„Ich bin für dich da, egal was kommt.“

Wenn es eine Maßeinheit für Liebe geben würde, wäre Ida Dunkel die erste Person, die sie sprengt: 65 Kinder, 24 Enkelkinder und zwei Urenkel – die 64-Jährige liebt sie alle mit ihrem ganzen Herzen. Ida Dunkel ist Kinderdorfmutter im Bethanien Kinder- und Jugenddorf in Schwalmtal. Vor mehr als 40 Jahren hat sie sich entschlossen, ihr Leben denjenigen zu schenken, die ohne eigenen Einfluss in Not geraten sind: Als Kinderdorfmutter gibt sie Kindern und Jugendlichen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr bei ihren leiblichen Familien leben können, ein  Zuhause in Geborgenheit und Vertrauen und hilft ihnen, als selbstständige Personen zurück in ein Leben mit Zukunftschancen zu finden.

 

Ida Dunkel ist der Inbegriff von Stärke: Denn in ihren Augen ruhen nicht nur unendlich viele schöne Erinnerungen mit den ihr anvertrauten Kindern und Jugendlichen, sondern immer wieder legen individuelle Einzelschicksale Schatten darüber. Wer als Kind oder Jugendlicher ins Kinderdorf kommt, hat immer eine Vorgeschichte: In einem langen Prozess hat das Jugendamt entschieden, dass die Mädchen und Jungen bei ihren leiblichen Familien nicht mehr gut aufgehoben sind. Oft sind die Probleme der eigenen Eltern der Grund. Ob aufgrund von Armut, Krankheit oder Gewalt, in Deutschland sind fast 100.000 Kinder und Jugendliche dauerhaft in der stationären Jugendhilfe untergebracht. Eine Zahl, die sich in den vergangenen 25 Jahren fast verdoppelt hat. In eine Kinderdorffamilie werden die Kinder aufgenommen, die perspektivisch kaum eine Chance haben, zu ihrer leiblichen Familie zurückzukehren. Meistens werden sie bei der Kinderdorffamilie groß, beginnen in der Jugend die Suche nach ihren eigenen Wurzeln und kehren doch als Teil der Familie ins Bethanien Kinderdorf zurück.

Ida Dunkel hat das unzählige Male erlebt. Wenn das Telefon geht, die Erziehungsleitung aus dem Kinderdorfbüro anruft und sie hört, dass ein Kind untergebracht werden muss, gerät ihr Herz in Wallung. „Ich muss einfach helfen“, sagt die Erzieherin und schmunzelt: „Wenn es keinen Platz gibt, dann wird Platz geschaffen. Im Kinderdorf wird niemand abgelehnt, der Hilfe braucht.“ So ist es auch, als vor mehr als 40 Jahren im Schwarzwald das Telefon klingelt. Die junge  Frau hat gerade die Entscheidung getroffen, ihren Dienst als unterstützende Pädagogin in einer anderen Kinderdorffamilie mit einer eigenen Kinderdorffamilie zu tauschen und ist zu ihrer Familie gefahren, um hier noch einmal für die neuen Aufgaben Kraft zu tanken. Bethanien erreicht derweil ein Notruf: Eine Geschwistergruppe mit neun Kindern braucht eine Unterbringung. Eine Stunde Zeit gibt die Kinderdorfleitung der Pädagogin, um sich zu entscheiden. „Und natürlich habe ich ja gesagt“, erinnert sie sich lachend. „Auf einmal überschlugen sich die Ereignisse.“

„Für mich war es immer schwer, zu merken, dass ich nicht abgeholt werde. Das tat weh.“

Inzwischen hat Ida Dunkel etliche Generationen an Kindern und auch an Geschwistern großgezogen. Viele Jahre davon im „Kastanienhaus“, einem alten, an das wunderschöne Gelände des Kinderdorfes angrenzenden Wohnhaus. Auch die heute 20-jährige Seyda ist hier aufgewachsen. Mit vier Jahren kommt sie 2002 gemeinsam mit ihren älteren Geschwistern ins Kinderdorf. „Ich war ja erst vier und kann mich an die ersten Tage gar nicht mehr richtig erinnern“, beschreibt die junge Frau. „Ich weiß, dass meine Kindheit anders war als in klassischen Familien. Aber hier bei Ida war sie wunderschön.“ Seyda liebt vor allem die Tage, an denen die Kinderdorfmutter ganz ihr gehört. Mit bis zu acht Kinderdorfgeschwisterkindern teilt sie ihre Kinderdorfmutter. An Geburtstagen und an Jubiläumstagen darf sie sich gemeinsam mit Ida einen Ausflug wünschen. „An Jubiläumstagen feiern wir den Tag, an dem wir ins Kinderdorf gekommen sind“, erklärt die 20-Jährige. „Wir waren zusammen Eis essen, sind ins Kino gegangen, und einmal waren wir sogar auf dem Summerjam.“ Auch für die Erzieherin haben die Jubiläumstage eine besondere Bedeutung. „‚Du bist hier willkommen, hier ist dein Zuhause’, das möchten wir den Kindern vermitteln“, erklärt sie und ergänzt: „Ob im Kindergarten, in der Schule oder in der Nachbarschaft, unsere Kinder spüren jeden Tag, dass sie anders leben als ihre Freunde und Klassenkameraden. Unsere Aufgabe ist es, ihnen zu vermitteln, dass sie, egal wie sie sind, egal was sie machen, hier angenommen sind.“

Und das ist nicht immer leicht. Denn oft gebe es in der Pubertät eine Phase, in der die Jugendlichen rebellieren. Sie hinterfragen ihre Situation, sind wütend auf die eigenen, leiblichen Eltern, übertragen diese Wut auf sich selbst oder auch auf die Kinderdorffamilie und die Pädagogen. „Diese Phase muss sein, und das müssen wir als Kinderdorfeltern aushalten, denn nur so können die Kinder begreifen, dass sie nichts dafürkönnen, dass sie eben nicht bei ihrer leiblichen Familie aufwachsen können“, weiß auch die Kinderdorfmutter. So war das auch bei Seyda. In der Pubertät nimmt die Sehnsucht danach, „normale Familienverhältnisse“ zu haben, überhand. Seyda ist sauer auf die ganze Welt, sie sucht Schuldige und verlässt letztendlich die Kinderdorffamilie. Mit „Mama Ida“, wie sie ihre Kinderdorfmutter liebevoll nennt, bleibt der Kontakt bestehen. „Ich habe ein altes Versprechen gegeben: Ich bin für dich da, egal was kommt. Ich lasse dich nicht fallen, egal, was du machst“, betont Dunkel. „Dieses Versprechen halte ich für immer aufrecht.“

Und so kommt es, dass genau wie Seyda auch heute noch etliche Ehemalige mit Ida Dunkel und ihren „aktuellen Kinderdorfkindern“ Kimberley und Julian Weihnachten feiern. Das christliche Fest hat einen großen Stellenwert im Kinderdorf. In Dunkels Familie sind dabei über die Jahre und die Kinderdorfkindergenerationen Rituale und Traditionen eingezogen. „Es gibt immer Pasteten an Weihnachten“, weiß Seyda. „Und die Jungs sind für die Krippe zuständig.“ Und Kimberley, die schon als Säugling mit sechs Wochen zu Ida Dunkel gezogen ist und in diesem Jahr ihr 12. Weihnachtsfest in der Familie feiert, ergänzt: „Und wir musizieren gemeinsam.“ Musik ist ein großes Thema in der Kinderdorffamilie: Kimberley lernt Klavier und Flöte in der kinderdorfeigenen Musikschule, Seyda hat dort Gesangsunterricht genommen. Musik, so weiß die Pädagogik, hilft, traumatische Erfahrungen aufzuarbeiten und Stimmungen zu kanalisieren. An Weihnachten sind in der Kinderdorffamilie die Lieder „Oh du Fröhliche“ und „Alle Jahre wieder“ die Klassiker.

Gemeinsam mit ihrer langjährigen Mitarbeiterin Maria Tappehser versucht Ida Dunkel alles, um jedes einzelne Weihnachtsfest einmalig werden zu lassen. Denn sie kennt auch die Traurigkeit, die sich immer wieder in den Augen der 150 Kinder und Jugendlichen des Kinderdorfes spiegelt, wenn sie gemeinsam in der Kinderdorfkapelle Weihnachtsgottesdienst feiern. „Wie war Weihnachten denn bei mir zuhause?“, denken sie. „Was machen Mama und Papa jetzt?“ und auch „Warum kann ich nicht bei ihnen feiern?“ Mit Liebe, Vertrauen und hoher pädagogischer Professionalität können die Mitarbeiter im Kinderdorf den Kindern und Jugendlichen diesen Schmerz nicht nehmen, aber die Weihnachtszeit für sie trotzdem zu einem unvergesslichen Erlebnis machen.

 

Das ist auch der Grund, warum Elternkontakte vor oder nach dem Weihnachtsfest, aber nie während der Weihnachtstage, stattfinden. „Die Kinder haben hier im Kinderdorf ihren Lebensmittelpunkt, und deswegen feiern wir alle christlichen Feste zusammen in der Kinderdorffamilie oder den Wohngruppen. Das schweißt zusammen. Zeit für die leibliche Familie ist gegebenenfalls vor oder nach den Weihnachtstagen“, betont die Kinderdorfmutter. „Gegebenfalls“ – ein Wort, das schweres Gewicht trägt. Denn nicht alle Kinder haben Kontakt zu ihren leiblichen Eltern: In einigen Fällen erlaubt es das Jugendamt nicht, in anderen Fällen haben die leiblichen Eltern an einer Begegnung einfach kein Interesse oder die eigenen Probleme sind zu groß, um mit dem Kind in Verbindung zu bleiben. Auch Seyda blickt mit Schmerz auf den Teil des Dezembers zurück, an dem andere ihrer Kinderdorfgeschwister von ihren Eltern besucht wurden: „Für mich war es immer schwer, zu merken, dass ich nicht abgeholt werde. Das tat weh.“

Heute gibt Seyda der Trauer nur noch wenig Platz, denn in diesem Jahr ist die junge Frau in Vorfreude auf eine eigene Premiere: Zum ersten Mal feiert sie mit ihrem Sohn Milow, der in diesem Jahr geboren wurde, ihrem Mann und Hund Pia den heiligen Abend. Erst am ersten Weihnachtstag, an Ida Dunkels Geburtstag, wird sie ins Kinderdorf kommen und ihre Kinderdorfgeschwister samt eigenen Kindern und Ehepartnern, ihre riesige Familie, im neuen Kastanienhaus treffen. Dann ist auch Ida Dunkel mittendrin, freudestrahlend von einem Ohr zum anderen. „Wenn die ganze Familie da ist, bin ich glücklich. Ich nehme mir dann einen Moment Zeit, um mich umzuschauen“, sagt sie, während ihr Mammutherz ihre Augen zum Leuchten bringt. „Und dann bin ich stolz darauf, was aus meinen Kindern geworden ist. Dass ich es geschafft habe, ihnen zu sagen: ‚Du bist hier auf der Welt gewollt. Du wirst hier auf der Welt geliebt.’“

 

Das Bethanien Kinder- und Jugenddorf ist immer auf der Suche nach Frauen und Ehepaaren, die sich vorstellen können, als Kinderdorffamilie zu leben. Alle Informationen finden Sie im Internet: www.bethanien-kinderdoerfer.de