Dr. Olaf Richter, der Leiter der Krefelder Stadtarchivs, bekommt gar nicht so selten Anrufe von Bürgern, die ihm, ihrer Ansicht nach, wichtige historische Unterlagen übergeben wollen. „Da unser Auftrag, exemplarische Quellen zur Stadtgeschichte bereitzustellen und unsere Kapazitäten begrenzt sind, müssen wir gut auswählen, welche Dokumente wir wirklich in unser Archiv aufnehmen“, erklärt er. Als im Juli 2014 das Telefon klingelt, bekommt Richter ein Angebot, dass er nicht ablehnen möchte: Rudolf Susmann, ein Urenkel des ehemaligen Krefelder Oberbürgermeisters Ernst Küper (1882-1903), hat sein Haus in der Nähe von Zürich aufgeräumt und dabei alte Fotos, Dokumente und Orden seines Urgroßvaters gefunden. Diesen Nachlass übergab er am 22. August an die Stadt Krefeld. Die Dokumente, vor allem die historischen Fotos von Gebäuden, die während Küpers Amtszeit errichtet worden sind, werfen ein interessantes Schlaglicht auf eine Epoche, die der heutigen Zeit fern ist und doch erstaunliche Parallelen aufweist: Wirtschaftskrise und Steuerhöhe, Infrastrukturausbau und Verschuldung sind damals wie heute wichtige Krefelder Themen.

Dr. Olaf Richter, Leiter des Krefelder Stadtarchivs
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts befindet sich Krefeld in einer rasanten Entwicklungsphase. Hat das beschauliche Landstädtchen von 1820 noch etwa 15.000 Einwohner, sind es 1858 bereits 50.000, und im Jahr 1887 wird der 100.000. Einwohner der Seidenstadt geboren. Dabei ist das Krefelder Stadtgebiet damals noch wesentlich kleiner als heute: Hüls, Linn, Uerdingen und Fischeln gehören noch nicht dazu. Das kompakt bebaute Siedlungsgebiet ist noch nicht sehr weit über die vier Wälle hinausgewachsen. Wirtschaftliche Grundlage für die niederrheinische „Boomtown“ ist vor allem die Seidenweberei. Bereits Mitte des Jahrhunderts gibt es in Krefeld über 150 Seidenverlage. Diese zunächst sehr einträgliche Monostruktur zeigt aber bald auch ihre Schattenseiten. Konjunkturschwankungen führen zeitweise zur Verarmung weiter Bevölkerungsteile. Im Jahr 1882, als Oberbürgermeister Ernst Küper sein Amt antritt, bekommt die Krefelder Textilwirtschaft gerade die Auswirkungen einer schweren Wirtschaftskrise in den USA zu spüren. Globale Wirtschaftsbeziehungen gibt es bereits lange vor der Entstehung des Internets.
Bevor Ernst Küper Krefelds Stadtoberhaupt wird, durchläuft er eine klassische preußische Beamtenkarriere. Im Jahr 1835 in Ostfriesland geboren, dient er seinem Kaiser in mehreren norddeutschen Städten, zuletzt als Polizeidirektor und höherer Beamter, bevor er im oberschlesischen Beuthen 1870 zum ersten Mal Bürgermeister und „durch allerhöchste Kabinettsorder“ zehn Jahre später dort auch Oberbürgermeister wird. Im Alter von 45 bewirbt er sich um das Krefelder Amt und wird vom Rat einstimmig gewählt, obwohl es 14 weitere Bewerber für die Position gibt. Ein wichtiger Grund dafür ist wohl, dass man von ihm – wenige Jahre nach dem reichsweiten „Kulturkampf“ – eine moderate, ja moderierende Rolle zwischen den zumeist reformierten oder mennonitischen Fabrikanten und den vorwiegend katholischen Arbeitern erwartet. Küper selbst ist zwar Protestant, hat aber eine katholische Frau und als Oberbürgermeister in Beuthen eine katholische Stadt regiert. Die wichtigste Aufgabe des neuen OB besteht allerdings in der Bewältigung der Wirtschaftskrise. Ob Katholiken oder Protestanten – keiner möchte arm sein.
Als wichtiges Mittel gegen die Krise sieht der neue Oberbürgermeister vor allem den Ausbau der kommunalen Infrastruktur, um so bessere Rahmenbedingungen für Bürger und Unternehmen zu schaffen. Die von Küper ins Leben gerufene „Soziale Kommission“ befasst sich zugleich mit der unmittelbaren Verbesserung der Situation in Not geratener Krefelder und der Ansiedlung neuer Industrien, was vom Düsseldorfer Regierungspräsidenten als vorbildlich angesehen wird. Zwei der wichtigsten Küperschen Maßnahmen sind der Bau des Krefelder Rheinhafens (dafür muss zuerst Linn eingemeindet werden) und die Entstehung des umfangreichen Straßenbahnnetzes. Außerdem werden Schulen, Friedhöfe, Krankenhäuser, eine Feuerwache, ein Wasserwerk und das erste Krefelder Elektrizitätswerk gebaut. Das bis dahin privat betriebene Gaswerk wird für 2,7 Millionen Goldmark von der Stadt übernommen. Millionen Mark sind auch der Preis für Küpers gesamte Infrastrukturoffensive. 3,5 Millionen wurde 1887 für Schulen, das Wasserwerk und das Stadtbad ausgegeben, 1,8 Millionen für einen Friedhof und ein Krankenhaus und 11 Millionen für den Hafenbau. Die Neuverschuldung in Ernst Küpers Amtszeit beträgt insgesamt etwa 30 Millionen Goldmark, das entspricht heute 300 Millionen Euro.
Bei diesen Zahlen wundert es nicht, dass Krefeld unter Ernst Küper zu den deutschen Städten mit der höchsten Einkommenssteuer zählt. Auch die Gebühren für behördliche Leistungen werden ordentlich erhöht und der Verkauf von Gemeindevermögen wird überlegt. Die Kosten der kommunalen Baumaßnahmen sind mehr als einmal Anlass für heftige Diskussionen – in der Presse aber auch im Stadtrat. Grund dafür ist auch das zeitweise undurchsichtige Finanzgebaren der Stadtspitze: Das 1890 eröffnete Stadtbad an der Neusser Straße zum Beispiel wird mit Baukosten von 300.000 Mark geplant, 1894 kann die Stadtverwaltung immer noch nicht klar sagen, wie hoch die Kosten nun wirklich sind – deutlich höher als geplant auf jeden Fall. Da wundert es nicht, dass der Krefelder Stadtrat Ernst Küper 1893 nur mit Zähneknirschen wiederwählt. Auf 17 Ja-Stimmen kommen 27 Enthaltungen.
In der zweiten Hälfte von Küpers Amtszeit zeigen sich dann allerdings die positiven Auswirkungen seiner kostenintensiven Amtsführung. Nicht alleine, dass das städtische Gaswerk seinen Kaufpreis innerhalb weniger Jahre wieder einfährt. Die Ansiedlungsbemühungen zeigen Erfolg. Im Jahr 1900 zum Beispiel wird das Krefelder Stahlwerk gegründet und im Bereich des Rheinhafens siedeln sich mehrere Chemieunternehmen an. Die Beschäftigtenzahl außerhalb der Textilindustrie steigt. Und nicht zu vergessen: unter Küpers Ägide wird Krefeld mit der Infrastruktur ausgestattet, die eine moderne Großstadt benötigt. Nicht umsonst wird er als Vater der Krefelder Urbanisierung bezeichnet. Bleibt die uralte und immer wieder neue Frage: Können wir aus der Geschichte lernen? Sind Historiker wirklich rückwärtsgewandte Propheten? Ja und Nein! Zum einen ist die Situation Krefelds heute sicher eine völlig andere als Ende des 19. Jahrhunderts. Die Geschichte wiederholt sich nicht. Zum anderen zeigen sich in Ernst Küpers Amtszeit zweifellos Parallelen und zeitlose Fragestellungen: Wie bewältigt man eine Wirtschaftskrise – durch Sparen oder durch Investieren? Wie viele Schulden darf eine Stadt machen? Wann ist es gerechtfertigt, größere Summen für Infrastrukturprojekte auszugeben? Antworten auf diese Fragen können wir hier und jetzt sicher nicht geben. Aber wir können uns freuen, dass der Urenkel Ernst Küpers dem Krefelder Stadtarchiv den Nachlass seines Urgroßvaters vermacht hat und das wir diese Tatsache zum Anlass nehmen dürfen, unsere gegenwärtigen Probleme einmal wieder im Spiegel der Geschichte zu betrachten.