Kinder mit einer Behinderung stellen den Familienalltag vor besondere Herausforderungen, geben ihm sein ganz eigenes Tempo. Dieses Tempo mag langsamer ausfallen, kann eine Familie aber unerwartet bereichern.

Die Familie Pühl lebt mit ihrer Tochter Felina und den beiden Söhnen einen herausfordernden Alltag
„Jaaaaaa!“ Lachend saust sie die Spielplatz-Seilbahn an einer Gondel entlang, ihre Augen blitzen, ihr Pferdeschwanz fliegt durch die Luft – Felina hat Riesenspaß. Der schöne Spielplatz mit der großen Outdoor-Seilbahn, auf dem sich das sechsjährige Mädchen gerade übermütig tummelt, gehört zum Bewegungskindergarten „Pfiffikus“, einem integrativen Kindergarten. Das ist der Kindergarten von Felina Pühl aus Krefeld, blonde Haare, ein hübsches Mädchen. Zur Welt gekommen mit einer Behinderung.
Es ist ein sonniger Vormittag im Februar. Katrin und Michael Pühl, 45 und 44 Jahre alt, die Eltern der kleinen Felina, stehen auf dem „Pfiffikus“-Spielplatz und sehen ihrer Tochter lächelnd beim Spielen zu. So unbeschwert wie heute fühlten sich die Pühls nicht immer. „Es tut mir leid, ich muss Ihnen etwas sagen: Bei ihrer Tochter besteht der Verdacht auf einen Gendefekt – es besteht der Verdacht auf das Down-Syndrom.“ Katrin Pühl hat die Worte noch genau im Ohr, die ihr Arzt am 21. Dezember 2009 im Krankenhaus zu ihr sprach, zwei Tage nach Felinas Geburt. Pühl befand sich damals nicht in Krefeld, sondern in Rio de Janeiro, Brasilien: „Durch den Beruf meines Mannes, der eine leitende Position bei einer Firma in Oberhausen hat, waren wir vorübergehend von Krefeld nach Rio gezogen“, erklärt Pühl. „Wir“, das sind die Pühls mit ihren Söhnen Tom und Jan, heute 15 und dreizehn Jahre alt – beide gesund.
Gesunde Menschen verfügen über 46 Chromosomen, so genannte Erbgutträger, und alle Chromosomen liegen normalerweise zweifach vor. Bei Menschen mit Down-Syndrom ist das Chromosom 21 dreifach vorhanden, und diese Überschüssigkeit zieht Verzögerungen in der geistigen und motorischen Entwicklung nach sich. Ihr Kind, ein Kind mit Behinderung? Kartin Pühl weiß noch, wie sich alles in ihr wehrte, als ihr Arzt damals das Gespräch mit ihr suchte, während sie auf dem Krankenhausbett saß, ihr Kind in den Armen. „Mein erster Gedanke war, das ist doch Quatsch!“ Kurz darauf sei eine weitere Ärztin gekommen. „Sie nahm mir mein Kind aus den Armen, untersuchte mit einer Lupe die Hände und Füße meiner Tochter“, erzählt Pühl. Die Szene wirkte absurd, surreal auf sie: „Die Ärztin zählte die Falten zwischen den einzelnen Gliedern der Finger und Zehen meiner Tochter; die Anzahl dieser Falten gibt wohl einen Hinweis darauf, ob ein Down-Syndrom vorliegt, oder nicht. Ich hatte nur Augen für meine keine Maus, dachte die ganze Zeit, das kann doch jetzt alles nicht wahr sein.“ Auch ihr Mann Michael, der wenig später auftauchte um Frau und Töchterchen aus dem Krankenhaus abzuholen, war sprachlos, ratlos. „Der ganze Lebensweg, den man für Felina schon vor sich gesehen hatte, zerbröselte von jetzt auf gleich“, erzählt Michael Pühl. „Der Arzt sagte uns, es würde drei Wochen dauern, bis wir das endgültige Ergebnis hätten. Aber ein Down-Syndrom sei wahrscheinlich, Felina habe diese typische Steckdosennase“, ergänzt Katrin Pühl, atmet aus, streicht sich eine Haarsträhne hinter Ohr. „Seine Wortwahl hat mich echt getroffen. Ich habe gedacht, wie kann er so reden. Meine Felina ist doch so hübsch, sie sieht aus wie aus Marzipan! Die nächsten Wochen mussten wir warten, diese Wochen waren nur noch fies.“ Die Pühls fuhren nach Hause, trotz aller Ungewissheit feierten sie Weihnachten mit ihren Söhnen und ihrer kleinen Tochter. Bei allem Schrecken, der ihnen in den Knochen saß, war für sie jetzt schon klar: „Felina gehört zu uns dazu – egal, was mit ihr ist.“
Dann die bestätigte Diagnose: Felina hat das Down-Syndrom. Und auch wenn die Pühls schon halb vorbereitet waren, war die Endgültigkeit noch einmal ein Schlag. Von dem sie sich aber nicht zu Boden werfen ließen. „Wir haben sofort eine Reihe von Untersuchungen angestoßen, um herauszufinden, ob Felina auch körperliche Beeinträchtigungen hat“, erzählt Katrin Pühl. Denn das Down-Syndrom geht sehr häufig mit Beeinträchtigungen von Organen einher, wie zum Beispiel Herzfehlern oder Fehlbildungen des Magen-Darmtraktes. Doch organisch lag zum Glück bei Felina nichts vor. Was kein Grund für die Pühls war, die Hände in den Schoß zu legen. Im Gegenteil: sie packten die Sache an. „Schon in der sechsten Lebenswoche haben wir Felina zur Physiotherapie angemeldet, weil Kinder mit Down-Syndrom einen schwächeren Muskeltonus haben und deshalb möglichst früh eine Physiotherapie starten sollten“, erzählt Michael Pühl: „Außerdem hatten wir erfahren, dass Bewegung die Entwicklung eines Kindes generell fördert.“ Dieses Prinzip verfolgten die Pühls auch nachdem sie aus Brasilien nach Krefeld zurückkehrten. 2013 meldeten sie ihre Felina in dem integrativen Bewegungskindergarten „Pfiffikus“an. Im „Pfiffikus“ spielen nur Kinder mit und ohne Behinderungen miteinander und bereichern sich so gegenseitig. Den Kindern stehen vor allem sogenannte „Bewegungsbausstellen“ zur Verfügung, auf denen sie in einer Schaukel, auf einer Rutsche, an einer Sprossenwand oder einem Kletterturm unter Aufsicht der einfühlsamen Betreuer ihre Körperwahrnehmung weiterentwickeln und ihre Beweglichkeit verbessern können.
„Schon in der sechsten Lebenswoche haben wir Felina zur Physiotherapie angemeldet, weil Kinder mit Down-Syndrom einen schwächeren Muskeltonus haben und deshalb möglichst früh eine Physiotherapie starten sollten.“
Der Kindergarten tut der quicklebendigen Felina sichtlich gut. Die Sonne ist fleißig an diesem Februar-Tag, schickt ihre Strahlen von einem fast wolkenlosen Winterhimmel durch die blätterlosen Zweige der Bäume rund um den Spielplatz am Bewegungskindergarten „Pfiffikus“. Gerade klettert Felina auf eine Schaukel, winkt ihren Eltern: sie sollen zu ihr kommen, sie sollen mit ihr schaukeln. Sich tragen zu lassen in ein neues Leben mit einem Kind, das einen besonderen Kindergarten besucht, eine besondere Schule besuchen wird – das alles ist für die Pühls heute in Ordnung. Denn heute wissen sie, was sie machen müssen, um klar zu kommen: eine Mitte finden. „Eine Familie, die ein behindertes Kind hat, darf dieses Kind nicht verstecken, aber auch nicht ständig das Schild ,Mein Kind hat eine Behinderung!‘ hochhalten“, sagt Katrin Pühl. „Statt dessen sollte man so natürlich wie möglich und so offensiv wie nötig mit der Behinderung umgehen.“
„Eine Familie, die ein behindertes Kind hat, darf dieses Kind nicht verstecken, aber auch nicht ständig das Schild ,mein Kind hat eine Behinderung!‘ hochhalten.“
Diese stellt den Familienalltag übrigens nicht nur vor Probleme. „Felina ist zwar langsamer als andere Kinder, ja; in die erste selbstbestimmte Phase, in der sich bei einem Kind viel ums eigene Ich dreht, kommt sie zum Beispiel jetzt mit sechs Jahren erst, während andere Kinder die schon mit vier haben“, sagt Michael Pühl. „Aber gerade weil Felina ein eigenes Tempo hat, sind wir keinem Konkurrenzdenken ausgesetzt, vergleichen wir sie nicht mit anderen Kindern.“ Und so fanden auch er und seine Frau zu ihrem eigenen Tempo. „Nach Felinas Geburt hatte ich noch überlegt, ob ich meinen gesunden Söhnen etwas antue, wenn ich sie mit einer Schwester konfrontiere, die immer ihre Hilfe brauchen wird“, gibt Katrin Pühl zu. „Aber meine Jungs kümmern sich so toll um sie. Und obwohl sie in der Pubertät sind, verhalten sie sich Felina gegenüber weiterhin total behütend – vielleicht wäre das mit einer gesunden Schwester anders.“ Eventuell liegt es aber auch an Felinas ganz eigenem Wesen: Menschen mit Down-Syndrom sind sehr harmoniebedürftig. Und im Prinzip passt auch Felina ein Stück weit auf ihre Brüder auf, erzählt Michael Pühl augenzwinkernd. „Wenn ich mich mal über meine Söhne ärgere, sie wegen irgendetwas ausschimpfe, dann steht Felina oft hinter mir, sagt ganz traurig zu mir: ,Ach Papa. Nicht mehr schimpfen. Reicht jetzt’.“