
„Ich bin gerne in der Natur. Aber ich habe keine Fahrkarte, um in die Parks nach Bockum, Uerdingen oder Linn zu kommen. Aber da komme ich irgendwann wieder hin.“
Die Geschichte eines Mannes, der scheinbar alles verloren hat: bis auf seinen Lebensmut.
Ein Montagmorgen im Jahr 2013: Klaus W. wirft alles hin. In seinem Büro breitet er die Akten vor seinem Chef aus und pfeffert seinen Stift demonstrativ auf den Schreibtisch. „Ich bin krank, ich gehe jetzt nach Hause“, das sind seine letzten Worte. Was dann folgt, ist die berühmte Verkettung ungünstiger Umstände bis zur Zwangsräumung seiner Wohnung am 18. Januar dieses Jahres. Zur Zeit lebt Klaus W. in der Wohnungsloseneinrichtung der Diakonie an der Lutherstraße. Und blickt nach vorn: „Ich will raus aus meiner täglichen Einöde.“
Wir treffen Klaus W. in der Nähe der Grünanlage vom Lutherplatz. Alleine. Bewusst abseits der anderen Obdachlosen. Er möchte nicht zu denjenigen gehören, „die morgens ab 6.30 Uhr auf den Bänken sitzen und Wodka trinken“. Klaus ist gerade 62 geworden. Er sieht gepflegt aus, mit seinem grauen Bart und der modernen Brille auf dem leicht sonnengebräunten Gesicht: eine Mischung aus Kabarettist Hanns Dieter Hüsch und einem Seebär von der Küste, allerdings mit diesem sympathischen Krefelder „Singsang“-Akzent.
Der berufliche Lebensweg von Klaus W. beginnt in den siebziger Jahren ausgesprochen solide nach der Fachholschulreife mit einer Ausbildung zum Bankkaufmann. Er nimmt für kurze Zeit ein BWL-Studium auf, das er aber abbricht: „Das war nicht mein Ding.“ Er entscheidet sich fürs praktische Arbeitsleben. Über 35 Jahre lang geht er Tag für Tag in sein Büro. Er macht einige Umstrukturierungen seines Arbeitgebers mit. Seinem letzten Arbeitsplatz bleibt er über 18 Jahre treu. In seiner Freizeit genießt der Naturliebhaber Urlaube auf Amrum, Sylt oder Föhr. „Ich bin Nordsee-Fan“, sagt Klaus W.. Man kann kaum glauben, dass dieser Mann in den nächsten Jahren nicht an Urlaub denken kann.
Denn Klaus W. hat in den vergangenen Monaten alles verloren: seine Wohnung, sein Auto, Freunde, sein Selbstvertrauen, seine Gesundheit. Grund hierfür ist eine schwere Depression. Erst 2013 wurde sie diagnostiziert. Sie hat ihn physisch und psychisch zum Straucheln gebracht und sorgt noch heute dafür, dass er arbeitsunfähig ist. Klaus W. beginnt zu erzählen. Langsam: „Ich habe schon früh gespürt, dass irgendetwas nicht stimmt, es aber jahrelang verdrängt. Ich war immer der Meinung, das kriege ich schon geregelt. Ich wollte perfekt sein und bildete mir ein, dass es normal sei, vier Dinge gleichzeitig machen zu müssen.“
Irgendwann nimmt er in seiner Abteilung das sich verschlechternde Betriebsklima wahr. Klaus W. fühlt sich gemobbt: „Ich habe genau gespürt, dass Kollegen hinter meinem Rücken über mich sprachen. Trotzdem habe ich monatelang die Fehler bei mir gesucht, mich gefragt, ob ich etwas falsch gemacht habe. Ich wurde nervös, bekam eine Bronchitis, eine Nasennebenhöhlenentzündung und starke Rückenschmerzen. Das ist immer so, wenn ich Stress habe. Damals gab es die Diagnose ,Burnout‘ noch nicht. Ich bin sicher, ich war an dem Punkt.“ Das mag auch erklären, warum sich Klaus W. von Kollegen und seinem Chef nicht verstanden gefühlt hat. Denn Burnout sehen manche Experten als eine Form der Depression. Und die beeinträchtigt die Wahrnehmungsfähigkeit der Betroffenen. Heute weiß Klaus W.: seine Depression hat damals schon bestanden.
„Ich habe schon früh gespürt, dass irgendetwas nicht stimmt, es aber jahrelang verdrängt.“
Sein Arbeitgeber rät ihm Urlaub zu machen. Klaus W. verbringt drei Wochen an der Nordsee. Doch zurück im Büro geht für ihn der Stress weiter. Soweit, bis er nicht mehr kann: „Irgendetwas in mir hat reagiert. Das habe ich nicht mit dem Verstand gemacht.“ Eines Montagmorgens breitet er die Akten vor seinem Chef aus und pfeffert den Stift demonstrativ auf den Schreibtisch. „Mein Arbeitsgeber empfahl mir danach, zum Hausarzt zu gehen und mich krankschreiben zu lassen. Ich solle mir soviel Zeit nehmen, wie ich bräuchte und erst wieder kommen, wenn es mir besser ginge. Ich fühlte mich verarscht“, so Klaus W.. Verraten von den Menschen, die ihn durch Mobbing erst in diese Situation gebracht hätten. Mit Verdacht auf Depressionen wird Klaus W. krankgeschrieben. Seine Hausärztin gibt ihm die Telefonnummer einer Psychiaterin in Krefeld. „Das ist doch nur was für Bekloppte“, ist seine erste Reaktion. Und er wartet ab. „Erst nach fünf bis sechs Wochen habe ich mich getraut sie anzurufen“, erzählt er und fährt spürbar beeindruckt fort: „Sie hat nur Fragen gestellt: Was haben Sie für Symptome? Wie fühlen Sie sich? Was ist passiert?“ Ihre Diagnose: „Schwere Depression“. Die Folgen: eine Krankschreibung von vier Wochen und Antidepressiva.
„Die habe ich genommen und mich beschissen gefühlt. Zuerst habe ich mir Vorwürfe gemacht, wie es soweit kommen konnte. Aber irgendwann habe ich abgeschaltet. Das hatte Auswirkungen auf meine Beziehung. An manchen Tagen habe ich 24 Stunden aus dem Fenster gestarrt und nicht geantwortet, wenn mich meine Partnerin angesprochen hat. Nach außen war ich lethargisch, aber mein Gedankenkarussell hat sich wie verrückt gedreht. Erst als die Tabletten nach ein paar Wochen wirkten, wurde ich ruhiger.“ Später war Klaus W. vier Wochen in einer psychosomatischen Klinik in Bad Schwalbach, was ihm gut getan hat, wie er sagt. Er wurde dort arbeitsunfähig entlassen mit dem Satz: „Sie müssen zuhause noch ein paar Dinge aufarbeiten“. Mehrfach war er auch in der Kurzfristabteilung im Alexianer Krankenhaus und hat dort depressive Mitpatienten erlebt: „Manche wurden aggressiv, andere sind nicht mehr aus dem Bett aufgestanden. Aber ich wollte immer wissen, was mit mir los ist.“ Klaus W. fühlte sich dort sehr gut betreut. Er rät jedem Betroffenen, das Angebot anzunehmen. Wobei er zugibt: „Es gab auch Momente, in denen mir alles egal war.“ In dieser Zeit macht Klaus W. Schulden.
Seine Krux: Er hat einen gültigen Arbeitsvertrag, ist aber krank geschrieben. Anderthalb Jahre hat er Krankengeld bezogen. Da die Diagnose aber weiter bestand, wurde er „ausgesteuert“. Klaus W.: „Ich hatte keinen Anspruch mehr auf Leistungen und landete im Jobcenter. Um weiter versichert zu sein, beantragte ich Arbeitslosengeld I. Damit bin ich einigermaßen klargekommen. Aber ich war unvermittelbar, weil ich krank war. Vor einem Jahr habe ich gedacht, ich könnte wieder arbeiten. Ich habe eine Wiedereingliederung in Schiefbahn gemacht. Die war terminiert, aber das Weiterarbeiten danach hat nicht funktioniert.“ Klaus W. senkt die Stimme und macht eine lange Pause – die spürbar längste während des ganzen Gesprächs. Und beschreibt, warum es danach nicht weiterging: „Ich hatte Angst, dass mir eine Arbeit aufs Auge gedrückt wird, die ich in meinem Zustand nicht leisten kann.“ Mit der Kenntnis seines Krankheitsbildes ist diese Reaktion nachvollziehbar: Der Hammer der Depression hatte wieder zugeschlagen. Klaus W. wird erneut krank. Dann macht er einen schweren Fehler, wie er heute zugibt: Er ignoriert wochenlang die Ankündigung der Zwangsräumung seiner Wohnung. „Das hat mich so aus der Bahn geworfen, dass ich einfach nicht mehr zur Arbeit gegangen bin und auch nicht zum Arzt. Erst kurz vor dem Tag der Zwangsräumung habe ich meiner Psychiaterin gesagt: „Ab dem 18. Januar schlafe ich auf der Parkbank. Da hat sie geantwortet: ,Nee, im Alexianer.’“ So kam es auch. Für 12 Tage. Danach fragt Klaus W. verschiedene Bekannte, ob er für ein paar Tage bei ihnen schlafen könnte. Es hagelt Absagen. Zwei Wochen findet er Unterschlupf in der Wohnung eines 40 Jahre jüngeren Mitpatienten aus dem Alexianer. Doch dann muss er sich etwas Neues suchen: „Ich lernte den Paritätischen Wohlfahrtsverband an der Mühlenstraße kennen. Dort gibt es eine Abteilung ,Parimobil’. Die ermöglicht Patienten sogenanntes ,ambulantes betreutes Wohnen‘. Man wohnt in einer eigenen Wohnung und bekommt einen Ansprechpartner zur Seite gestellt, der in festen Gesprächsstunden mit einem notwendige, individuelle Maßnahmen durchgeht. Dazu gehören unter anderem das Stellen von Anträgen auf Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld. Der LVR genehmigt das oder nicht. Das läuft bei mir alles noch.“
Und so bleibt Klaus W. für den Übergang – er nennt diesen Lebensabschnitt „Zwischenphase“ – nur der Weg in eine der Krefelder Wohnungslosenunterkünfte. Der Lutherplatz 18 ist zur Zeit seine Bleibe. 30 Männer und drei Frauen leben dort. Morgens um 6.15 Uhr werden alle geweckt. Abends ab 19 Uhr muss sich jeder in eine Liste eintragen, um seinen Schlafplatz für die kommende Nacht zu sichern. Sein Schlafplatz liegt in einem von drei Schlafräumen mit jeweils fünf Etagenbetten für zehn Männer. Einen Spind hat Klaus W. nicht abbekommen, „die waren schon vergeben“. Deshalb lagert er seine Habseligkeiten rund ums Bett. Er schläft unten. Zwei Reisetaschen und ein Rucksack liegen unter dem Bett, fünf Plastiktüten in seinem Bett an der Wand.
In der Unterkunft gibt es einen Tagesraum mit Fernseher, Radio, Zeitungen und Gesellschaftsspielen. Und eine Küche, in der sich die Bewohner Essen zubereiten können. Das geschieht allerdings äußerst selten. Auch Klaus W. findet selten den Weg zum Herd. Er sagt: „Ich ekele mich, wenn ich Mitbewohner sehe, die zum Frühstück an einem Stück durchwachsenen Speck kauen oder eine kalte Erbsensuppe aus der Konservendose löffeln. Dadurch habe ich das Essen teilweise verlernt.“
Die meisten Bewohner verbringen den Tag draußen. So macht es auch Klaus W. Als Einzelgänger. Nur das eine oder andere Bierchen begleitet ihn. In den letzten Wochen aber bekommt er öfter Besuch. Von einem Mann aus der Welt, die früher auch seine war: Andreas Siebertz. Der 41-jährige Fischelner hat am Ostermontag mit der Initiatorin der „Krefelder Straßenhilfe“, Sabine Hundertmark, spontan Ostertüten, Kaffee und Kakao an Bedürftige verteilt. „Ich wollte mich schon immer ehrenamtlich engagieren. Meine Hilfe sollte aber ,Face to Face‘ sein. Außerdem habe ich jemanden gesucht, der aus seiner Situation raus will. Deshalb stellte mir Sabine Klaus vor.“
Andreas Siebertz hat Klaus W. später mit Kleidung versorgt und ihm zum Geburtstag ein Handy geschenkt. Manchmal lädt er ihn auch zum Essen ins Steakhaus ein. Und da kann es passieren, dass Klaus W. anderthalb Stunden hinter einem Teller mit zwei saftigen Putensteaks und Brokkoli sitzt und kaum einen Bissen herunterbekommt. Er scheint tatsächlich das Essen verlernt zu haben. Klaus W. ist glücklich, wenn er sich mit Andreas Siebertz unterhalten kann. Zu ihm hat er Vertrauen. Er ist sein einziger Freund. Und der darf auch unbequeme Fragen stellen, zum Beispiel, ob es nun mit den angekündigten eigenen vier Wänden im ambulant betreuten Wohnen klappt. Dann antwortet Klaus W.: „Ich gehe davon aus, dass es klappt. Aber ich weiß nicht, wann. Und wenn nicht, muss ich eben was anderes machen.“ Da sind sie wieder, diese tückischen Symptome einer schweren Depression, die sich in Gleichgültigkeit oder Mutlosigkeit äußern.
Andreas Siebertz würde so gerne helfen. Er habe schon die halbe Einrichtung samt Fernseher zusammen, sagt er, und er würde eine Wohnung auch gemeinsam mit Klaus W. streichen. Doch immer wieder spürt er, dass sein neuer Freund noch nicht so weit ist: „Ich darf ihn mit meinem Eifer nicht überfordern. Ich muss lernen, dass er nur in ganz kleinen Schritten wieder ins normale Leben gehen kann.“ Das möchte auch Klaus W. und nennt uns seine Prioritäten: „Für mich steht erst einmal meine Gesundheit an. Dann ein geregelter Tagesablauf mit einer Wohnung. Und ich werde auch eine Beschäftigung suchen und finden. Aber eins weiß ich heute schon: Irgendwann arbeite ich ehrenamtlich bei der Bahnhofsmission.“
Wer macht in Krefeld was?
Die Recherchen für diese Reportage haben viele Fragen aufgeworfen, die wir in der nächsten Ausgabe klären werden.
Darunter diese:
– Welche zentrale Stelle in Krefeld sollte ein Wohnungsloser als erstes kontaktieren? Welche Organisationen helfen Wohnungslosen in Krefeld?
– Warum werden die Aktivitäten nicht gebündelt? Viele Organisationen sammeln Kleider- und Essensspenden für Bedürftige.
– Ist es vielleicht sogar schädlich, die Bedürftigen damit zu versorgen, weil sie sich dann selbst nicht mehr versorgen müssen und dann ggf. das übrige Geld weniger sinnvoll ausgeben?
– Welche Hilfe ergibt überhaupt Sinn?
– Wie können sich Privatpersonen engagieren, die Wohnungslosen in Krefeld helfen möchten?

Vom Ehrenamtler zum Freund: Andreas Siebertz lernte Klaus W. im Rahmen seines ehrenamtlichen Engagement für die „Krefelder Straßenhilfe“ kennen.