Es gehört zu den unbequemen Wahrheiten unserer Zeit, dass der Wohlstand der westlichen Industrienationen nicht zuletzt auf einer Ausbeutung der sogenannten Entwicklungsländer fußt. Hier, auf der privilegierten Seite des Systems, merkt man davon nichts, denn längst sind die Handlungsketten der globalisierten Welt viel zu lang und undurchsichtig geworden. Es ist leicht, die Augen vor dieser unbequemen Wahrheit zu verschließen, solange der Kaffee schmeckt und das T-Shirt günstig ist. Gerlinde Wientgen hingegen hat die Augen weit geöffnet und ihr Leben in den Dienst derer gestellt, die den Kaffee ernten und die T-Shirts nähen. 

Heiner Peters, Gerlinde Wientgen

Seit vielen Jahren ehrenamtlich im Eine Welt Laden tätig: Heiner Peters und Gerlinde Wientgen

 

Im kleinen Ladenlokal am Westwall herrscht rege Betriebsamkeit. Kunden, Mitarbeiter und Freunde des Hauses gehen ein und aus. Die 81-jährige Krefelderin Gerlinde Wientgen kennt sie alle, denn sie arbeitet bereits seit 40 Jahren im Fachgeschäft für fair gehandelte Waren und nimmt den Trubel gelassen. Im Hinterzimmer des Ladens, das gleichzeitig als Lager dient und wohlig nach Kakao, Kaffee und ausgefallenen Gewürzen duftet, serviert sie einen Apfelsaft – natürlich fair gehandelt. „Auch wenn wir heute noch recht gut verkaufen, ist es eher ungewöhnlich, dass so viel los ist“, gibt sie zu und resümiert: „Die Zeiten haben sich eben gewandelt. Unser erster fester Laden, der 1978 an der neuen Linner Straße eröffnete, war damals ein Treffpunkt für politisch engagierte Jugendliche und junge Erwachsene. Es war ein Ort, der einen revolutionären Geist atmete.“ Dann schmunzelt Wientgen: „Es war auch die Zeit der langen Haare.“ Die jungen Leute und hitzigen politischen Diskussionen bleiben heute weitestgehend aus. Stattdessen sind viele Kunden und Mitarbeiter von damals geblieben, die das faire Warenangebot schätzen. Fair gehandelte und entsprechend zertifizierte Lebensmittel wie Kaffee, Tee, Schokolade und Kakao zieren ebenso die Regale des kleinen Ladens wie nützliche Haushaltsartikel, handgefertigter Schmuck und Textilien. „Ein Gutteil des Erlöses unserer Waren geht direkt an den Erzeuger, sodass dieser nicht nur überleben kann, sondern sein Geschäft auch langfristig ausbauen kann“, erklärt Wientgen, die auch heute noch mit einer bemerkenswerten Energie die Geschicke des Ladens leitet.

Von den Anfangstagen des Eine Welt Ladens in den ausgehenden 70er-Jahren zeugen eingerahmte Fotos von wilden Diskussionen im Ladenlokal, Demonstrationen auf den Straßen Krefelds und Reisen nach Afrika – eine turbulente Zeit. Die politischen Großwetterlagen waren dabei den heutigen globalen Spannungen erschreckend ähnlich. „Flüchtlingsströme und Ausländerfeindlichkeit, der schwelende Ost-West-Konflikt: Damals glaubte man, die 80er-Jahre seien das gefährlichste Jahrzehnt aller Zeiten. Heute hört man hingegen, dass es niemals so gefährlich war wie derzeit“, sagt die engagierte Krefelderin, während sie die Erinnerungsfotos an den Wänden des kleinen Ladenlokals betrachtet. Die allgegenwärtige Verunsicherung der 80er-Jahre war der politische Nährboden, in dem Wientgen und ihre Mitstreiter beschlossen, aktiv zu werden. Ein weiterer Grund war Wientgens Beruf. „Damals gab ich hauptberuflich Deutschunterricht für ausländische Studierende an der Krefelder Fachhochschule. Es war unglaublich interessant, so viel Kontakt mit Leuten aus ganz anderen Kulturkreisen zu haben, und meine Arbeit sensibilisierte mich für die Probleme und Sorgen dieser Menschen“, erinnert sich Wientgen an ihre Zeit als Lehrerin und ergänzt: „Ich unterrichtete Studenten aus Afrika, der Türkei, Indonesien, Griechenland, Lateinamerika und auch Flüchtlinge aus Afghanistan, die damals vor der sowjetischen Intervention in ihrer Heimat flohen. Mit vielen bin ich bis heute befreundet.“ Es war die Geburtsstunde des Ladens und politischen Treffpunkts, der prächtig florierte und 1989 in das derzeitige Ladenlokal umzog.

Während Gerlinde Wientgen in Erinnerungen schwelgt, betritt Ingrid Vogel, eine langjährige Mitstreiterin, das Hinterzimmer und hat Flyer vom Krefelder Friedensbündnis im Gepäck. „Das Friedensbündnis trifft sich hier. Es ist ein loser Zusammenschluss von Krefeldern, die auch in anderen Organisationen tätig sind wie Attac, Greenpeace oder Amnesty International“, sagt die 66-jährige Friedensaktivistin. „Der Eine Welt Laden und wir haben letztlich die gleichen Ziele: nachhaltiger Frieden, globale Gerechtigkeit und die Bekämpfung von Fluchtursachen.“ Ein wenig revolutionärer Geist weht also auch heute noch durch das Hinterzimmer am Westwall, und während die gesellschaftlichen Spannungen und Probleme von damals wieder aufkeimen, sind auch die Lösungsansätze dieselben geblieben und aktueller denn je.

Gebäude, Außenansicht

Niemand rettet gleich die ganze Welt, weil er fair gehandelten Kaffee im Eine Welt Laden kauft. Das weiß auch Gerlinde Wientgen. Doch es wäre ein gefährlicher Trugschluss, es deshalb nicht zu tun. In der Sozialwissenschaft gibt es die berühmte Denktradition des Methodologischen Individualismus. Sie besagt, sehr vereinfacht beschrieben, dass kollektive soziale Handlungen letztlich immer nur durch die Dynamik des Zusammenwirkens von Einzelhandlungen erklärt werden können. Am Anfang eines sozialen Wandels stehen also letztlich immer die Entscheidungen und Handlungen des Einzelnen. Es ist ein überraschend simples wie einleuchtendes Konzept, das jedoch leider viel zu selten beachtet wird: Der Umbruch fängt im Kleinen an.

Gerlinde Wientgen weiß auch das und leistet durch ihr Engagement ihren kleinen Beitrag für eine gerechtere Welt. Gerade zur Weihnachtszeit, in der viel von Nächstenliebe geredet wird und damit tatsächlich meist nur der üppige Gabentisch für die eigenen Verwandten und Freunde gemeint ist, sollte sich jeder fragen, ob er nicht auch einen solchen kleinen Beitrag leisten kann – und sei es nur der Kauf einer fairen Tafel Schokolade.

Eine Welt Laden, Westwall 62, 47798 Krefeld, Tel.: 02151 776376,
Mail: weltladen@gmx.de, Web: www.weltladen-krefeld.de