Sally Perel über seine Zeit als Hitlerjunge Salomon, das Versagen der Religionen und die Schuld Israels
Er floh als Jude im Zweiten Weltkrieg vor den Nazis, wurde von ihnen aufgegriffen, log und verbrachte so mehrere Jahre als Schaf im Wolfspelz unter Feinden. Aus den Erfahrungen dieser Zeit schrieb er viele Jahre später ein Buch: Hitlerjunge Salomon – ein Bestseller. Inzwischen ist Sally Perel 91 Jahre alt. Trotzdem kämpft er weiter unermüdlich gegen das Vergessen des Holocausts und für den Weltfrieden. Im Rahmen dieses Engagements hält er zahlreiche Vorträge an Schulen, so auch in Krefeld. Wir haben am Rande seines Besuchs des Gymnasiums Fabritianum mit ihm über seine schier unglaubliche Geschichte, sein Leben nach dem Krieg und die aktuelle Lage der Welt gesprochen.
// KR:ONE: Beim Lesen Ihres Buches verfällt man zwangsläufig in ein fast chronisches Kopfschütteln angesichts der beinahe unfassbaren Häufung an Zufällen, die Ihnen das Überleben ermöglicht hat.
Perel: Auch für mich wirkt es heute noch wie ein Wunder.
//Gab es Zweifel ob der Authentizität des Buches? Oh ja, die gab es. Es liest sich ja auch wie eine aberwitzige Geschichte, aber ich weiß natürlich, dass jede einzelne Silbe wahr ist. Das Buch ist ein authentisches Dokument, bestätigt von meinen ehemaligen Hitlerjugend-Kameraden. Aber: Zweifel wurden immer wieder angemeldet. Als der Film zum Buch erschien, forderten die Filmschaffenden Deutschlands die Nominierung für den Oscar, was die Jury allerdings ablehnte. Mit der Begründung, dass die Geschichte erfunden sei.
//Zahlreiche Dokumente, die Sie auch zu großen Teilen in Ihrem Buch abbilden, belegen doch die Authentizität Ihrer Ausführungen. Ja, das stimmt. Die meisten Zweifel daran wurden auch zerstreut, als mich der Stern und der Spiegel einluden, alte Weggefährten aus jenen Tagen zu besuchen, die natürlich im Rahmen dieser Begegnung meine Geschichte bestätigten. Aber ein gewisser Kreis von Zweiflern hält sich hartnäckig.
//Ihr Buch verfolgt zwei Hauptstränge: Zum einen geht es um Ihren Überlebenskampf als Jude im Nazigewand, zum anderen stehen Schuld und Sühne derjenigen Menschen im Mittelpunkt, die mit Ihnen während Ihres Versteckspiels von der Naziideologie indoktriniert wurden. Haben Sie rückblickend Verständnis für Ihre damaligen „Kameraden“? Nur bis zu einem gewissen Punkt. Ja, ich habe selbst erfahren, wie stark der Einfluss dieses Apparates war, welch große Macht hinter der Dauerberieselung der Propaganda steckte und wie überzeugend die Indoktrinierung der damaligen Ideologie funktionierte. Alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, sei es Schule, Kultur oder Sport, waren darauf ausgerichtet, tüchtige Nazis zu erziehen. Meine damaligen Kameraden waren sicherlich in gewisser Weise Opfer dieses Systems. Und so kann ich viele Entscheidungen nachvollziehen, vielleicht sogar verzeihen, nicht aber die Entscheidung zur SS zu gehen, was früher das angestrebte Ideal war. Jeder wusste, was es bedeutet, Teil dieser Gruppe zu sein. Wer diese Entscheidung für sich getroffen hat, kann sich als Entschuldigung nicht auf das System stützen, in dem wir damals lebten. Diese Verantwortung nimmt einem keiner ab. Auch wenn man erst mit 94 Jahren vor Gericht steht.
//Wie Sie bereits erwähnt haben, sind Sie nach dem Krieg vielen Weggefährten noch einmal begegnet, die in der Retrospektive Ihre eigenen Taten verurteilten. Dennoch lassen Sie einen Prozess der Versöhnung nicht zu. Warum nicht? Entgegen ihrer Behauptungen waren wir nie Freunde, wir waren notgedrungen Kameraden, die auf einer erzwungenen Eben miteinander funktionieren mussten. Oft hörte ich: ‚Aber wir haben uns doch gut verstanden!’ Nein, das haben wir nicht. Ich habe eine Rolle gespielt, ich musste mich jeden Tag tarnen, verstecken und schützen. Hätten sie meine wahre Identität herausgefunden, so hätten sie mich getötet. Nach dem Krieg war plötzlich alles ganz anders. Jeder hat für sich beansprucht, kein Nazi gewesen zu sein. Sie behaupteten, sie hätten jüdische Freunde gehabt und ihnen geholfen. Ich weiß aber, dass das nicht stimmt. Ich glaube es einfach nicht. Es gibt für mich keinen Grund für eine Aussöhnung. Verzeihen kann ich ohnehin nur jemandem, der keine Verbrechen begangen hat. Und das weiß ich bei meinen alten Kameraden einfach nicht. Natürlich habe ich durch meine Geschichte ein viel größeres Verständnis für sie entwickelt, versöhnen oder verzeihen kann ich deswegen aber nicht.
//Sie sagen also, jede Sympathie, die Sie im Kreise der Hitlerjugend erfahren haben, galt Ihrer Rolle und nicht Ihrer Person? Ja, absolut! Ich trenne das strikt.
//Hatten Sie das Gefühl, während der gesamten Zeit in den Fängen der Nazis von einer höheren Instanz beschützt worden zu sein? Ja, obwohl ich von Religionen nichts halte. Ich bin ein frei denkender Israeli. Religionen sind Opium für die Massen. Dennoch hatte ich das Gefühl, dass mich ein Schutzengel bewacht. Wenn, wie bei meiner Geschichte, so viele vermeintliche Zufälle zusammenkommen, die dazu führen, dass man überlebt, tendiert man zu dieser Ansicht. Es waren die Worte meiner Mutter ‚Du sollst leben’, die doch stark an Jesus’ Worte erinnern, die für mich magisch waren. Aus ihnen speiste ich all meine Kraft, all meine Energie, meinen gesamten Lebenswillen.
//In der Mitte des Buches entwickelt sich eine eigentümliche Dynamik in Bezug auf Ihre Wahrnehmung der eigenen Identität, die sich sogar in der Erzählhaltung wiederfinden lässt, denn Sie beginnen irgendwann sowohl von Sally als auch von Jupp (Anm.d.Red.: Sein Alter Ego als Hitlerjunge) in der dritten Person zu sprechen. Wie lange haben Sie gebraucht, die innere Schizophrenie zwischen den Rollenbildern abzulegen? Wann waren Sie wieder eine nicht zwiegespaltene Person? Das haben Sie sehr gut erkannt. Jupp sein zu müssen, hat den Sally in mir ein Stück weit zerstört. Der Sally von früher konnte ich nie mehr werden. Um ehrlich zu sein, ist der Prozess der Selbstfindung bis heute nicht beendet. Das wird er wahrscheinlich auch nie sein. Ein Stück Jupp lebt immer in mir weiter, seine Weltanschauung, sein imaginiertes Hakenkreuz an der Brust, sein in mich eingebranntes Wesen. Ich kann nicht mehr einfach Sally sein. Ich lebe ein Doppelleben. In mir ist immer auch ein bisschen Hitlerjunge.
//Ist es also auch über so einen langen Zeitraum unmöglich, den künstlich erschaffenen Charakter des Jupps abzuschütteln? Für mich ist es unmöglich. Er hat sich zu tief in mein Unterbewusstsein eingebrannt. Jupp kommt sehr oft in mir vor, mal will er sogar dominieren.
//Auf einer Seite in Ihrem Buch schreiben Sie, dass Sie anfingen, die Rassenideologie der Nazis plausibel zu finden. Gleiches gilt für die Ansicht der Nazis, dass kranke und behinderte Menschen ausgelöscht gehören. Ja, ich fing an mich selbst zu hassen, weil ich Jude bin. Ich verfluchte den Moment, in dem ich beschnitten wurde. Und ich begann es logisch zu finden, dass die Fortpflanzung des Menschen den Gesetzen der Natur folgen muss, die vorsehen, dass alles Schwache und weniger Lebensfähige ausgerottet gehört. Ich ertappe mich noch heute dabei, dass ich ein behindertes Kind sehe und Jupp in mir aufsteht und sagt: ‚Du darfst nicht leben!’
//Was sagt dann Sally in Ihnen. Sanktionieren Sie sich selbst für solche Gedanken? Ich bin dann von mir selbst erschüttert. Der Humanist in mir beginnt dann eine Diskussion mit Jupp und sagt ihm, dass kein Kind mehr Recht auf Schutz und Liebe hat als dieses. Jupp kontert dann mit dem Argument, dass sich zum Schutze der Gesundheit der Menschheit solche Elemente nicht fortpflanzen dürfen.
//Wer gewinnt letztlich bei diesen inneren Auseinandersetzungen?Letztendlich Sally. Aber Jupp schweigt nicht.
//Die Zeit als Jupp hat Sie zu einem Meister der Tarnung und der Lügerei werden lassen. Konnten Sie diese Fähigkeiten in Ihrem dritten Leben nutzen? (lacht) So würde ich das nicht sagen, das wäre auch kein gutes Urteil über mich selbst. Aber: Natürlich hat mir die Zeit als Jupp Werkzeuge an die Hand gegeben, die ich auch später gebrauchen konnte. Ein Stück weit hat mich mein Lebensweg zu einer Enzyklopädie aller Ideologien des 20. Jahrhunderts werden lassen. Ich wurde äußerst anpassungsfähig und konnte mir leicht ein neues Leben aufbauen. Auch meine politische Haltung hat von dieser Zeit profitiert. Heute weiß ich, dass man versuchen muss, sein Gegenüber zu verstehen, selbst wenn die Differenzen unüberbrückbar scheinen.
//Sie haben Deutschland nach Ihrer Befreiung 40 Jahre lang den Rücken gekehrt. Haben Sie dennoch aus der Ferne die Nachkriegszeit und den Aufbau der BRD verfolgt? Nein, mich hat die DDR viel mehr interessiert, weil dort ein völlig neues System auf deutschem Boden entstand, das eben nicht vom Junkertum, Kapitalismus, Feudalismus, Königen oder Kaisern geführt wurde. Ein sozialistisches Projekt, das leider gescheitert ist.
//Sie sind 1990 anlässlich der Veröffentlichung Ihres Buches wieder nach Deutschland gekommen. Wie haben Sie das Land seinerzeit wahrgenommen? Ich fühlte mich wie ein vertriebenes Kind, das zurück in den Schoß seiner Mutter gelangte. Deutschland ist mein Mutterland. Für mich war diese Rückkehr wie ein Sieg des Lebens. Ich wurde verstoßen, verfolgt und fast getötet und kam als freier Mann zurück. Ein wirklich besonderes Gefühl.
//Denken Sie, dass Deutschland die Schuld angemessen aufgearbeitet hat? Ja, das spüre ich besonders in der Auseinandersetzung mit jungen Menschen. Der typische Junge der Dreißigerjahre war auf Militarismus und Heldentum fixiert. Davon merke ich heute glücklicherweise überhaupt nichts mehr. Die Jugend Deutschlands ist aufgeschlossen und äußerst friedfertig. Oft erlebe ich dieser Tage sogar, dass Schüler auf mich zukommen und mich um Verzeihung bitten. Ich sage dann immer nur: ‚Ich kann dir nicht verzeihen, weil du nichts gemacht hast.’ Aber, und das muss ich einschränkend sagen, unmittelbar nach Kriegsende und in der Folgezeit sind Fehler gemacht worden. Viele Altnazis sind Teil des Justizsystems geblieben, arbeiteten als Richter. Das hat mich eine lange Zeit sehr gestört.
//Kann denn jemand, der im Dritten Reich Schuld auf sich geladen hat, heute auf Ihre Vergebung hoffen? Das hängt von der Schwere der Schuld und dem Maß der aufgebrachten Reue ab. Ich tendiere an dieser Stelle aber zu einem Nein.
//Man könnte es, gelinde gesagt, die Ironie des Schicksals nennen, dass Sie unmittelbar nach Kriegsende nach Israel emigrierten, wo Sie ins Militär eingezogen wurden und gegen Palästinenser kämpften. Vom Opfer zum Aggressor sozusagen. Ja, ich kam aus dem Krieg und ging in den Krieg. Ich hatte gar keine Wahl. Ich wurde nach meiner Ankunft sofort eingezogen. Ich hatte, ehrlich gesagt, im Vorfeld auch gar keine Ahnung, was auf mich zukommen würde. In Europa hieß es unter den Juden immer nur, dass wir nach Palästina müssten, um dort ein eigenes Land aufzubauen. Es hieß weiter, dass dort nichts sei außer Palmen. Dort angekommen, erfahre ich, hier lebte ein anderes Volk, das wir vertrieben haben. Bis heute kann ich mich nicht damit abfinden, Bürger eines Landes zu sein, das ein anderes Volk militärisch unterdrückt. Als Holocaust-Überlebender war es mir immer wichtig, dass wir aus den Ereignissen der Vergangenheit lernen, deswegen habe ich mich der Friedensbewegung angeschlossen. Leider haben wir nicht daraus gelernt. Wir haben das, was wir selbst erfahren haben, einem anderen Volk angetan.
//Sie haben vorhin das „neue“ Deutschland gelobt, allerdings findet derzeit in unserer Gesellschaft ein spürbarer Ruck nach rechts statt. Viele erkennen in der gegenwärtigen Entwicklung Parallelen zur Phase vor dem Zweiten Weltkrieg. Wie betrachten Sie das? Dem kann ich nur absolut zustimmen. Die Parallelen zu den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts sind auffällig. Ich sage immer: Wenn ein Krieg beginnt, das wissen wir. Aber wann beginnt der Vorkrieg? Wir sind jetzt in der Phase des Vorkriegs. Der Ruck nach rechts ist in vielen Teilen Europas spürbar. Die Nato rasselt mit den Säbeln vor der russischen Grenze. Der Westen, allen voran die USA, destabilisiert viele Teile der Welt zum eigenen Nutzen. Nationalistische Bestrebungen entstehen heute aus kapitalistischen Gründen. Ja, die Welt ist ein Pulverfass im Moment.
//Sie sind also der Überzeugung, dass die aktuellen Konflikte aus wirtschaftlichen Gründen entstehen? Aus wirtschaftlichen, aber vor allem aus religiösen Gründen. Fast alle Kriege, auch in Europa, sind seit dem Mittelalter aus religiösen Gründen entstanden. Protestanten kämpften gegen Katholiken, Deutschland verfolgte im Zweiten Weltkrieg die Juden und heute bekämpft der Westen Muslime, während die sich auch noch untereinander bekriegen. Fast alle Religionen haben versagt!
//Geschätzt befinden sich derzeit 65 Millionen Menschen auf der Flucht. Rund eineinhalb Millionen Menschen suchen Asyl in Deutschland. Wie betrachten Sie die Menschen, die auf der einen Seite Ihr Schicksal teilen, auf der anderen Seite aber zu großen Teilen das Existenzrecht Israels anzweifeln? Es sind für mich in erster Linie Flüchtlinge, denen geholfen werden muss. Aber darin liegt tatsächlich eine gewisse Krux. Ich hätte nur in meinem Leben nichts gelernt, wenn ich auf Ablehnung mit Ablehnung reagieren würde.
//Wenn aus Ihrer Sicht die Religionen versagt haben, welchen Weg müssen wir einschlagen, um dauerhaften Frieden zu gewährleisten? Haben Sie dazu eine Utopie? Schafft morgen alle Religionen ab und ihr habt übermorgen Weltfrieden! Das wird wohl leider eine Utopie bleiben.
//Sie sind 91 Jahre alt und erfreuen sich bester Gesundheit. Sie haben die Anweisung ihrer Mutter (Du sollst leben) offensichtlich sehr ernst genommen. Ja (lacht)! Wie gesagt: Es waren magische Worte.
//Welche Mission treibt Sie heute noch an? Es sind zwei Missionen. Zum einen werde ich bis zu meinem Lebensende dagegen kämpfen, dass Menschen den Holocaust leugnen und Auschwitz als Lüge darstellen. Zum anderen werde ich mich weiterhin für einen Frieden mit den Palästinensern einsetzen. Ich würde mich sehr freuen, wenn ich diese Aussöhnung noch erleben könnte.
// KR:ONE: Vielen Dank für das Gespräch.
Interview: David Kordes