Als einsame Solistin im fremdbestimmten Chor

Eine Stimme verlangt nach dem langen, bestickten Kleid. Eine andere spottet laut über die liebgewonnen deutschen Gewohnheiten. „Entsprechen sie wirklich deiner Kultur?“, fragt sie aufdringlich. Eine dritte Stimme predigt immer wieder die tiefen Rituale im Glauben, schafft Sicherheit und rückt zugleich das Kopftuch vorsichtig zurecht. Und eine vierte Stimme ermutigt: „Mit der Häkelnadel bist du ganz bei dir. Es ist gut, dass du die Kunst für dich gefunden hast.“ Immer, wenn Nurten Kocaman in den letzten 52 Jahren in sich hineinhört, melden sich viele verschiedene Stimmen zu Wort, die versuchen, sie zu leiten oder gar zu kontrollieren. In diesem innerem Ensemble ist ein Kolorit immer allgegenwärtig – ihre Begeisterung für die Kunst. Sie ist ihr Halt, ihre Ausdrucksweise, ihre Leidenschaft und ihr Wegweiser. Gleichzeitig verleiht sie ihr aber auch eine Klangfarbe, die nicht recht zum Rest des Chores passen will und sie zur Solistin werden lässt: Als deutsch-türkische Künstlerin lebt die 52-Jährige ein Leben zwischen zwei Welten.

 

Nurten Kocaman

Nurten Kocaman

 

Nurten Kocaman wird in Deutschland geboren. Ihre Eltern kommen in den 70er Jahren aus der Provinz Kütahya aus dem Nordosten der Türkei nach Deutschland, um hier mit ihrer Familie ein neues Leben zu starten. Sie sind fleißig und arbeiten viel, um für ihre Kinder zu sorgen, und das Mädchen findet sich gut zurecht. Es schließt Freundschaften, lernt die deutsche Sprache fast wie im Flug und freut sich darauf, mit den Nachbarskindern in die Schule zu kommen. „Doch meine Eltern hatten Sorge, dass ich darüber die Kultur meiner Heimat vergesse“, beschreibt die 52-Jährige. „Ich war ein Kind, ich hatte keine Stimme.“ Und so kommt es, dass Mutter und Vater beschließen, die älteste Tochter zum Schulstart zurück in die Türkei zu schicken. Bei ihrer Tante wächst das quirlige Mädchen auf, nur in den Schulferien darf sie nach Deutschland, um ihre Eltern und ihre Schwester zu besuchen. Nach der Grundschulzeit erhält sie ein Stipendium und besucht ein türkisches Internat, um auf ihren Traum hinzuarbeiten, Lehrerin zu werden. „Und dann, in einem Urlaub in Deutschland, sagten mir meine Eltern, dass ich nicht zurück in die Türkei gehe“, erinnert sie sich. „Es gab politische Unruhen, die Türkei war unsicher geworden und ich sollte dann doch in Deutschland bleiben.“

Herausgerissen aus ihrem Freundeskreis und ihrem gewohnten Umfeld, fällt der damals 15-Jährigen der Wiedereinstieg schwer: Von den guten Deutschkenntnissen ist nur wenig geblieben. Als ambitionierte Schülerin in der Türkei geschätzt, wird ihr Abschluss in Deutschland nicht anerkannt, und durch die unterschiedlichen kulturellen Einflüsse fühlt sie sich auch in ihrer Struktur zerrissen: Das Kopftuch und die schlechten Sprachkenntnisse machen sie zur Außenseiterin zwischen den deutschen Schülern, ihre Kreativität und ihre Kämpfernatur schirmen sie von den muslimischen Jugendlichen ab. Mühsam erkämpft sie sich den Hauptschulabschluss und rückt ihren Plan, Lehrerin zu werden, mit dem Einstieg in das Berufskolleg im Bereich Hauswirtschaft und Verwaltung in weite Ferne. „Aber es gab ja keine Alternative für mich“, beschreibt sie. „Mir fehlte die zweite Fremdsprache für ein Abitur, und so kam auch ein Studium für mich nicht infrage.“ Mit 19 Jahren lernt sie ihren zukünftigen Mann kennen und heiratet bald. „Spät für ein türkisches Mädchen“, sagt sie und schmunzelt. Und so nimmt der fast vorbestimmte Lebenslauf einer türkischen, jungen Frau seinen Gang: Kocaman bekommt drei Kinder, sorgt liebevoll für ihre Familie, unterstützt ihren Mann Mesut, steht am Herd und gibt gut darauf Acht, dass, anders als sie selbst, ihre Kinder schon in jungen Jahren den Spagat zwischen deutscher und türkischer Kultur meistern. Während sie unter der Woche Krefelder Gymnasien besuchen, sind sie an den Feiertagen in der Moschee zuhause. Kocaman hört auf die Stimmen ihres Umfelds, erfüllt das traditionelle, türkische Bild der sorgenden Hausfrau, und es macht ihr Spaß. Aber gerade in stillen Momenten, wenn die Rufe durch die offenen Fenster nicht so laut sind, spielt die Melodie der Sehnsucht in ihr. Schon damals, in ihrer Kindheit in Kütahya, bewundert die Deutsch-Türkin die Frauen, die Schönes mit ihren Händen formen: Die Provinz ist für farbenfrohes Porzellan und für ausgefallene Kachelarbeiten bekannt. In ihrer Familie gibt es einige Schneiderinnen, und so wundert es nicht, dass auch die junge Frau sich immer wieder mit Stoffen und Garnen versucht. Als sie nach der Geburt ihres ersten Kindes mit der Familie nach Krefeld zieht, scheint für sie eine unsichtbare Verbindung offengelegt zu werden. „Eine Stadt wie Samt und Seide, das habe ich oft in meinem Kopf wiederholt“, beschreibt die 52-Jährige, „Krefeld und Kütahya haben viel gemeinsam.“ Denn nicht nur die wertvolle, alte Handwerks- und Kunsttradition teilen sich die Städte, sondern auch die Architektur der Straßenzüge scheint ähnlich zu sein: Ob Krefelder Südviertel oder türkische Altstadt – auf Bildern kann nur ein sehr guter Ortskenner die Häuser zuordnen. Und so kommt es, dass sich Kocaman das erste Mal seit vielen Jahren zuhause fühlt.

Aber das gute Gefühl soll nicht von langer Dauer sein: Völlig unerwartet wird Nurten Kocamans ältester Sohn tot aufgefunden. Wenig später stirbt ihr Mann Mesut nach schwerer Krankheit. Zwei Schicksalsschläge, die zu verkraften ein Kraftakt ist. Verlust kann lähmen, betäuben, alles stillstehen lassen – doch er zwingt den Menschen auch dazu, Halt zu suchen und sich selbst zu schützen. Im Fall der 52-Jährigen wird das handwerkliche Schaffen zum Verarbeitungsmechanismus. „Mir hat auch hier die Sprache gefehlt“, erklärt sie. „Ich konnte meiner Trauer keinen Ausdruck verleihen. Meine Kunst entwickelte sich dazu.“ 2015 mietet Kocaman ihr erstes Atelier an und verwirklicht sich in der Samtweberei in der Krefelder Südstadt einen Traum. Hat sie vorher ihre Utensilien in der eigenen Wohnung versteckt, um nicht durch Kommentare der Familie verletzt zu werden, findet sie hier einen Raum, der nur ihr und ihrem Schaffen gehört.

Zum ersten Mal lässt Nurten Kocaman ihre kreative Stimme ungehemmt sprechen, und sie selbst entwickelt sich fast automatisch weiter: Im Atelier entstehen wunderschöne, einzigartige Bilder aus Stoffstrukturen, aus Garn und zarten Linien. Auch das Upcycling entdeckt die Muslimin für sich: Sie verwandelt alte Schokoladenpackungen in spannende Portemonnaies und nutzt Flaschendeckel, um daraus abstrakte Bilder zusammen zu setzen. Tobt sie sich innerhalb der Samtweberei aus, spürt sie in der Öffentlichkeit Ablehnung und Skepsis: Zu traditionell orientieren sich die Frauen in der muslimischen Gemeinde, um für Kocamans Vorliebe für das handwerkliche Schaffen zu brennen, zu stark sind immer noch die Vorurteile der Deutschen, um einer Frau mit Kopftuch Gehör zu schenken.

„Wenn sich eine Frau verwirklicht, hat die Familie in meiner Kultur Sorge, dass sie vernachlässigt wird. Ich habe mit meiner Kunst da Probleme.”

„Wenn sich eine Frau verwirklicht, hat die Familie in meiner Kultur Sorge, dass sie vernachlässigt wird. Ich habe mit meiner Kunst da Probleme“, beschreibt die 52-Jährige. „Wenn ich aber auf einem Markt stehe oder in ein Geschäft gehe, um meine Bilder zu zeigen, wird nur mein Kopftuch gesehen. Oft darf ich noch nicht einmal vorsprechen.“ Für Kocaman sind die Vorurteile aus beiden Richtungen nur schwer zu ertragen: Sie selbst, so sagt sie, sieht sich als gläubige Muslimin und als sorgende Mutter, aber eben auch als eine professionelle Künstlerin, die sich nicht an ihrem Kopftuch misst, sondern ihrem eigenen Wesen, ihrer Geschichte, Ausdruck verleiht. „Einsam bin ich trotzdem nicht“, erklärt die kreative Krefelderin.

Vor Kurzem ist sie auch privat in die Südstadt gezogen und hat hinter den Wänden der Samtweberei einen Schutzraum gefunden, der ihre inneren Stimmen erfolgreich ordnet und sie so sein lässt, wie sie ist: Eine selbstbewusste, starke Frau mit Kopftuch, die zu ihrem Glauben steht, und mit dem eigenen Schaffen ihre ganz eigene Melodie komponiert.

 

 

Eindrücke von Nurten Kocamans Arbeit finden Sie online unter www.nurstil.de oder bei Atelierbesichtigungen nach Vereinbarung unter 0176-405 976 13.