In der Elfrather Mühle geht es zu wie in einem Bienenstock. Gäste kommen und gehen, hunderte Gerichte verlassen die Küche und landen auf den Tischen. Dazwischen steht Maitre Ingo Sperling und unterhält sein Publikum. Scheinbar läuft alles normal im Konzert der Gaumenfreuden. Nur wer genau hinsieht, erkennt die Strapazen der vergangenen Monate im Gesicht des Dirigenten des kulinarischen Orchesters. Alles, was für die Gäste als selbstverständlich erscheint, hing zeitweise am seidenen Faden. Zwei aufeinanderfolgende Schicksalsschläge ließen die Mühlenräder im Sommer für einen Moment stillstehen.

Maitre Ingo Sperling
Sperling und Wienen schütteln synchron den Kopf. Es fällt ihnen nicht leicht, über die wohl schwerste Phase ihres Lebens zu sprechen. Jeden Tag stellen sie ihre ganze Kraft in den Dienst ihrer Gäste. Angetrieben vom perfekten Ergebnis, opfern sie sich seit Jahren auf. Dass dies einmal Konsequenzen haben würde, wussten beide. Doch es schien ein Damokles-Schwert in ferner Zukunft zu sein. Mitte Juni, just zum Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft, schoss es herab; unvermittelt und hart.
Es ist ein sonniger Tag, als der Prolog eines Dramas beginnt, das selbst in der Traumfabrik Hollywoods als dramaturgisch überzogen in der Mottenkiste gelandet wäre. Der sonst unter Hochdruck arbeitende Küchenchef hat endlich einmal einen halben Tag frei. Er fährt mit seiner Tochter auf ein Fußballturnier. Nichts deutet in den Mittagsstunden darauf hin, dass irgendetwas nicht stimmen könnte. „Abends habe ich dann Kreislaufprobleme bekommen“, erzählt Wienen, „ich habe mich auf die Couch gelegt, um mein Schlafdefizit auszugleichen. Wenig später wurde ich kurzatmig. Ich dachte zunächst, ich hätte eine allergische Reaktion, aber es wurde nicht besser. Auf Drängen meiner Frau sind wir ins Krankenhaus gefahren, wo einige Untersuchungen stattgefunden haben. Ich selbst wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht genau, was eigentlich mit mir nicht stimmte. Dann stellt sich heraus: Die Lage ist ernst, sehr ernst.“
Wienens Herz hat massive Rhythmusstörungen, kann nicht mehr richtig pumpen. Um die genaue Ursache für seine Beschwerden zu finden, müssen die Krankenhausärzte sein Herz stilllegen und ihn anschließend reanimieren. Mehrere Male wird er so dem Tod näher gebracht, als ihm lieb ist. Nulllinie, tot – Elektroschock, wieder im Leben. Ein Horrorszenario für seine Frau und die Kinder. „Rückblickend bin ich ganz froh, dass ich gar nicht so genau wusste, was sie da mit mir machen. Jetzt bekomme ich Gänsehaut, wenn ich darüber spreche“, erzählt Wienen.
„Ich habe an meinem Körper Raubbau betrieben“
Insgesamt sechs Wochen muss Ingo Sperling seinerzeit auf den Küchenchef verzichten. Während seiner Abstinenz versucht er den Küchenbetrieb so umzugestalten, dass Wienen nach seiner Rückkehr weniger belastet wird. Der Stress, der ohnehin in der Gastronomie alltäglich ein bedrohliches Niveau erreicht, wächst derweil ins Unermessliche. Doch Sperling gibt Vollgas, für seinen Betrieb, seine Gäste und nicht zuletzt für seinen Freund, dessen Gesundheit für ihn die größte Triebfeder ist. Dann, als die Ausnahmesituation ein vermeintliches Ende nimmt, passiert das, was in einem Kinofilm dem Übereifer des Drehbuchautors zugesprochen worden wäre. „Wir saßen sonntags zusammen: Dirk, ich und unsere Frauen. Wir wollten die kommenden Wochen planen. Alles schien gut, als ich plötzlich Schmerzen im linken Arm bekam, die so stark waren, dass ich meine Uhr ablegen musste“, erzählt Sperling kopfschüttelnd. Am nächsten Tag geht der Maitre zum Arzt. Er wird geröntgt und ihm wird Blut abgenommen. Es werden erhöhte Leberwerte festgestellt. „Leider wurden diese Werte fehlinterpretiert. Fünf Tage lang habe ich mich von Arzt zu Arzt geschleppt, aber niemand hat den Ernst der Lage erkannt, bis mich schließlich ein Assistenzarzt in einem Krefelder Krankenhaus an ein EKG angeschlossen hat. Danach ging alles ziemlich schnell. 30 Minuten später wurde ich operiert“, so Sperling weiter.
Die Sorge, der Druck, die Anspannung – all das war offenbar zu viel für sein Herz. Der Infarkt wirft Sperling zu Boden. „Ich selbst habe mir viel weniger Sorgen gemacht als mein Umfeld. Für mich war das Schlimmste die Zeit nach der Operation. Dort auf der Intensivstation zu liegen, angeschlossen an zig Geräten und gefesselt an eine Bettpfanne für das Geschäft, war für mich entwürdigend“, erzählt er. „Natürlich habe ich mich auch gefragt, wie groß wohl die Wahrscheinlichkeit ist, dass uns beiden so etwas kurz nacheinander passiert, aber es steht sicherlich in einem Zusammenhang.“ 15 Kilo hat Sperling allein durch die Krankenhauskost verloren, derer sich der Genießer konsequent verweigerte. Doch für ein gesundes Leben müssen es noch mehr werden.
Der Krefelder Fliegerarzt und Internist Dr. Georg Scheuten hat die zwei Pfundskerle der Krefelder Gastroszene inzwischen unter seine Fittiche genommen. Scheuten hatte einst den Arztberuf ergriffen, weil er sah, wie ein Mediziner seinen Vater nach einem Infarkt nach Hause schickte und damit sein Todesurteil unterschrieb. Für ihn ist Sperlings und Wienens Schicksal buchstäblich eine Herzensangelegenheit. Er erklärt, was den Mühlen-Köpfen im Sommer genau passiert ist: „Herr Wienen hatte eine Herzreizleiterstörung. Vereinfacht gesagt, handelt es sich hierbei um einen Kurzschluss im Herzen. Im Normalfall wird über einen Leiter ein Impulssignal zum Öffnen und Schließen der Kammern gegeben. Bei Herrn Wienen gab es aber mindestens zwei, die sich gegenseitig störten. Das Herz konnte nicht mehr richtig pumpen und ist in eine Art Flimmern oder Flattern übergegangen. Im Rahmen einer sogenannten Katheterablation hat der Arzt den Teil des Herzens verödet, von dem die Rhythmusstörungen ausgingen. Der musste aber erst einmal gefunden werden, deswegen wurde das Herz auch auf Null gesetzt. Herr Sperling hatte einen Vorderwandinfarkt aufgrund eines verstopften Herzkranzgefäßes. Ursache dafür war ein nicht erkannter Diabetes Typ 2. Dieser ist eine chronische Stoffwechselkrankheit, die zu erhöhten Blutzuckerspiegeln führt. Der erhöhte Blutzucker schädigt langfristig Blutgefäße und Nerven. Das kann zu zahlreichen Organproblemen führen. Die Neigung zu Diabetes Typ 2 ist genetisch bedingt. Außerdem begünstigen vor allem Übergewicht und Bewegungsmangel, dass die Krankheit entsteht. Aber: Wenn das Missverhältnis zwischen Körpergröße- und gewicht behoben ist, kann der Diabetes wieder verschwinden. Bei Herrn Sperling ist mit einem Stent das verschlossene Gefäß wieder geöffnet worden. Leider ist ein Teil des Herzens trotzdem irreversibel geschädigt.“
„Rund zwei Kilogramm im Monat sollten das Ziel sein. Dann müssen wir den Langzeitzuckerwert im Auge behalten.“
Sperling und Wienen sind nachdenklich geworden. Die Angst um die eigene Gesundheit und das Leid der Angehörigen haben Spuren hinterlassen. „Ich habe an meinem Körper Raubbau betrieben“, sagt Sperling selbstkritisch. „Und ich habe sicherlich zu viel in mich hineingefressen“, fügt Wienen hinzu. Für beide wird das Jahr 2014 eine tiefe Zäsur im Leben bleiben. Und obwohl sie hoffnungslos dem Genuss verfallen sind, möchten sie etwas in ihrem Leben ändern. 2015 soll ein gesundes Jahr werden ohne neue Hiobsbotschaften. Während Wienens Herz als inzwischen gesund gilt, ist eine Änderung des Lebenswandels bei Sperling unerlässlich, will er auf Dauer die Gefahr eines erneuten Infarkts minimieren und den Typ 2 Diabetes loswerden.
Dr. Scheuten rät: „Besonders im Fall Sperlings muss Gewicht runter. Rund zwei Kilogramm im Monat sollten das Ziel sein. Dann müssen wir den Langzeitzuckerwert im Auge behalten. Aufgrund der Vorgeschichte sollte maximal mit 150 Watt und einer Herzfrequenz von 140 Schlägen in der Minute trainiert werden. Herr Wienen ist voll belastbar, hat allerdings auch ein paar Kilo zu viel auf den Rippen. Er muss vor allem mental ein wenig runter fahren.“

Küchenchef Dirk Wienen
Ganz oben auf der Liste der Veränderungen steht für Maitre und Küchenchef nun eine gesunde Ernährung. Diese lecker zu gestalten, ist für beide eine Herausforderung, der sie sich nur zu gerne stellen. Und weil sie wissen, dass es viele Menschen gibt, die insbesondere zum Jahreswechsel ähnliche Ziele haben, werden sie im Januar eine „Healthy-Food“-Reihe in die Mühle integrieren, an der sie bereits jetzt mit einer Ernährungsberaterin tüfteln. „Unser Anspruch ist es, frische und kalorienarme Speisen anzubieten, die geschmacklich nicht erkennen lassen, dass sie einem besonderen Gesundheits-Credo folgen“, erklärt Sperling. Doch es wird noch weiterreichende Einschnitte im kulinarischen Bienenstock am Rande des Golfplatzes geben. Eine Fitnesstrainerin wird den beiden Sportmuffeln Beine machen und ein Mentalcoach gibt Tipps zur Bewältigung des stressigen Alltags. Die KR-ONE begleitet sie bei diesem Eintritt in ein neues Leben auch in den kommenden Monaten und zeigt, wie die Mühlenräder wieder mächtig Fahrt aufnehmen.
Weitere Infos unter: www.facebook.com/DieElfratherMuehle