Wir hadern, wir zaudern; wir resignieren und stagnieren in unserer Komfortzone. Der Blick über den Tellerrand unserer Wohlstandsgesellschaft hinaus erfüllt uns nicht selten mit Angst. Dann ersticken wir Empathie mit Konsum und mildern gesehene Schreckensszenarien mit der Entmenschlichung ihrer Protagonisten. Wenn das alles nicht mehr hilft, greifen wir zur Joker-Strategie und stellen uns selbst die alles beschwichtigende rhetorische Frage: „Was könnte ich alleine denn schon ändern?“

Fetische, Werkzeuge, Kriegermasken. Der Wert ihrer afrikanischen Geschenke und Mitbringsel ist in Geld kaum zu beziffern
Das Engagement der Krefelder Lehrerin und Autorin Dr. Birgit Biehl raubt dieser Frage das schützende rhetorische Deckmäntelchen. Seit nunmehr 15 Jahren fügt sie Jahr für Jahr ein einen kleines Stück in das Mosaik ihrer persönlichen Beantwortung hinzu. Ganz alleine ist sie seinerzeit zu dem Entschluss gekommen, einem Dorf in der Wüste Malis, Gani-Dah, Bildung, Medizin und eine bessere Zukunft zu verschaffen. Bei jedem Besuch kommt sie diesem Ziel einen Schritt näher. Der erfolgreiche Abschluss jeder kleinen Etappe auf diesem Weg erfüllt und beseelt die heute 70-Jährige. Dass ihr Umfeld in der westlichen Hemisphäre ob dieser Entwicklungsarbeit immer wieder den Kopf schüttelt, wundert sie wiederum.
Die Liebe zum Urkontinent und dessen Bewohnern ist bei der inzwischen Pensionierten bereits im jungen Erwachsenenalter entbrannt, als sie im Zuge ihres Studiums an der Pariser Sorbonne-Universität mit vielen Afrikanern in Kontakt kam. „Die Warmherzigkeit und Gastfreundschaft der Menschen hat mich schon damals sehr beeindruckt“, erinnert sich Biehl in ihrem Einfamilienhaus in Hüls, das in der obersten Etage übersät ist mit Mitbringseln und Geschenken, die sie auf ihren diversen Expeditionen gesammelt und erhalten hat. „Wenn man einen aus der Familie kennenlernt, wird man gleich vom ganzen Clan herzlich aufgenommen.“ Mit einer für eine Frau dieser Generation untypischen Eigenständigkeit durchquert sie fortan den Kontinent von Nord nach Süd und Ost nach West. Ihr Mann und ihr inzwischen erwachsener Sohn können und wollen sie daran nicht hindern, wenngleich sie sich doch immer Sorgen machen, wie Biehl schmunzelnd gesteht.
Ihre innige Verbindung zu Gani-Dah erwächst aus einer schicksalhaften Begegnung kurz vor der Jahrtausendwende. Biehl ist auf dem Weg nach Timbuktu. Es gibt nur eine asphaltierte Straße. Keine Züge, keine Busse und nur ein paar Autos. Wer von A nach B kommen möchte, fährt hoch oben auf der Ladefläche völlig überladener, fast schrottreifer LKWs. Mit rund 20 Schwarzafrikanern bildet sie eine Schicksalsgemeinschaft. Sie ist die einzige Frau, die einzige Weiße. Dann scheppert und knallt es. Die Achse bricht. Sie sind gestrandet. Irgendwo im Nirgendwo. Die Sonne brennt, kein Telefon, kein Wasser weit und breit, keine Aussicht auf Rettung. „Da wird guter Rat teuer“, weiß die gebürtige Hamburgerin, die inzwischen 13 in Mali beheimatete Sprachen spricht.
„Die Warmherzigkeit und Gastfreundschaft der Menschen hat mich schon damals sehr beeindruckt.“
Wenn Biehl heute über diese Geschehnisse berichtet, klingt sie abgeklärt. Weder ihre Stimme noch ihre Mimik lassen die Dramatik erahnen, die der Situation innewohnte. „In Afrika erlernt man eine völlig neue Form der Gelassenheit; selbst im Angesicht des Todes“, sagt sie lächelnd. Diese Gelassenheit, gepaart mit fundierten Kenntnissen, rettet ihr mehr als einmal das Leben. Vor ihren Afrikareisen lernte sie akribisch, sich anhand eines Kompasses, der Sterne und Meridiane zu orientieren. „So glaubt es mir doch, wir müssen in diese Richtung, zurück zum Fluss“, versucht Dr. Birgit Biehl ihre Begleiter in jenen Tagen zu überzeugen. 19 der stolzen, patriarchalisch sozialisierten Tuareg entscheiden sich gegen den Rat der Promovierten mit den stahlblauen Augen. Auf eine Frau zu hören, widerstrebt ihrer Überzeugung in den Grundfesten. Nur einer schließt sich ihr an: Mohamed Saliha Haidara aus Gani-Dah, ebenfalls Lehrer. Zwei Nächte und einen halben Vormittag schleppen sie sich durch die Wüste, teilen das bisschen Wasser und das Essen, das sie noch haben, ehe sie endlich den Niger erreichen. Während der Fluss und die daran angeschlossene Zivilisation ihre Rettung bedeuten, sind die anderen in den sicheren Tod marschiert. „Sie können nicht überlebt haben“, sagt Biehl rückblickend und schüttelt den Kopf.
Dem Tod gemeinsam von der Schippe gesprungen zu sein, hat Biehl und Haidara für immer verbunden; sie nennen sich seither „Bruder“ und „Schwester“ und schwören sich, einander bald wiederzusehen. Fast genau ein Jahr später reist die ehemalige Studiendirektorin dann auch voller Vorfreude zurück nach Mali. „Ihn zu finden, war alles andere als leicht“, erzählt Biehl, deren Stimme stets von Zuversicht und Euphorie getragen wird. „Man muss sich die Situation vergegenwärtigen. Gani-Dah ist ein kleines Dorf mit rund 4.500 Einwohnern. Fünf Stämme, fünf verschiedene Sprachen. Damals gab es keine Handys. Die einzigen Kommunikations-Medien waren alte Radios. Deswegen bin ich zu einer Radiostation in einem der umliegenden Dörfer, 85 Kilometer von Gani-Dah entfernt, gegangen und ließ ihn ausrufen; auf fünf Sprachen. Zwei Tage später kam er dann tatsächlich. Jemand aus einem Nachbardorf hatte die Durchsage gehört, eilte zu ihm und teilte es ihm mit. Danach hatte er noch das Glück, auf einem LKW mitfahren zu dürfen. Da kam schon viel zusammen.“
Haidara, der damals der einzige Lehrer der „Schule“ in Gani-Dah und damit gleichzeitig auch deren Direktor war, führte seine weiße Schwester anschließend in sein Dorf. „Die ersten Eindrücke haben mich erschüttert“, erzählt die virtuose Schreiberin und blickt umher, während sie gedanklich ihre Erinnerungen zusammenträgt. „Ich sah Menschen, deren Fleisch von der Noma-Krankheit zerfressen war. Kinder mit Atemwegserkrankungen. Schwerst entzündete Verletzungen, die nicht behandelt werden konnten. Sie lebten in einfachen Lehmhäusern, die jedes Jahr zur Regenzeit in sich zusammenfielen. Die Schule war nichts als ein karger Raum ohne Mobiliar; es gab keine Bücher, keine Tafel. Das Vieh war abgemagert bis auf die Knochen. Dieses Elend ist für uns kaum vorstellbar. Aber: Die Menschen waren glücklich, herzlich, gastfreundlich, neugierig und sie klagten nicht.“ Für die meisten Einwohner Gani-Dahs ist die Krefelder Lehrerin die erste Weiße, die sie in ihrem Leben je gesehen hatten. Die Älteren erkennen in ihr die Kolonialherren längst vergangener Tage und schmeißen sich vor ihr auf die Knie. „Ich habe ihnen gesagt: ‚Tu das nie wieder.’“, erzählt Biel mit hochgezogenen Augenbrauen. Doch sie bleibt anfänglich eine Attraktion wider Willen. Ihre weiße Haut, das graue Haar und vor allem ihre strahlend blauen Augen faszinieren die muslimisch geprägten Bewohner, die neben dem Islam ihre Geisterwelt verehren.
Bereits bei ihrem ersten Besuch wird Biehl ein Teil der Dorfgemeinschaft. Sie schläft auch während der Regenzeit in einer vom Wasser gefluteten Lehmhütte, isst, was ihre neuen Brüder und Schwestern essen und entwickelt gedanklich ein Konzept. „Was braucht ihr?“, ist ihre erste Frage. Es dauert lange, bis jemand darauf antwortet. „Das hat mich tief bewegt“, erzählt Biel, „dass Menschen kein Vokabular für ihre Leid haben, ist nach westlichen Maßstäben unvorstellbar. Sie leiden, ohne zu klagen.“ Dann zeigt eine Frau ihre Hände, die vom vielen Hirsemahlen eine sogenannte Krokodilhaut entwickelt haben. „Das möchte ich nicht mehr“, sagt sie. Ein Anfang ist gemacht, doch Biehl erkennt schnell, dass Bildung der Schlüssel für alles ist. Bildung, Ernährung und eine medizinische Grundversorgung sind auch die Eckpfeiler der Satzung ihres später gegründeten Vereins. Mit diesen Leitfäden im Kopf fährt sie nach einigen Wochen zurück nach Hause und bittet Ärzte um ausrangierte Geräte und Werkzeuge. Ein Skalpell zum Öffnen eitriger Wunden, ein Stethoskop, Fieberthermometer und Blaudruckmessgerät sind ihre Beute.
In den folgenden Jahren investiert sie zur Erfüllung der gesteckten Ziele ihr eigenes Geld, aber sie beginnt auch, Spenden zu generieren. „Der wichtigste Schritt war allerdings, ein Netzwerk in Mali herzustellen. Denn nur so kann der gesamten Region nachhaltig geholfen werden“, erklärt sie. Auf beschwerlichen Reisen findet sie Schulbücher, Baufirmen und Brunnenbauer. Die Schule wird ausgebaut, vergrößert und mit einer Bibliothek und einem Kantinen-Betrieb versehen. Ihr Engagement entwickelt eine Strahlkraft weit über die dörfischen Grenzen hinaus. Bald zählt die Schule immer mehr Besucher, darunter viele Mädchen, und Biehl gewinnt Mitstreiter, die Patenschaften übernehmen oder sich selbst in Gani-Dah engagieren. So konnten Wohnhäuser befestigt sowie ein Bildungs- und Gesundheitswesen etabliert werden. Jedes Jahr steckt sich die Hülserin ein neues Ziel. Mal sind es Impfungen, die auf ihrer Agenda stehen, ein anderes Mal bringt sie mit ihren Partnern Brillen, Solarkocher- und Anlagen in das Dorf. Mit Hilfe des von ihr eingeführten Mikrokreditwesens konnten Maschinen für den Ackerbau und zur Hirseverarbeitung gekauft werden. Hilfe zur Selbsthilfe nennt sie das. Und Biehl hat recht. Mit den so geschaffenen Produkten können die Bewohner Handel treiben und ihre Lebensumstände selbst verbessern.
„In Afrika erlernt man eine völlig neue Form der Gelassenheit; selbst im Angesicht des Todes.“
Viele Jahre vergehen so, die vom steten Aufstieg und beachtlichen Verbesserungen geprägt sind. Gani-Dah wird zwar nicht ausschließlich, aber vornehmlich, innerhalb Malis zu einem Vorzeigeprojekt, das viel Beachtung und Würdigung erfährt. Viele Dorfbewohner beenden erfolgreich die Schule, studieren anschließend in der Hauptstadt oder erlernen einen Beruf. Die Verehrung der Krefelder Pionierin ist derweil fast grenzenlos. Sie ist längst ein festes Mitglied der großen Familie; sie erhält sogar einen eigenen Namen und ein Stück Land als größte Form der Ehrerbietung. Darauf möchte sie nun eine Vorschule errichten. Vielleicht würde diese schon stehen, wäre Mali nicht von der 2012 entbrannten Tuareg-Rebellion und dem anschließenden Militärputsch gebeutelt worden. „Ich wusste damals überhaupt nicht, was um mich herum passiert. Wir fuhren seinerzeit in die Hauptstadt, und plötzlich peitschten Schüsse durch die Gassen, Menschen wurden wahllos erschossen. Ich konnte mich gerade so in eine Missionsstation retten und später mit viel Glück das Land verlassen“, berichtet Biehl über diese alles verändernde Phase.
Etliche geflohene Familien, eine ähnlich schlechte Ernte wie in 2012, gefährliche Unruhen durch brutale Überfälle von Banditen und marodierende Gendarmen, Misstrauen gegenüber Fremden, eine miserable Wirtschaftslage, Erschöpfung und Resignation – das ist die Lage in Gani-Dah heute. Doch davon lässt sich Dr. Birgit Biehl nicht entmutigen. Sie hat ihr Päckchen für ihren diesjährigen Besuch Ende Januar bereits geschnürt. Ihr Ziel ist es in diesem Jahr, ein Wasserwerk errichten zu lassen, um die Versorgungssituation noch weiter zu verbessern. Dafür verlässt sie gerne ihre Komfortzone im heimischen Krefeld. Angst hat sie bei dieser Reise trotz der unsicheren Lage nicht, denn die schlimmsten Erfahrungen macht sie immer wieder, wenn sie in Deutschland landet. „Ich habe es zwar gefühlt schon hunderte Male erlebt, aber ich bin jedes Mal aufs Neue geschockt, wenn ich in Deutschland bin und in die Gesichter der Menschen blicke. Das Misstrauen, das Statusdenken und die Distanziertheit – all das macht mich fertig“, sagt sie mit fester Stimme und weit geöffneten Augen. Nicht jeder muss dem Beispiel Biehls folgen, wenngleich sie sich über jede Spende an den Verein Gani-Dah e.V. freut, doch wir alle sollten die Diskrepanz zwischen dem Wohlstand unseres Landes und dem dabei von uns empfunden Glück überdenken. Vielleicht mit dem Bild eines Kindes aus Gani-Dah vor dem geistigen Auge: mit Hungerbauch, Wunden an den Beinen und einer Schlafstätte auf dem Boden eines Lehmhauses. Aber: Mit einem Lächeln auf den Lippen.