Lange Felder erstrecken sich, soweit das Auge reicht. Es riecht nach Sommer, und der leichte Wind weht eine Prise von Freiheit hinüber. Ausgelassen toben fünf kleine Gestalten zwischen den großen Bäumen, laufen einander hinterher, fangen sich und lachen laut. Einige Meter weiter liegt eine große Picknickdecke auf dem Boden, und Leckereien warten darauf, genüsslich verspeist zu werden. Ein älterer Mann prüft aufmerksam die Bäume in unmittelbarer Nähe. Noch sind die großen grünen Früchte am Baum geschlossen, aber es wird nicht mehr lange dauern, dann werden sie von den Bäumen fallen und sich öffnen: Die Walnussernte steht kurz bevor.
Es sind wohlige, wärmende Erinnerungen, die der 56-jährige Ahad Kheiratie tief in seinen inneren Schubladen sicher verwahrt: Damals war noch alles leicht, als er mit seinen Geschwistern auf den Walnussfeldern der Eltern im Iran spielte. Doch die Zeiten sind lange vergangen und die Erinnerungen verblasst: Denn es ist mehr als 25 Jahre her, dass Kheiratie mit seinen Geschwistern gescherzt und seine Eltern in den Arm genommen hat. Der Perser ist ein Opfer der Theokratie, der seit 1979 herrschenden Staatsform im Iran: Der Gottesstaat hat ihn zum Flüchtling gemacht.
Schon immer ist Ahad Kheiratie ein kluger Kopf: Die Schule meistert er mit Bestnoten, und eine berufliche Karriere steht für ihn außer Frage. Keine Fragen stellt er auch, als er 1981 mit 21 Jahren vom Militär eingezogen wird: In einem Land, das von Machtkonflikten und einer hohen Gewaltbereitschaft geprägt ist, weiß der Heranwachsende, dass er keine andere Wahl hat, als in das Kriegsgeschehen zu ziehen. Drei Monate lang lernt er den Umgang mit Waffen, lernt, wie er sich in der Theorie verteidigt und kommt in Berührung mit der Kriegstaktik. „Doch was sind schon drei Monate, wenn du um dein Leben kämpfst?“, wirft Kheiratie, ohne auf eine Antwort zu warten, in den Raum. „Das, was ich dort gesehen habe, habe ich erst vor wenigen Jahren wirklich begriffen.“
Früher hat Ahad Kheiratie auf den Walnussfeldern im Iran mit seinen Geschwistern gespielt. Heute sorgt er dafür, dass andere Familien unter den großen Bäumen picknicken können.
Während seine Mutter in der Heimat verzweifelt auf einen Anruf oder einen Brief ihres Sohnes wartet, versucht der 21-Jährige den Ersten Golfkrieg zu überleben. „Ich hatte keine Angst“, erinnert er sich und ergänzt: „Ich habe Soldaten ohne Köpfe und ohne Beine gesehen, aber ich war zu jung, um Angst zu haben. Ich hatte Übermut.“ Nach 24 Monaten kehrt der Krieger körperlich unversehrt in sein Dorf zurück. Seine Mutter empfängt ihn weinend, sichtlich gealtert vor Sorge um ihr Kind: Erste graue Haare blitzen in ihrem rabenschwarzen Haar hervor, und tiefe Falten haben sich um ihre Augen gelegt. „So viele Leute haben mir gesagt, dass du nicht zurückkommen wirst“, flüstert sie dem jungen Soldaten ins Ohr. Ihre Worte öffnen eine ihm nicht bekannte Tür, erinnert er sich: „Das war das erste Mal, das ich daran gezweifelt habe, dass das alles vielleicht doch nicht richtig ist.“
Aber der junge Mann beschließt, seine Erinnerungen wegzusperren: Er verfrachtet sie in die unterste Schublade seiner Gedankenkommode und legt ein großes, imaginäres Schloss davor, das nur er selbst in der Lage ist, zu öffnen. Kheiratie möchte ein Studium beginnen und wählt das Fach Physik. Gleichzeitig beginnt er, sich politisch zu engagieren. „Wir sind sehr liberal erzogen worden, und ich habe immer von einem freien, demokratischen Land geträumt. Ich habe über die Folgen meines Traumes nicht nachgedacht und habe natürlich auch an Protesten teilgenommen. Ich hatte begriffen, dass das, was in unserem Land passiert, falsch ist“,schildert er.
Mit der Rückkehr Ruhollah Chomeinis aus dem französischen Exil im Februar 1979 beginnt eine Schreckensherrschaft neuen Ausmaßes im Iran: Innerhalb von nur elf Tagen flieht der sozialdemokratische Ministerpräsident Schapur Bachtiar aus seinem Land, und Chomeini ruft nur zwei Monate später die „Islamische Republik Iran“ aus. Die Universitäten werden geschlossen, linke Parteien und Guerillaorganisationen verboten, Banken verstaatlicht und Saboteure mit Berufung auf die Scharia verfolgt. Die Missachtungen jeglicher Menschenrechte und die Beseitigung von politischen Gegnern durch die Todesstrafe werden zum Alltag. „Dann bin ich zum Interview vorgeladen worden. Der Ernst der Lage war mir sofort bewusst“, sagt Kheiratie mit versteinerter Mimik.
Vor dem religiösen Gericht, vor Männern mit langen Bärten und strengen Gesichtern, wie es dem Student in Erinnerung geblieben ist, muss er sich für seinen Lebensstil rechtfertigen. Er wird auf Herz und Nieren, aber vor allem auf Glaubensfragen und politische Ausrichtung,geprüft. Nach eigenem Empfinden schlägt er sich ganz gut, doch er merkt, dass die ihm vorgesetzten Männer skeptisch bleiben. „Und als ich zu meiner Mutter zurückkehrte, hatte sie alle liberalen Bücher vergraben und meinen Koffer schon gepackt“, sagt er. „Es war klar, dass ich gehen muss, um überleben zu können.“
In einem Bus flieht der Iraner versteckt über die Türkei durch Jugoslawien nach Deutschland. Mit 60 Dollar in der Tasche kommt er müde, traurig und durcheinander in Düsseldorf an. Er trifft seinen ersten deutschen Schutzengel, erinnert er sich liebevoll: „Ein Polizist war so freundlich zu mir. Er hat mich in ein Restaurant gesetzt und mir Essen und Trinken gegeben, während er geklärt hat, wie es für mich weitergeht.“ Kheiratie wird in die ehemalige DDR gebracht, macht einen Deutschkurs und hält engen Kontakt zum Ausländeramt. „Hier war mein zweiter Schutzengel“, sagt er und lacht. Die Chefin der Ausländerbehörde nimmt sich dem höflichen und zurückhaltenden jungen Mann an. Sie wickelt die Registrierung für ihn ab, hilft ihm beim Lernen der neuen Sprache und bemüht sich, eine Ausbildung für den lernwilligen Zugewanderten zu finden. Kheiratie mag das Leben hier, besucht Chemnitz und reist bis zur Grenze nach Tschechien. Er fühlt sich wohl, genießt die Architektur und knüpft Kontakte. Eines Tages trifft Kheiratie einen anderen Iraner, der mit einer Lehrerin in Krefeld verheiratet ist. Ein Gespräch entwickelt sich: Im Westen gebe es mehr Arbeit, schildert der Landesgenosse. Außerdem würde er umziehen und Kheiratie könne seine Wohnung übernehmen. „Und so kam es, dass ich mich von meinen Freunden im Osten verabschiedete und mich auf den Weg in einen neuen Lebensabschnitt machte“, sagt der Iraner, und ein leichtes Leuchten erreicht seine Augen.

Die Walnuss gilt als natürliches Heilmittel und als ausgesprochen gesund
In der Seidenstadt fühlt sich Ahad Kheiratie auf Anhieb wohl: Die vielen Parks mit den großen Bäumen gefallen ihm und erinnern ihn an seine Heimat. Regelmäßig telefoniert er mit seiner Familie und macht eine Weiterbildung zum Kraftfahrer. Aber mit dem Alter kommen auch die Erinnerungen zurück: Ganz langsam öffnet sich die verschlossen geglaubte Schublade und lässt während der langen, stillen Stunden im Lkw die Kriegserlebnisse wieder lebendig werden. „Die Enge war zu viel für mich“, sagt er. „Ich konnte nicht mehr als Kraftfahrer weiterarbeiten.“ Er beginnt eine Umschulung zum Microsoft-Netzwerkadministrator. Gleichzeitig findet er eine alte Leidenschaft wieder: Während er im Park am Flohbusch über seinen Lehrbüchern brütet, beginnt er, große Walnussbäume wahrzunehmen, die fast schon verloren neben der kleinen Brücke, dem Weiher und den hölzernen Bänken stehen. „Walnussbäume haben eine natürliche Kraft. Sie sind gesund und ein Heilmittel für Krankheiten“, sagt er mit energischer Stimme und fügt hinzu: „Außerdem waren sie für meine Geschwister und mich das schönste Spielgerät als Kind.“ Der Gedanke verfestigte sich, den Krefeldern und den Deutschen etwas für ihre Freundlichkeit zurückgeben zu wollen.

Ahad Kheiratie sammelt, pflanzt und gießt die Walnussbäume, um später die Früchte seiner Arbeit zu ernten
1998, sieben Jahre nach seiner Ankunft in Deutschland, pflanzt Kheiratie seinen ersten Walnussbaum in Krefeld, in der Nähe vom Bockumer Badezentrum. Mit Schaufel, Eimer und Setzlingen beladen, steuert er zukünftig sein Fahrrad durch die Krefelder Botanik und sucht nach geeigneten Plätzen, um zu pflanzen. Im Sommer schleppt er jeden Tag unzählige Liter mit Frischwasser in die Parkanlagen, um „seine“ rund 100 Bäume vor dem Verdursten zu retten: Zehn Liter benötigt ein kleiner Baum, 30 Liter ein großes Exemplar. „In diesem Sommer habe ich wirklich hart gearbeitet“, erklärt der Perser und schüttelt den Kopf, „ich habe mehrmals beim Grünflächenamt angerufen und um Hilfe gebeten oder um mich auch als ehrenamtliche Arbeitskraft zu melden, aber sie haben immer abgeblockt.“ Auf seinen täglichen Touren kommt der Zugezogene ins Gespräch mit den Seidenstädtern: Manche werfen ihm abwerte Blicke zu und fragen hinter vorgehaltener Hand, ob er verrückt sei, andere kommen mit dem Gartenschlauch dazu und unterstützen ihn, und wenige laden ihn sogar zur Stärkung an die Kaffee- und Kuchentafel ein. „Jemand hat mal gesagt, dass ich ein Baumkünstler sei“, sagt der Systemadministrator. „Der Begriff gefällt mir, ich habe ja schließlich die Walnuss im Blut.“
Während im warmen Sommer das Fahrrad nicht still steht, nimmt sich der 56-Jährige im September und Oktober Zeit, das klapprige Rad abzustellen und das Geschehen im Park zu beobachten. Fast kindlich freut er sich darüber, wenn Geschwister aufgeregt Walnüsse sammeln oder Mütter anhalten, um ihren Söhnen die erste Walnuss aus der Schale zu pulen. Für den Iraner, der so viel in seinen inneren Schubladen versteckt, ist das Pflegen der Walnussbäume längst nicht nur ein Hobby. Als ihn 2012 eine Traumawelle übermannt und er seine Arbeitsstelle erneut aufgeben muss, findet er in der täglichen Routine, der täglichen Walnuss-Fahrrad-Tour, seine Therapie. Hier lässt er Erinnerungen an seine zurückgelassene Welt zu, öffnet Schubladen und sortiert sie, fühlt den Schmerz über das Verlorene, aber auch die Dankbarkeit über die unbeschwerte Kindheit auf den Walnussfeldern seiner Familie und macht neuen, anderen, glücklichen Eindrücken Platz. „Manche Menschen spielen Klavieroder treiben Sport, damit es ihnen gut geht“, erklärt er. „Und ich habe eben die Liebe zu den Walnussbäumen.“