Im Schatten der alterwürdigen Kastanien an der Kaiserstraße wird ein Sommerfest vorbereitet. Fröhliche Kinder mit offensichtlichen Wir-hatten-Spaß-im-Matsch-Spuren auf der Kleidung und im Gesicht laufen über den Hof. Ein Grill wird aufgebaut. Fleißige Hände tragen Salatschüsseln und Getränkekästen herbei. Nach und nach treffen weitere Familien mit Kindern ein. Kinder jeden Alters. Kinder im Kinderwagen. Kinder, die krabbeln. Solche, die laufen. Solche, die den Kleineren beim Zerteilen der Grillwürstchen behilflich sind.
Vielleicht ist es wahr, dass Kinder unsere Zukunft sind. Und nicht etwa Roboter oder die neue iWatch. Mindestens genauso wahr ist allerdings, dass sie deshalb nicht automatisch selbst eine Zukunft haben. Auch nicht in unserer westlichen Welt. Das Schicksal ist immer noch ein nicht zu verachtender Mitspieler. Und manchmal braucht es mehrere Schultern, um ein Schicksal tragen zu können. Das, was hier aussieht wie ein ganz normales Familiengrillen, das so, oder so ähnlich in diesen Tagen überall in Deutschland stattfindet, ist etwas Außergewöhnliches. Denn diese Familien sind etwas Besonderes. Sie sind Familien auf Zeit. Und dies ist ein Treffen gleich mehrerer solcher Familien, die bereit waren, Bereitschaftspflegeeltern von Kindern im Alter von null bis drei Jahren zu werden.

Eltern auf Zeit - Entwicklungshilfe der besonderen Art

Es ist natürlich eine Binsenweisheit, dass Eltern-werden relativ leicht ist im Verhältnis zum Eltern-sein. Dennoch gibt es immer wieder Eltern, die aus den verschiedensten Gründen ihren Kindern keine liebevollen Ansprechpartner sein können oder wollen. Manchmal sind es Krankheits- oder Suchtprobleme, Beziehungsschwierigkeiten oder Überforderung. In schwereren Fällen muss von Vernachlässigung oder häuslicher Gewalt ausgegangen werden. Das Jugendamt nimmt immer dann Kinder in Obhut, wenn das Kindeswohl nicht mehr gewährleistet wird.

Josef und seine Frau sind seit 15 Jahren Eltern auf Zeit. Unterstützt und betreut werden Eltern auf Zeit in Krefeld vom Team des Kinderheims Kastanienhof. In Zusammenarbeit mit dem Jugendamt vermitteln  Bettina von Bihl und Sarah Haurand vom zuständigen Fachbereich des Kastanienhofes kleine Notfälle an Bereitschaftspflegeeltern. Sie geben den Kindern dann das, was diese in Krisensituationen am meisten brauchen: Beständigkeit, Ruhe und Liebe. „Wir suchen immer erziehungserfahrene, geduldige Eltern“, erklärt die diplomierte Sozialpädagogin Bettina von Bihl, „Menschen, die mit Herz diese Schicksale auffangen können. Die dem Leben dieser Kinder etwas Positives hinzufügen möchten.“ „Die Kinder, die wir hier betreuen, tragen alle ihr Päckchen“, ergänzt Sarah Haurand, die beim Jugendamt beschäftigt war, bevor sie ins Team des Kastanienhofes wechselte. „Je nach Alter, bekommen die Kleinen schon sehr viel mit. Insofern sind es nicht immer leichte Kinder, für die wir eine Obhut auf Zeit suchen.“ Aber ganz egal, was danach kommt – eine Rückführung zu den leiblichen Eltern oder der Übergang in eine Dauerpflegefamilie – diese guten Erfahrungen kann ihnen niemand mehr nehmen. Davon sind alle Anwesenden überzeugt.

Die Familie von Josef und seiner Frau besteht zur Zeit aus drei leiblichen Kindern, zwei  Adoptivkindern und zwei Dauerpflegekindern. Dazu kommt ein Baby auf Zeit. „Nach der dritten Schwangerschaft hatte meine Frau die Nase voll“, erzählt Josef. „Wir haben uns dann automatisch mit dem Thema Pflege und seinen Facetten auseinander gesetzt. Auslöser selbst aktiv zu werden, waren letztendlich Fernsehberichte, in denen der Bedarf eindrücklich dargestellt wurde.“ Anders als noch vor 15 Jahren ist heute allgemein anerkannt, dass eine familienähnliche Unterbringung das Beste für die Kinder ist. Ein Heim ist inzwischen die nachgeordnete Option. „So betrachtet, haben wir als Familie das Glück, diese positive Entwicklung mitgemacht zu haben“, sagt Josef nachdenklich. Neben ihm sitzt Ulli. Die 61-Jährige hat auch schon einiges an Pflegeerfahrung vorzuweisen. „Vor 100 Jahren wäre ich gerne Amme geworden“, erklärt sie strahlend. „Zu sehen, wie die Kleinen wieder ins Leben kommen und anfangen aufzublühen, das ist total schön. Dennoch kann ich sie inzwischen auch ganz gut wieder abgeben.“ Abschiede – beim Eltern auf Zeit-Dasein ein wiederkehrendes Thema. „Ich habe gelernt damit umzugehen“, so Ulli. „Auch ein regelmäßiger Austausch, wie heute hier beim Grillen, hilft uns allen sehr und ist enorm wichtig.“

„Wir als Mitarbeiterinnen des Fachdienstes sehen uns als Vermittler zwischen allen Parteien und fördern gerne ein gutes Netzwerk zwischen den Eltern auf Zeit, aber im Idealfall auch zwischen ihnen und den leiblichen Eltern der Schützlinge“, erklärt Sarah Haurand. „Das Grillen heute ist zum Beispiel ein Dankeschön-Treffen. Jeder, der kleine Kinder hat, freut sich über Austausch. Und in unserer Gegenwart muss man sich vor allem nicht erklären.“ In der heimischen Umgebung kommt es natürlich vor, dass die Nachbarn neugierig sind: Wo kommen die Kinder her? Was, schon wieder ein Neues? Diejenigen Bereitschaftspflegeeltern, die schon länger dabei sind, kennen solche Fragen bereits. Dennoch empfinden alle ähnlich: „Wenn es keine Bereicherung wäre, würden wir diesen aufwändigen Job nicht machen“, bringt Josef es auf den Punkt. Gemeinsam mit der Fachbereichsleitung und der Heimleitung des Kastanienhofes haben er und seine Familie noch jedes Kind geschaukelt. Mit ihnen wird auch abgestimmt, wie lang eine Pause zwischen zwei Eltern auf Zeit-Einsätzen dauern muss. Manchmal dauert der Ablösungsprozess länger. Dann braucht eine Bereitschaftspflegefamilie mehr Zeit, um einem neuen Notfall ihre Aufmerksamkeit und Liebe schenken zu können. Um den insgesamt 36 Bereitschaftspflegeeltern diese Zeit auch einräumen zu können, würden sich Heimleiter Jens Lüdert und sein Team über weitere Familien freuen, die bereit wären, ein Kinderschicksal mit ihnen gemeinsam ein Stück weit zu begleiten. Und einen weiteren Schutzraum zu bieten, bis eine tragfähige Zukunftsperspektive für solche Säuglinge und Kinder gefunden wird, die mehr als ein Paar Eltern brauchen könnten.

Kinderheim Kastanienhof, Fachdienst Familiäre Bereitschaftsbetreuung,
Kaiser Straße 103 a, 47800 Krefeld, Telefon: 02151 507310, 
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