Gefangen im eigenen Körper
Es ist ein stolzer Moment im Leben einer Mutter, wenn der eigene Schützling zum ersten Mal die Lippen aufeinanderlegt, den Mund öffnet und „Mama“ sagt. Auch Alex und Moritz Thevissen werden diesen Moment nie vergessen. Mit zehn Monaten hat Jonas eine einwandfreie Entwicklung hingelegt: Er zieht sich am Tisch hoch, quietscht voller Freude, wenn er durch den Raum auf Entdeckungstour startet, und schafft es langsam, seine Lippen so zu formen, dass richtige Worte aus seinem Mund herausströmen. Aber dann bemerken die aufmerksamen Eltern auf einmal eine Veränderung an ihrem ersten Kind. Jonas wirkt müde, er bewegt sich schwerfällig und hat Probleme, beim Krabbeln ein Bein zum anderen zu ziehen. Nur sechs Monate später ist nichts mehr so, wie es war. Aus dem Krankenhaus kehrt die junge Familie mit einer tödlichen Prognose zurück: Jonas dürfe nach Hause, um hier zu sterben, sagen die Ärzte. Er ist unheilbar erkrankt. Vielleicht drei oder vier Jahre kann er alt werden, alles andere wäre ein Wunder.

Obwohl die Kommunikation für Jonas sehr schwierig ist,
hat er viele Freunde
Heute sitzt Jonas fröhlich am Tisch im Krefelder Wohnzimmer. Er kann lesen, er kann rechnen und auf seine ganz eigene Art und Weise kommunizieren. Inzwischen ist er elf Jahre alt, hat unsagbar viele Freunde, ein großes Bewusstsein für Gerechtigkeit, er liebt Eishockey und Fußball und schmunzelt wie andere Kinder in seinem Alter, wenn er von Mama Alex und Papa Moritz mal wieder ermahnt wird, nicht zu viel Playstation zu spielen. Auch, wenn er anders ist, ein heller Kopf in einem unzulänglichen Körper, und auch, wenn niemand weiß, wann er seinen „Weg nach Hause zu Gott“, so wie Alex Thevissen sein unausweichliches Schicksal beschreibt, nun wirklich antreten wird: Hätte das Ehepaar auf die Ärzte gehört und hätten sie Jonas aufgegeben, dann wäre er vielleicht nicht hier. Aber Jonas ist am Leben. Und das ist das, was gerade zählt. Schon jetzt ist er ein Wunder. Der Weg dahin war für die jungen Eltern hart.
Im Krankenhaus können Thevissens fast täglich beobachten, wie sich der zehnmonatige Jonas augenscheinlich zurück entwickelt. Zuerst kann er nicht mehr greifen, dann verliert er die Kraft, um sich fortzubewegen, und anschließend verlässt ihn seine Sprache. „Es war unaufhaltsam“, erinnert sich der damals 27-jährige Moritz Thevissen. „Die Ärzte kämpften Tag und Nacht darum, eine Diagnose zu finden und Jonas zu helfen. Sie hatten selbst Kinder in seinem Alter, und alles war hoch emotional, aber wir fanden einfach nicht heraus, was Jonas fehlt.“ Das Kind wird immer schwächer und die Ärzte bereiten die junge Familie auf das Schlimmste vor, was Eltern passieren kann. „’Ihr Kind wird sterben. Und das wird nicht mehr lange dauern“, sagten sie uns, erinnert sich Alex Thevissen.
„Die Ärzte kämpften Tag und Nacht darum, eine Diagnose zu finden und Jonas zu helfen. Sie hatten selbst Kinder in seinem Alter, und alles war hoch emotional, aber wir fanden nicht heraus, was Jonas fehlt.“
Nach einigen Wochen glauben die Ärzte, eine Diagnose für den kleinen Jungen gefunden zu haben; an der Prognose ändert sie allerdings nichts. Das Aicardi-Goutléres Syndrom ist eine seltene Generkrankung: Nur rund 150 Fälle sind auf der Welt bekannt. Eine Störung der Reizweiterleitung der Nervenbahnen im Gehirn entsteht, und innerhalb der ersten Lebensmonate tauchen auf einmal Veränderungen in der Entwicklung auf, die zuerst wie ein Infekt wahrgenommen werden. Die meisten Kinder sterben daran noch innerhalb der ersten Lebensjahre. Auch für Jonas könne man nichts tun, sagt das Expertenteam und schickt die überforderte Familie einfach nach Hause. Während Moritz Thevissen versucht, durch den täglichen Weg zur Arbeit Geld in die ausgelaugte Familienkasse zu bringen, widmet sich seine Frau dem Schicksal des Jungen. Jonas hat schwere Schmerzen, krampft immer wieder, mehrmals am Tag, zusammen. Mit ihrem ganzen Körpergewicht hält die junge Mutter ihr Kind. „Ich habe vielleicht drei Stunden in der Nacht geschlafen und einfach nur versucht, das Beste für Jonas zu tun“, erinnert sie sich. „Zwischendurch fand ich mich auf dem Fußboden wieder und bin einfach unter Tränen und aus Erschöpfung eingeschlafen.“ Im Rückblick heute wisse die damals 28-Jährige nicht, wie sie die Situation gemeistert habe. Deutlich kritisiert sie dabei die Versorgungsstruktur in Deutschland. „Wir hatten keine Hilfe. Wir waren mit der Situation völlig allein“, sagt sie.
- Als Jonas erkrankte, war Alex Thevissen gerade einmal Mitte 20
- Den Spagat zwischen Job und Versorgung von Jonas zu leisten, ist für Moritz Thevissen nicht immer leicht
Das Gefühl verändert sich, als das erste Kinderhospiz in Deutschland, in Olpe, entsteht. Anders als in einem Hospiz für Erwachsene, kommen hierher Familien mit unheilbar kranken Kindern, um temporär eine Entlastung zu finden. „Urlaub“ nennen die Krefelder den Aufenthalt. Ein Ärzteteam mit unterschiedlichen Therapeuten kümmert sich um die Familie. Jonas bekommt eine Versorgung rund um die Uhr, und Alex und Moritz Thevissen finden zum ersten Mal die Ruhe, über das nachzudenken, was passiert ist. „Der Austausch mit anderen Eltern tat uns gut“, sagt Moritz Thevissen und ergänzt: „Und unser Glaube an Gott hat uns auch gestärkt.“ Schon immer ist das Ehepaar gläubig; mit der Erkrankung ihres Sohnes verändert sich die Einstellung noch einmal. Während Jonas zwar stark eingeschränkt, aber mit vollem Elan und Lebensfreude gegen die Prognose der Ärzte heranwächst, beschließen seine Eltern, nicht mehr nachzufragen. „Wir glauben daran, dass jemand anderes bestimmt, wann es für Jonas zu Ende sein wird“, erklärt seine Mutter. „Aber wir planen trotzdem so, als würde es nicht geschehen.“
Deswegen versucht das Ehepaar, dem Elfjährigen eine Kindheit zu ermöglichen, die so normal wie möglich ist. Vor einem Jahr sind die Thevissens aus Duisburg nach Krefeld gezogen, damit Jonas die Montessori-Schule besuchen kann. Im Schulleben blüht der Krefelder auf: Er ist ein guter Schüler und ständig von Klassenkameraden umringt. Ein Integrationshelfer steht ihm dort zur Seite, denn der Elfjährige ist auf einen Elektrorollstuhl angewiesen, kann seine Hände nur schwer bewegen, und auch die Sprache hat sich nicht zurückgebildet. Über Lautsprache kommuniziert er; ein Sprachcomputer hilft ihm außerdem im Kontakt mit seinen Freunden und Lehrern. Seit Kurzem bringt ihn Alex Thevissen nach der Schule einmal in der Woche zum Schlagzeugunterricht nach Oberhausen, und der Musikbegeisterte meistert das Neugelernte wie ein kleiner Profi auf den speziellen Drums. Regelmäßig besuchen ihn Freunde zuhause, denn obwohl er aufgrund seiner Behinderung nicht an Kindergeburtstagen teilnehmen oder seine Klassenkameraden in ihren Vierwänden besuchen kann, ist er ein beliebter Spielkamerad: als Torwart beim Fußball oder als Gegenspieler an der Playstation. „Es kostet uns natürlich auch viel Mühe, zu schaffen, dass Jonas am Leben ganz normal teilhaben kann“, erklärt Moritz Thevissen und ergänzt fast schüchtern: „auch finanziell.“
Während es dem Ehepaar eigentlich gegönnt sein sollte, sich komplett auf das begrenzte Familienleben zu konzentrieren, sind die Finanzen ein allgegenwärtiges Thema im Alltag, und Alex und Moritz Thevissen wirken müde und angeschlagen, wenn sie darüber sprechen. Finanzielle Hilfe durch staatliche Hand gibt es nur wenig, und wer sich aufmerksam in der Wohnung der Familie umschaut, wird merken, dass die schweren Jahre Spuren hinterlassen haben. Eine provisorische Rampe ermöglicht dem Rollstuhlfahrer die Einfahrt in die Wohnung, das Bad ist zwar mit eigenen Mitteln behindertengerecht umgestaltet worden, aber weist aufgrund eines Baupfusches eindeutige Mängel auf. Jonas‘ Zimmer ist klein und der gemeinsame Freizeitraum ist ins Wohn-Ess-Zimmer umgezogen. Auch das behindertengerechte Auto bräuchte dringend eine Generalüberholung. Immer wieder hat Alex Thevissen in den vergangenen Jahren versucht, Teilzeit in ihrem Beruf als Erzieherin und Diakonin zu arbeiten. „Aber dann hatte ich das Gefühl, Jonas nicht mehr gerecht zu werden“, sagt sie. Und Jonas brauche einfach mehr als andere Kinder. Immerhin unterstützt seit Dezember letzten Jahres Kevin, ein junger Krankenpfleger, die Familie. Aber auch diese staatliche Hilfe hat eine traurige Vorgeschichte, denn erst vor Kurzem hatte Jonas einen Rückfall.
„Auch wenn sein Kopf funktioniert, bleibt er eben ein Gefangener im eigenen Körper. Ein Körper, der jeden Tag aufgeben kann.“
Gemeinsam war die kleine Familie im „Urlaub“ im Kinderhospiz. Als Papa Moritz mit Wasserratte Jonas im Schwimmbecken tobte, setzte auf einmal die Atmung des kranken Kindes aus. Auf dem Hallenboden belebte der Vater seinen Sohn mit den eigenen Händen wieder. „Das läuft mir hinterher“, sagt der 38-Jährige und wischt sich mit den Fingern über das Gesicht. „Sein Tod war auf einmal sehr präsent.“ Auch an Jonas geht der Vorfall nicht spurlos vorbei. Der Kopf des Jungen funktioniert einwandfrei, und so ist es kein Wunder, dass Albträume und Ängste auf den Vorfall folgen. Aber die größte Angst des Todkrankens ist nicht der eigene Tod, sondern nicht helfen zu können, wenn seinen Liebsten, seinen Beschützern, seinen Versorgern, etwas zustößt. „Jonas zittert, wenn er daran denkt, dass einer von uns auf dem Boden liegt und stirbt und er nichts tun kann“, sagt Alex Thevissen tonlos. „Auch wenn sein Kopf funktioniert, bleibt er eben ein Gefangener im eigenen Körper. Ein Körper, der jeden Tag aufgeben kann.“
Und gerade deswegen versuchen die Thevissens seit dem Vorfall, jeden Tag als Familie noch mehr zu genießen und Jonas‘ Träume zu verwirklichen. Mit den finanziellen Mitteln, die sie haben und der unsagbaren Willenskraft, es Jonas so schön wie möglich zu machen, leisten sie Erstaunliches. Erst vor wenigen Wochen hat der Junge zum Beispiel Bodyflying ausprobiert. Auch für das Schlittschuhfahren hat die Familie eine Hilfe gebaut, die es ermöglicht, dass Jonas aufs Eis kann. „Und dann ist da noch der KEV“, beschreibt Moritz Thevissen. Eine Liebe, die der Vater als Urkrefelder an seinen Sohn weitergegeben hat. „Aber um Jonas‘ Wunsch zu erfüllen, regelmäßig zum KEV zu gehen, sind die Karten für uns einfach zu teuer.“ Die Plätze für Rollstuhlfahrer seien seit Jahren durch Dauerkartenbesitzer belegt, nur einmal in den letzten Jahren hätten Vater und Sohn ein Spiel besuchen können. Trotzdem liebt der Junge die Krefelder Pinguine, verfolgt immer wieder die Spiele am Fernseher, regt sich lauthals mit auf, wenn der Puk einfach nicht ins Tor geht und feuert seinen Lieblingsspieler, Daniel Pietta, an. Durch den Buschfunk der KR-ONE-Redaktion hat davon auch der Eishockeyverein Wind bekommen und Jonas sogar mehr als seinen Wunsch erfüllt: Gemeinsam mit Papa Moritz und Oma Elisabeth und begleitet durch Redaktionsmitglieder der KR-ONE sitzt Jonas Ende Februar mit großen Augen auf der Spielerbank in der Yayla-Arena.
Der KEV hat den Elfjährigen eingeladen, ein Training aus nächster Nähe zu beobachten. Immer wieder bremsen die Spieler vor der Bande, um Jonas zu grüßen, ihm die Faust als Anerkennung zuzustrecken oder, um ihn durch die Haare zu wuscheln. Jonas weiß gar nicht, wie ihm geschieht, als sich dann auf einmal Stürmer Mathias Trettenes auf die Spielerbank beugt und dem Jungen ein Trikot überreicht. „Mathias hat uns gebeten, Jonas ein Trikot aus dem Fanshop zu besorgen“, erklärt Teammanager Robin Kohl. „Es war seine Idee, dass er ein Trikot mit nach Hause nehmen soll.“ Die Anerkennung des Norwegers zaubert Jonas ein breites Lächeln aufs Gesicht. Unfähig, seine Worte selbst an den Spieler zu richten, übersetzt sein Vater grinsend: „Jonas möchte das Trikot morgen in der Schule anziehen und ein bisschen angeben.“ Noch größer werden die Augen des Jungens, als Trainer Brandon Reid ihn einlädt, mit seinem Rolli die Spieler in die Kabine zu begleiten. Hier hat das Team kurzerhand eine Überraschung vorbereitet und überreicht dem kleinen Kämpfer einen unterschriebenen Eishockeyschläger. „Den kannst du dir übers Bett hängen“, sagt Daniel Pietta, klopft Jonas auf die Schulter und ergänzt schmunzelnd. „Und dass du uns ja die Daumen für die Playoffs drückst.“
- Ein Tag, den Jonas nie vergessen wird: Er trifft sein großes Idol Daniel Pietta
- Das Team hat dem 11-Jährigen ein Trikot geschenkt
Als Jonas die Kabine wieder verlässt, liegt Rührung über dem Raum. Laut und deutlich hat der Elfjährige die Worte „voll cool“ zur Verabschiedung gesagt. Aber trotz der Fröhlichkeit, die im Gesicht des Krefelders erstrahlt, sieht man dem Jungen eben auch an, wie stark die Krankheit ist, die in ihm tobt. Und gerade das ist die Krux im Leben des Jungen: Jonas Thevissen ist tödlich erkrankt und alt genug, es zu verstehen. Er weiß, dass er ein Kämpfer ist. Ein Kämpfer in einem Duell, das er nicht gewinnen kann.
HELFEN SIE JONAS
Jonas‘ Traum ist es, eine Delfintherapie zu machen. Schon einmal hat ein dreiwöchiger Aufenthalt bei den Delfinen seinen Krankheitsverlauf positiv beeinflusst. Die Kosten für die Therapie liegen bei 16.000 Euro. Um Jonas seinen Wunsch zu erfüllen, sind die Eltern auf Spenden angewiesen. Und auch im Alltag benötigen sie finanzielle Hilfe, um zum Beispiel das Bad instandzusetzen oder Reparaturen am Auto vorzunehmen. Eine Spendenquittung kann die Familie leider nicht ausstellen, sie nimmt mit großer Dankbarkeit aber jede einzelne Spende als Geschenk entgegen.
Bitte überweisen Sie Ihre Spende unter dem Stichwort „Krefeld hilft Jonas“ an die Familie Thevissen unter folgender IBAN-Nummer: DE37 3205 0000 3098 4059 74