gigs im „Steinbruch“ in Duisburg. Er telefoniert und organisiert, und am Ende stehen auf der Agenda für seinen legendären „Funky Friday“ im Krefelder Jazzkeller die Namen der Upperjazzclass. Da kann es durchaus sein, dass Keyboarder Jesse Milliner bereits am nächsten Abend mit Chaka Khan den Madison Square Garden rockt oder gestern noch der TV-erfahrene Multiinstrumentalist René Pütz gemeinsam mit Oliver Welke in der „Heute-Show“ die AFD in die Knie sang.

Wer ihn mittelbar beim „Starlight Express“ oder unmittelbar bei seinen Konzerten erleben durfte, der fühlt sich unweigerlich mit dem drummenden Sympathieträger verbunden, und wer sein energiegeladenes Spiel einmal erlebt hat, der weiß, dass Andy Pilger, obwohl er zum Urgestein der deutschen Musical Szene gehört, nach wie vor für die Musik brennt.

Mehr über Andy Pilger auf seiner Website: www.andypilger.de oder Aktuelles über Facebook. Beim nächsten „Andy Pilgers Funky Friday“ im ­Krefelder Jazzkeller am 5. Mai hat er mit dem Wolf Maahn-Keyboarder Jürgen Dahmen, dem Stefan Raab-Percussioner Alfonso Garrido und ­Booster-Sänger René Pütz am Bass wieder eine Starbesetzung „zusammengetrommelt“.