Der EMMAUS-Gebrauchtwarenladen auf der Peter-Lauten-Straße ist Alexander Krippahls Reich. Mit viel Liebe und Hingabe sortiert der 49-Jährige die neu angekommenen Möbel in thematisch gegliederte Wohnwelten, recherchiert Preise im Internet und überprüft die Elektrogeräte auf Funktionalität. Wenn das Geschäft schließlich seine Pforte um 14 Uhr für Kunden öffnet, läuft Krippahl zur Höchstform auf. Versiert und einfühlsam steht er den ganz unterschiedlichen Interessenten mit Rat und Tat zur Seite. Hier eine kleine Anekdote, dort ein kleiner Scherz. Wer Krippahl in seinem Metier beobachtet, kann schwerlich erahnen, dass hinter seiner fröhlichen Fassade eine Biographie steckt, die kaum einen Schicksalsschlag ausließ. Ob Krippahl ohne die EMMAUS-Gemeinschaft heute noch leben würde, ist zumindest fraglich.
„Ich kann dir nicht helfen, aber wenn du eh nichts mehr vom Leben erwartest, dann hilf du mir dabei, anderen zu helfen.“

„EMMAUS hat mein Leben gerettet“, sagt Alexander Krippahl. Heute könnte er glücklicher kaum sein
Krippahls Vita ist ein Stück weit exemplarisch für viele Lebensläufe der Bewohner des sozialen Vereins. Sie alle eint das Joch der Bedürftigkeit und die Sehnsucht nach Gemeinschaft, Halt und geordneten Strukturen. Ursprünglich ist das EMMAUS-Konzept im Nachkriegsfrankreich vom Kapuziner-Mönch und damaligen Parlamentsabgeordneten Abbè Pierre entwickelt worden. Es heißt, er habe seinerzeit zu einem lebensmüden Mann gesagt: „Ich kann dir nicht helfen, aber wenn du eh nichts mehr vom Leben erwartest, dann hilf du mir dabei, anderen zu helfen.“ Bis heute fußt die Kernphilosophie der Organisation auf diesem Satz: Bedürftige bilden eine Gemeinschaft, um durch gemeinsame Arbeit sich und anderen zu helfen. Rasch entwickelte sich aus der Pariser Keimzelle eine internationale Bewegung mit Ablegern in zahlreichen deutschen Städten. Elisabeth Kreul, Gründerin der EMMAUS Gemeinschaft Krefeld e.V., lebte nach dem Abitur einige Jahre in Frankreich, wo sie mit dem aus ihrer Sicht revolutionären Konzept in Berührung kam. Zurück in Deutschland, 1992, gründete sie die niederrheinische Dependance nach französischem Vorbild. „Das war gar nicht so einfach“, sagt sie mit heiserer Stimme, „ich war es aus Frankreich gewöhnt, dass sich viele Menschen bewarben, aber wir mussten EMMAUS in Krefeld erst einmal bekannt machen, ein Wohnhaus und eine Halle für den Verkauf finden. Das hat viel Kraft und Zeit gekostet.“

Elisabeth Kreul hat die EMMAUS Gemeinschaft Krefeld e.V. gegründet
Heute, genau 25 Jahre später, leben zehn Mitglieder zusammen mit Elisabeth Kreul fest in einem großen Stadthaus in Schrittweite des Lagerverkaufs. Dazu gibt es fünf Festangestellte, die täglich zur Arbeit erscheinen. Der Alltag der zehn Bewohner folgt einem klaren Ablauf. Nach dem Frühstück steht die Arbeitsbesprechung an. Kreul delegiert die Aufgaben, danach wird ausgeschwärmt. Während die einen zu einer Wohnungsauflösung aufbrechen, sorgen andere im Geschäft für Ordnung, wieder andere kümmern sich derweil um die Verwaltung. Durch die Wohnungsauflösungen und den anschließenden Verkauf der mitunter wertvollen Antiquitäten im eignen Second-hand-Shop verdient der Verein nicht nur so viel Geld, dass er sich selber tragen kann, sondern hat überdies Mittel übrig, die in andere soziale Projekte investiert werden. So unterstützt EMMAUS derzeit Organisationen in Rumänien und Litauen. Dazu unterhält der Verein den Tagestreff auf der Tannenstraße, wo Obdachlose eine warme Mahlzeit und ein paar schöne Stunden geschenkt bekommen. Markus Lechner, der einst selbst zu EMMAUS kam, hat gleich neben dem Geschäft den Verein „Anstoss“ gegründet, der es sich zur Aufgabe macht, Langzeitarbeitslosen eine neue Perspektive im Gartenbau sowie durch die Aufbereitung und den anschließenden Verkauf von Fahrrädern zu bieten. „Die beiden Konzepte korrespondieren sehr gut“, sagt Kreul, „ein Stück weit haben wir damit ein Zentrum für jene geschaffen, die durch das gesellschaftliche Raster gefallen sind.“
Wenn pünktlich um 12:30 Uhr zur Mittagspause gerufen wird, strömt beinahe das gesamte EMMAUS-Team zurück ins Wohnhaus. Während die einen im gemeinsamen Aufenthaltsraum Billard spielen, macht Jürgen (Name von der Redaktion geändert) das Essen. Jürgen ist nun fest als Koch eingeteilt, da er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr so schwer heben kann, wie er es gerne möchte. Anschließend wird das Essen auf einer großen Tafel im Esszimmer angerichtet. Auf ein Gebet verzichtet die Gemeinschaft, denn Religion spielt hier keine Rolle, auch wenn der Gründer der Bewegung ein Geistlicher war. Christliche Grundsätze sind bei EMMAUS von humanistischen Werten abgelöst worden. Es sitzen Christen neben Muslimen und Atheisten an einem Tisch. Trotz aller Unterschiede betrachten sich alle gegenseitig als Familie. Es wird gelacht und der bisherige Tag besprochen. Maria, ein ehemaliges Straßenkind aus Rumänien, die im Rahmen eines Austauschprojekts nach Deutschland gekommen ist, räumt den Tisch ab und verbessert bei einem Schwätzchen mit Geschäftsführerin Kreul ihr Französisch, das in der Gemeinschaft beinahe genauso viel gesprochen wird wie Deutsch.

Unterschiedliche Gesichter und verschiedene Biographien werden bei EMMAUS zu einer Familie
Bevor der Second-hand-Shop pünktlich für die schon Wartenden die Türen öffnet, öffnet Alexander Krippahl sein Herz und lässt dabei tief auf die Gründe blicken, die ihn einst in die Bedürftigkeit abrutschen ließen. „Meine Eltern waren beide Alkoholiker“, erzählt der Mann mit der warmherzigen Aura und blickt auf den Boden. „Sie haben mich immer klein gehalten und für dumm erklärt, weil ich eine Form von Epilepsie hatte und deswegen nur zur Sonderschule konnte. In der Folge hatte ich schon immer ein geringes Selbstbewusstsein und tat mich schwer, beruflich Fuß zu fassen. Als dann um die Jahrtausendwende plötzlich mein Vater starb, die Wohnung, in der ich lebte, ausbrannte und ich dazu auch noch Probleme mit einer Frau hatte, legte sich bei mir im Gehirn ein Schalter um: Mir war einfach alles scheißegal!“ Eineinhalb Jahre lebte Krippahl anschließend auf der Straße. Jeden Tag hatte er Angst, ausgeraubt, überfallen oder geschlagen zu werden. Trotzdem habe er in dieser Zeit nie zur Flasche gegriffen oder Drogen genommen, das beteuert er – lebensmüde sei er trotzdem gewesen. Dann kam EMMAUS. „Ich habe über einen Bekannten von EMMAUS erfahren und bin einfach hierher gekommen. Ich war sofort begeistert von der Solidarität und Freundschaftlichkeit“, erinnert sich Krippahl, der heute zu den besten und engagiertesten Mitarbeitern gehört. „Die Gemeinschaft hat mir das gegeben, was ich zuvor nie hatte: Halt, Stabilität, Anerkennung und Wertschätzung“, so Krippahl mit leuchtenden Augen. Stück für Stück erholte sich seine geschundene Seele und sein Selbstvertrauen wuchs so weit, dass er sich heute sogar auf Theaterbühnen stellt und freie Monologe zum Besten gibt. Von seinem versierten Umgang mit Kunden und Möbeln einmal ganz zu schweigen. In Krippahls Biographie bündeln sich nicht nur zahlreiche Ursachen, die Menschen Teil der Gemeinschaft werden lassen, sondern sie zeigt auch, was EMMAUS zu leisten im Stande ist. Aus zertretenen Pflänzchen werden durch Hilfe zur Selbsthilfe starke Bäume mit tiefen Wurzeln.
Um 25 Jahre EMMAUS und damit in gewisser Weise auch das Leben an sich gebührend zu feiern, lädt die Gemeinschaft am 16. Juli zur großen Geburtstagsfeier an die Peter-Lauten-Straße 19 ein. Bei einer leckeren Geburtstagstorte und Musik der Coverband „DyeWorks“ dürfen sich alle Interessierten selbst ein Bild davon machen, wie es EMMAUS in einem Vierteljahrhundert gelungen ist, einen sozialen Mikrokosmos der Gerechtigkeit zu schaffen. Würde sich alle daran ein Beispiel nehmen, wäre die Welt wohl bald ein Ort der Hoffnung.
EMMAUS Gemeinschaft Krefeld e.V. Peter-Lauten-Straße 19 47803 Krefeld Tel.: 02151-396795 www.emmaus-krefeld.de info@emmaus-krefeld.de