Glücklich der Mann, dem so etwas noch nie passiert ist. Du kommst am frühen Freitagabend mit dem Tunnelblick einer überforderten Wühlmaus von der Arbeit nach Hause und deine Verfassung entspricht der eines sanierungsbedürftigen Altbaus. Während du noch die Hoffnung hegst, dass deine Seelenruine durch die Fürsorge deiner Ehefrau vor dem Einsturz bewahrt werden könnte, kommt ihrerseits ein Satz wie eine Abrissbirne auf dich zugeflogen: „Ist Dir beim Hereinkommen nichts aufgefallen?“ Du erstarrst zur Salzsäule, denn die Bemerkung, die gerade dein Weekend-Feeling in Sekundenschnelle zertrümmert hat, ist nicht wirklich eine Frage, sondern ein geschickt formulierter Vorwurf. Sie hätte auch sagen können: „Ist Dir der schöne Herbstblumenstrauß in der Diele nicht aufgefallen?“, aber dann hättest du dich mit deinem Bambi-Blick und einem: „Sicher doch, mein Schatz, einfach wunderschön“, wieder einmal aus der Affäre ziehen können. Nein, in ihrer Enttäuschung über deine ewige Ignoranz und mangelnde Wertschätzung ihrer Leistung und Bedürfnisse will sie diesmal deinen Kopf rollen sehen. Du bist ein Wiederholungstäter, und während dich das Gefühl, ein Kubik-Schussel zu sein, schon von ganz alleine in die Knie zwingt, setzt ihre dunkle Seite der Macht noch den tragischen Remix der Desillusion oben drauf: Natürlich kannst du dich daran erinnern, dass du die neuen Ohrringe übersehen hattest, dass du nie etwas zu ihren farbenprächtigen Fingernägeln sagst, dass es dir damals nicht aufgefallen wäre, wenn sie in Moon Boots zur Silvestergala gestiefelt wäre…und…und…und. Eine dermaßen verärgerte Ehefrau verhält sich auch nicht rechtsstaatlich und deshalb hat sie schon das Urteil gesprochen, ohne dass du als Angeklagter das letzte Wort hattest. „Du liebst sie nicht mehr!“ und das von ihr dafür verhängte Strafmaß besteht bestenfalls in einem Schweigewochenende oder in einem bereits anberaumten Zug durch die Gemeinde mit ihren Freundinnen. Dabei hat sie dann auch Gelegenheit, sich mit ihren Leidensgenossinnen auszutauschen. Mit ihrem Gefühl, einen Maulwurf oder eine Blindschleiche geheiratet zu haben, steht deine Frau nämlich nicht alleine da. Sie sind allesamt Opfer selektiver Wahrnehmung, aber die hat nichts mit mangelnder Zuneigung zu tun. Sie ist auch keine schlechte Angewohnheit der Männer, sondern eine menschliche Eigenschaft. Bei der sogenannten Unaufmerksamkeitsblindheit werden nur Objekte und Details wahrgenommen, auf die sich unsere Aufmerksamkeit gerade richtet. So hatten zum Beispiel US-amerikanische Forscher herausgefunden, dass Großstädter sogar einen vorbeigehenden Mann im Gorillakostüm übersehen können. Stadtmenschen übersehen Gorillas, Männer Herbstblumensträuße und deine Frau im letzten Frühjahr die neue Stichsäge, mit der du tagelang Terrassenbretter zugeschnitten hast. Nichts für ungut, aber Trennschleifer, Schlagbohrmaschinen oder Niederquerschnittsreifen spielen in der Wahrnehmung vieler Frauen genau solch eine untergeordnete Rolle wie es Tischsets, Serviettenringe oder der neue Nagellack in den Augen der Männer tun. Wir gucken oftmals hin, ohne wirklich zu sehen, aber deshalb sind wir nicht lieblos. Zweifellos können gleiche Interessen eine Partnerschaft beflügeln, ob sie aber eine zwingende Voraussetzung für eine glückliche Beziehung sind, darüber streiten sich die Gelehrten spätestens, seitdem es Herbstblumensträuße gibt.
Ihr Wolfgang Jachtmann