Ist das Samtweberviertel eine Erfolgsgeschichte und ein Modell für die (Krefelder) Stadtentwicklung?

Lange Zeit hatte die Krefelder Südstadt keinen guten Ruf. Sie galt als arm, schmutzig und unsicher. Menschen aus den bürgerlichen Vororten der Seidenstadt kamen nur hierher, wenn sie einen zwingenden Grund hatten – oder vielleicht im Café Tannenstraße ein Bier trinken wollten. In der Lewerentzstraße, der Garnstraße oder der Gerberstraße wohnen? Auf keinen Fall! „Da kann man doch im Dunkeln nicht unbehelligt vor die Tür gehen“, war eine weit verbreitete Meinung. Ein ganz anderes Bild zeigte sich jedoch in den letzten Jahren bei der Befragung der hier lebenden Menschen. Eine 2013 von der Bonner Montag Stiftung im Viertel durchgeführte Befragung ergab, dass 78 Prozent der Befragten gerne bis sehr gerne hier lebten. Das Zusammenleben von vielen unterschiedlichen Kulturen, sozialen Schichten und Altersklassen wurde von den Südstädtern als Plus gesehen. Ausdrücklich gelobt wurde außerdem der gute Zusammenhalt im Viertel. Fast jeder dritte Befragte gab sogar an, sich für den Stadtteil zu engagieren. Nur beim Thema Schmutz, Verfall und dem Mangel an Grün waren sich die Südstadtbewohner mit den übrigen Krefeldern einig.

Die Befragung hatte die “Montag Stiftung Urbane Räume” aus gutem Grund durchgeführt. Sie hatte die Krefelder Südstadt als Pilotgebiet für eine besondere Art der Stadtteilentwicklung ausgewählt. Unter dem Label „Samtweberviertel“ sollten die Potenziale des Gebiets zwischen Marktstraße, den Wällen und dem Ring entwickelt werden. „Vorgefunden haben wir damals ein Quartier ‚auf der Kippe‘, das aber über viel Energie verfügte“, erklärt Henry Beierlorzer, Geschäftsführer der Projektgesellschaft „Urbane Nachbarschaft Samtweberweberei gGmbH“ (UNS). „Mit der ‚Alten Samtweberei‘ verfügt das Gebiet über eine spannende Immobilie, die der Stadt gehört und sich ideal zum Nutzen des Viertels entwickeln lässt. Dazu kam, dass die Stadt Krefeld sich von Anfang an sehr stark engagierte, was schließlich dazu führte, dass die Krefelder Südstadt als Pilotgebiet unter mehreren Bewerbern aus anderen Städten ausgewählt wurde.“

Nach der grundsätzlichen Einigung übertrug die Stadt das Gelände der Alten Samtweberei im Frühjahr 2014 für 60 Jahre in Erbbaurecht an die Montag Stiftung. Das Modellhafte des Vertrags: Es ist kein Erbbauzins zu zahlen, so lange die Stiftung gemeinnützig für das Viertel arbeitet. Nun konnte es losgehen. Schnell war die gemeinnützige Projektgesellschaft UNS gegründet und nur wenige Monate später wurde der erste Bauabschnitt, ein Verwaltungsbau aus den 1960er Jahren, als „Pionierhaus“ an junge Kreativfirmen und Selbständige vermietet. Dabei verpflichteten sich die neuen Pionierhausmieter, pro gemietetem Quadratmeter und Jahr eine ehrenamtliche Stunde für das Viertel zu leisten. Diese Viertelstunden sind ein wichtiger Bestandteil des Konzepts, das vorsieht, die Stadtteilarbeit weitgehend aus den Erträgen der Immobilie zu finanzieren. Inzwischen sind auch die anderen Teile der Samtweberei vermietet oder werden neu genutzt: In das Torhaus sind weitere Firmen eingezogen und in dem zu Wohnungen umgebauten, denkmalgeschützten Altbau wohnt jetzt ein bunter Mix aus Menschen unterschiedlichster Herkunft. So kommen pro Jahr etwa 60.000 Euro Mietüberschüsse und rund 2.500 Viertelstunden zugunsten des Stadtteils zusammen.

„DIE SÜDSTADT WAR SCHON IMMER EIN SEHR LEBENDIGES VIERTEL!“

Das Samtweberviertel wurde im Februar 2016 vom Land NRW als Ort des Fortschritts ausgezeichnet und erhielt kurz darauf den „Polis Award“ für besipielhafte Immobilien- und Stadtentwicklung.

Parallel zur Immobilienentwicklung fördert die UNS das ehrenamtliche Engagement rund um die Samtweberei. Eine der ersten Maßnahmen war ein Projektaufruf, mit dem die schlummernde Kreativität des Viertels geweckt werden sollte. Und genau dies geschah. 26 Projekte, die das Viertel auf unterschiedliche Art bereichern und schöner machen wollten, wurden im Juni 2014 eingereicht – vom Café International, einem Treff von Frauen unterschiedlicher Kulturen, über eine Zeitung für die Südstadt bis zur Verschönerung der Lewerentzstraße durch die Bepflanzung von Baumbeeten. 5.000 Euro stellte die UNS für diese Aktivitäten zur Verfügung und ließ von einer Jury die vielversprechendsten Projekte prämieren.
Inzwischen hat es sich im Viertel herumgesprochen, dass soziale und kreative Ideen gefördert werden, sodass immer wieder Neues eingereicht und verwirklicht wird, und auch viele Aktivisten der ersten Stunde immer noch dabei sind.
Weitere Katalysatoren der Stadtteilentwicklung sind regelmäßige Festivitäten, wie das vom Bürgerverein Bahnbezirk mit Unterstützung der UNS durchgeführte Kirschblütenfest oder das Nachbarschaftsfest, dass am 7. Oktober wieder in der Alten Samtweberei stattfindet. Seit Dezember 2015 gibt es mit der „Ecke“ einen festen Treffpunkt für Initiativen und alle an einem guten Zusammenleben interessierten Menschen im Samtweberviertel. Seit dem Frühjahr 2017 steht die umgebaute ehemalige Produktionshalle der Samtweberei, die Shedhalle, als „Neuer Platz für das Viertel“ zur Verfügung. Neuester Hotspot ist das Kulturcafé Lentz, das von dem ehrenamtlich organisierten Verein „Kette und Schuss“ getragen wird.

„Für uns sind die Menschen im Samtweberviertel, die Nutzer der Alten Samtweberei und – als finanzielle Grundlage und Raumangebot – die Immobilie selbst, die drei Säulen unseres Projektes“, erklärt UNS-Projektleiter Robert Ambrée. „Genauso wichtig ist unsere gute Zusammenarbeit mit der Stadt Krefeld und lokalen Institutionen.“ Diese Zusammenarbeit hat die Stadt von Anfang an gerne angeboten und eingelöst. Der Stadtspitze und vor allem der Krefelder Stadtplanung war schnell klar, dass die Arbeit der UNS auch über das Viertel hinaus sehr positive Auswirkungen hat. „Im Rahmen des Stadtumbau-West-Programms sind in der Südstadt bereits in den 90er-Jahren einige Sanierungsmaßnahmen – zum Beispiel am Alexanderplatz oder an der Corneliusstraße – durchgeführt worden“, weiß Birgit Causin vom Krefelder Stadtplanungsamt. „Doch die Wirkungen dieser Maßnahmen waren nicht annähernd so nachhaltig wie die Aktivitäten der Montag Stiftung. Durch reine Baumaßnahmen erreicht man eben keinen Zusammenhalt. Die intensive Förderung von Engagement und Vernetzung durch die UNS hat dagegen viel schlafendes Potenzial geweckt.
Von daher ist die Stadt glücklich, dass die Montag Stiftung nach Krefeld gekommen ist, und hier ein so beispielhaftes Projekt ins Leben gerufen hat.“

„Noch wichtiger als die positive PR, die uns das
Samt­weber­viertel beschert, ist für mich, dass hier ein Stadtlabor entstanden ist, in dem es vor kreativen Ideen nur so sprudelt. Die Südstadt war schon immer ein sehr lebendiges Viertel…” -Uli Cloos

 

Uli Cloos – Leiter des Krefelder Stadtmarketings

Uli Cloos – Leiter des Krefelder Stadtmarketings

Geht man durch das Viertel, dann sieht und spürt man an vielen Ecken positive Veränderungen – sichtbare und unsichtbare. Andererseits wirkt das Quartier zwischen Marktstraße und Ring in weiten Teil immer noch ziemlich rau und wenig wohlhabend. Dass hier noch keine „Insel der Seligen“ entstanden ist, belegt auch die Statistik. Von knapp 7.000 Haushalten der Südstadt leben immer noch mehr als 2.000 von staatlichen Transferleistungen. Die Arbeitslosenquote ist mit 21,8 Prozent negative Spitze in Krefeld, die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten unterdurchschnittlich und die Fluktuation im vor allem von Einpersonenhaus­halten geprägten Stadtteil enorm hoch. „An den strukturellen Ursachen von Armut oder Migration kann ein Projekt wenig verändern, wohl aber an der Art und Weise, wie die Menschen vor Ort zusammenleben und was den Charakter eines Viertels ausmacht“, interpretiert Henry Beierlorzer die Entwicklung. „Die Veränderungen drücken sich vor allem im Bewusstsein der hier lebenden Menschen aus“, ergänzt Stadtplanerin Causin. „Viele, die schon länger hier wohnen, sind erst durch die Aktivitäten rund um die Samtweberei im Viertel angekommen, haben sich kennengelernt und festgestellt, dass sie wirklich etwas beeinflussen können. Auch das subjektive Sicherheitsgefühl im Viertel hat sich deutlich verbessert.“
Und noch ein wichtiger Effekt konnte durch das Projekt erzielt werden: Vor allem in der Fachöffentlichkeit wurde das Krefelder Projekt mehrfach prämiert. So wurde das Samtweberviertel im Februar 2016 vom Land NRW als „Ort des Fortschritts“ ausgezeichnet und erhielt kurz darauf den „Polis Award“ für beispielhafte Immobilien- und Stadtentwicklung. Und auch in Krefeld selbst ist inzwischen angekommen, dass sich in der Südstadt etwas Beispielhaftes tut. Die Samtweberei zieht immer wieder auch Menschen aus den „vornehmeren“ Teilen der Stadt an. Begeisterung löst das Projekt Samtweberviertel auch bei Stadtmarketing-Leiter Uli Cloos aus, der kürzlich sogar mit seinem gesamten Team in die Samtweberei gezogen ist: „Noch wichtiger als die positive PR, die uns das Samtweberviertel beschert, ist für mich, dass hier ein Stadtlabor entstanden ist, in dem es vor kreativen Ideen nur so sprudelt. Die Südstadt war schon immer ein sehr lebendiges Viertel. Mit Hilfe der Montag Stiftung können wir noch deutlicher machen, dass es sich lohnt, in der Innenstadt zu wohnen. Hier findet urbanes Leben statt. Dieses Viertel steckt einfach voller Potenziale.“