Ein Dienstagabend im Mai in der katholischen Kirche Sankt Anna in Inrath. Durch die bunten Fenster fallen die letzten Sonnenstrahlen des Tages in die gotische Basilika und scheinen zu der ruhigen Klaviermusik zu tanzen, die das Mittelschiff erfüllt. Einige junge Frauen in Ballettschuhen stehen, mit den Händen aufgestützt, an den vorderen Sitzbänken aus Eichenholz und wärmen sich mit klassischen Dehnübungen auf. Es ist die erste Probe in der Kirche für den gottesdienstlichen Tanzabend „Freiheit braucht Bewegung“ am 15. Juni.
Gemeindereferentin Anne Hermanns-Dentges und Rasmus Olders, Ballettlehrer und Tanzpädagoge der Tanzschule Zindel, beobachten die Szenerie. Beide kennen sich von ihren jugendlichen Pfadfinderaktivitäten in Hüls und haben im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Kirche im neuen Format“ (KinF) Ende vergangenen Jahres beruflich zueinander gefunden. Bereits seit 2013 organisiert das Team von KinF mehrmals im Jahr in verschiedenen Krefelder Gotteshäusern Themenabende, die nicht nur praktizierende Christen, sondern auch Menschen mit einem gerade in diesen Zeiten distanzierten Verhältnis zur katholischen Kirche zum Nachdenken und Querdenken anregen möchten.

Die katholische Pfarrkirche St. Anna wird am 15. Juni zur Bühne
Die Idee für „Kirche im neuen Format“ hatte Anne Hermanns-Dentges 2012. Im Rahmen ihrer Abschlussarbeit zur Gemeindereferentin schrieb sie eine Hausarbeit zum Thema „Entwicklung einer Angebotsreihe für Kirchenferne“. Es sollte aber nicht bei der Theorie bleiben. Bereits im Februar 2013 wurde die erste Veranstaltung, „Valentin – eine Segensfeier für Liebende“, durch- geführt. Im März war das Motto „Zu Gast“, bei dem sich Menschen zu einem „Running Dinner“ trafen, zu Alltagsthemen austauschten und im Anschluss nach dem Abendgebet ihre persönlichen Erfahrungen miteinander teilten, inklusive eines Ramazottis am Taufbecken. Im selben Jahr folgte noch ein Filmgottesdienst, bei der der Kurzfilm „Wunderbare Tage“ gezeigt wurde.
Professionelles Engagement aller Beteiligten
Bis heute hat das siebenköpfige Ehrenamtlerteam von „Kirche im neuen Format“ über 30 Abende gestaltet, unter anderem auch zur Fußball-WM und Themen wie Schlager und Reisen. Die Resonanz ist gut; das Format schafft es regelmäßig, die Kirche zu füllen. Der Eintritt ist immer frei, so wie auch beim nächsten gottesdienstlichen Abend mit rund 25 Tänzerinnen der Ballettschule Zindel. Seit November laufen die Tanzproben unter der Leitung von Rasmus Olders, der in den vergangenen Jahren gemeinsam mit Regina Zindel für vielbeachtete zeitgemäße Bühnenprogramme verantwortlich war. Auch an diesem Probenabend in St. Anna spürt man das Herzblut und den professionellen Anspruch des Choreographen.

Ein Teil des Vorbereitungsteams von „Kirche im neuen Format“ (v.l.): Anne Hermanns-Dentges, Johannes Kreggenwinkel, Rasmus Olders, Marco Nagel, Petra Grüttner
Mit aufrechtem Oberkörper und einem Rattanstock in der Hand läuft Rasmus Olders zwei rasante Runden durch das gesamte Kirchenschiff, vorbei an Beichtstühlen, Kreuzweg und Taufbecken, um schließlich vor dem Altar zu einer Gruppe Tänzerinnen zu stoßen, die, ebenfalls mit Stöcken versehen, eine Modern Dance-Choreographie zum Lied „Die Moorsoldaten“ tanzen. Dies ist eine besonders intensive Sequenz des einstündigen Programms, das aus verschiedensten Tanzstilen und Musikstücken besteht, darunter „Hello“ von Lionel Richie in einer Orchesterfassung, der „Toccata und Fuge“ von Johann Sebastian Bach und dem „Vater unser“ auf Suaheli. „Das Lied von den Moorsoldaten habe ich ausgewählt, weil wir das Thema ,Freiheit‘ damit tänzerisch sehr gut umsetzen können“, erklärt Rasmus Olders, der den geschichtlichen Kontext erläutert: „1933 wurden Hitlers politische Gegner wie Künstler und Publizisten in ein Konzentrationslager im Emsland gebracht und mussten dort mit Spaten den Torf kultivieren. In unserer Choreographie stehen die Stöcke einerseits für die Spaten, andererseits für Waffen. Wir möchten aber auch eine Brücke zur heutigen Zeit schlagen, in der rassistische Tendenzen tragischerweise auch wieder viel Gehör finden.“
Musik, Tanz und Texte transportieren die Botschaft
Biblische Passagen und freie Texte, die das Team „Kirche im neuen Format“ auswählt und vorträgt, werden durch Musik und Tanz unterstützt. „Inhaltlich orientieren wir uns an den Liedern und Tänzen“, sagt Petra Grüttner, die sich mit ihren Teamkolleginnen und -kollegen jedes Mal freut, wenn Rasmus Olders Probenvideos aus der Ballettschule schickt. „So erleben wir den tänzerischen Entstehungsprozess sukzessive mit und bekommen Anregungen für unsere Texte. Am Ende muss alles perfekt zueinander passen, damit unsere Botschaft ,Freiheit braucht Bewegung‘ rüberkommt“, resümiert Anne Hermanns-Dentges. Sie ist glücklich, so engagierte Mitstreiter zu haben wie beispielsweise Marco Nagel: „Ich möchte zeigen, dass Kirche auch anders funktionieren kann und es sich auch 2019 lohnt, sich mit christlichen Werten auseinanderzusetzen und danach zu leben.“ Christine Kreggenwinkel ergänzt: „Als Teil des KinF-Teams kann ich dazu beitragen, Mitmenschen dazu anzuregen, über wichtige Lebensthemen und den Glauben nachzudenken.“

Steinboden statt Parkett: auch eine Herausforderung für die Tänzerinnen
Und Ballettlehrer Rasmus Olders ist voll des Lobes für seine Tänzerinnen: „Alle haben sich intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt; zwei von ihnen haben sogar eigene Choreographien erarbeitet. Und alle opfern ihre Freizeit für diverse Sonderproben. Wenn man bedenkt, dass wir in den letzten fünf Wochen vor der Aufführung bis zu dreimal wöchentlich trainieren und viele „nebenbei“ ihr Abitur machen, als Ärztin oder im Schichtdienst arbeiten oder ihren Haushalt mit Kindern bewältigen müssen, ist dieses Engagement einfach großartig.“ Marina Stumm ist eine der Tänzerinnen. Die Teilnahme an dem Projekt ist für sie eine Herzensangelegenheit: „Ich bin orthodox getauft, lebe aber nach dem katholischen Glauben. Ehrlich gesagt, war ich sehr überrascht, als Rasmus uns von der Idee erzählte, denn ich hätte nicht gedacht, dass sich die katholische Kirche derart öffnet. Mit unserem Tanz können wir einen Aha-Effekt bei Menschen erzeugen, die sonst nicht in die Kirche gehen. ,Freiheit braucht Bewegung‘ heißt ja auch, sich zu öffnen und Neues zuzulassen. Das finde ich für uns als Tänzer sehr reizvoll.“
Genau das macht auch den Reiz für die Besucher aus. Anne Hermanns-Dentges bringt die Intention von „Kirche im neuen Format“ abschließend auf den Punkt: „Ohne die akuten Probleme und Diskussionen der katholischen Kirche zu ignorieren, ist es wichtig, das Wesentliche herauszuarbeiten. Eine Gesellschaft kann nur als Gemeinschaft gut funktionieren. Werte und Normen sind in unserer Gesellschaft überlebenswichtig. Und wer, wenn nicht Jesus, steht genau dafür. Wir sehen unsere Aufgabe darin, genau das für Menschen wieder besser erlebbar zu machen. Es steht völlig außer Frage, dass die Amtskirche dringend Veränderung braucht. Auch gerade in diesem Zusammenhang könnte das Thema des Abends ,Freiheit braucht Bewegung‘ wohl kaum besser passen.“
Samstag, 15. Juni, St. Anna, 20 Uhr: „Freiheit braucht Bewegung“
Samstag, 6. Juli, St. Josef, Richard-Wagner Straße 35, Mönchengladbach, 20 Uhr: „Freiheit braucht Bewegung“,
Freitag, 20. September, Herz Jesu Königshof, 18 Uhr: „Zu Gast“
Montag, 25. November, Pax Christi, 20 Uhr: Thema noch in Arbeit
Weitere Informationen bei Anne Hermanns-Dentges, Tel.: 0176-30652666