„Wir wollen die Menschen trotz aller Komik berühren“

 

Eine hölzerne Bühne mit vier breiten Stufen. Darauf künstliche Buchsbäume, ein Doppelschaukelstuhl aus weißem Eisen, ein Regal mit britischen Alkoholika, zwei silberne Wärmeglocken auf zwei Tellern und ein Grammophon: das ist die Kulisse, in der das Ensemble der Komödie „Charleys Tante“ derzeit im Neersener Biedemannsaal probt. Mittendrin: Schauspieler und Kabarettist Kalle Pohl mit Kleid, Hütchen und Damenschuhen.

Es ist eine der ersten Probenwochen, die das Ensemble unter Intendant und Regisseur Jan Bodinus absolviert. Das 120 Seiten starke Drehbuch haben die sieben Schauspieler seit dem vergangenen Jahr durchgearbeitet, Texte gelernt und Texte verändert. Letzteres gilt vor allem für Kalle Pohl, der die Hauptrolle übernimmt. Den sympathischen 66-jährigen Lockenkopf aus Köln kennt man als langjährigen Mitstreiter von „7 Tage, 7 Köpfe“ mit Rudi Carrell und als Solo-Komödiant.

Kalle Pohl: „Nicht nur das gesprochene Wort, son- dern auch der Ausdruck, sind immens wichtig.“

Vor seiner öffentlichen Karriere hat Kalle Pohl, der aus einem musjkalischen Elternhaus mit eigener Gastwirtschaft stammt, eine Ausbildung zum Polizei-Hauptwachmeister absolviert, dann aber lieber doch klassische Gitarre an der Musikhochschule Köln studiert und einige Musikbücher herausgegeben, unter anderem für Gitarre und Akkordeon. Diese Leidenschaft kann er auch in einigen Szenen von „Charleys Tante“ ausleben, die es nur in der Neersener Fassung geben wird. Möglich macht das auch die einzigartige Wellenlänge zu Regisseur Jan Bodinus. Die beiden haben sich vergangenes Jahr in Braunschweig kennengelernt, wo Kalle Pohl im Boulevardstück „Halbgott in Nöten“ einen tragikomischen Gynäkologen verkörperte. „Es war Liebe auf den ersten Blick“, verrät Pohl verschmitzt und erklärt ernsthafter weiter: „Wir haben die gleiche Humor-Ebene. Bei ,Charleys Tante‘ liegen Tragik und Komik eng beieinander. Wir möchten, dass der Zuschauer das spürt und mit der Hauptfigur mitfühlt. Eine billige Blödelparade, die nur aus Klamauk besteht, würde dem Stück und unserem Anspruch nicht gerecht.“

Viel mehr als „nur“ Schauspieler

Spätestens hier spürt man, dass Kalle Pohl viel mehr als „nur“ Schauspieler ist. Er selbst drückt es so aus: „Ich bin ein notorischer Verbesserer und habe an unserem Drehbuch, das bereits eine Überarbeitung des Originals ist, einiges verändert und – wie der Regisseur sagt – auch verbessert.“ Das betrifft manche Texte, aber auch die Körpersprache von uns Schauspielern. „Manchmal genügt anstelle eines ganzen Satzes ein einziges Wort, um die Komik einer Situation noch stärker herauszustellen. Manchmal funktioniert es auch nur durch eine überzeichnete Geste“, verrät Kalle Pohl. Bis zur Premiere am 23. Juni wird es also noch häufiger vorkommen, dass er seinen Schauspielkollegen „die Änderung der Änderung“ präsentiert – immer mit dem Ziel, pointierter zu spielen.

Das ist auch die Herangehensweise von Jan Bodinus, der von seinem Hauptdarsteller als „beinhart“ bezeichnet wird. Wurden in den ersten beiden Probentagen nur drei Drehbuchseiten freies Spiel eingefordert, waren es ein paar Tage später bereits 22. Danach ist Zeit für Wiederholungen – und weitere Änderungen… Kalle Pohl lebt gut mit diesem Probenstil, gibt allerdings zu, dass er als Schüler überhaupt kein Typ fürs Pauken gewesen sei: „Damals habe ich Schillers ,Glocke‘ nicht freiwillig gelernt. Heute lerne ich etwas, das ich lernen möchte.“  Also arbeitet sich der 66-Jährige, ebenso wie seine Kollegen, fleißig durch jede einzelne Seite des Drehbuchs – inklusive jeder noch so kleinen Regie-Anweisung, auf deren Umsetzung Regisseur Bodinus mit Argusaugen und -Ohren achtet. Denn jeder Atmer, jede Gedankenpause, hat eine Bedeutung. Wie damals bei „Dick und Doof“.


Zwei Profis, die sich gegenseitig bei der Arbeit puschen: Schauspieler Kalle Pohl und Regisseur Jan Bodinus

 

Kalle Pohls Vorbilder: Stan Laurel und Oliver Hardy

Stan Laurel und Oliver Hardy sind die großen Vorbilder von Kalle Pohl, der ein wenig ihres Humors in seine Rolle einbringen wird: „Die beiden waren für mich die größten Komiker der Welt: Sie hatten ein Milliarden-Publikum und wurden überall verstanden. Natürlich fiel ihnen immer ein Haus über dem Kopf zusammen, oder ein Auto ging kaputt – aber neben aller Komik wurde immer auch die Tragik der jeweiligen Situation deutlich.“ Und ohne es explizit auszusprechen, erklärt Kalle Pohl damit den Ausdruck „sich totlachen“. Oliver Hardy hat übrigens 1915 in der ersten Verfilmung von „Charleys Tante“ die Hauptrolle gespielt, noch weit vor Peter Alexander und Heinz Rühmann. Eine weitere Mini-Hommage widmet Kalle Pohl in seiner Rolle seinem zweiten Idol, Louis de Funès. Allen gemeinsam sei die Kunst, über sich selbst lachen zu können – etwas, das Kalle Pohl bei vielen Kabarettisten der heutigen Zeit schmerzlich vermisst: „Ich bin kein Freund von Menschen, die von oben herab nur austeilen und alles besser wissen.“ Man darf sich also freuen auf lustige und tiefe Momente im tragikomischen Leben von Charleys Tante alias Kalle Pohl.

„Charleys Tante“: 23. Juni bis 10. August auf der Freilichtbühne Neersen
www.festspiele-neersen.de, Kartentelefon: 02156-949-132

 

Der Inhalt

„Charleys Tante“ ist eine britische Komödie von Brandon Thomas, die um das Jahr 1890 spielt. Regisseur Jan Bodinus verlegt die Handlung ins England der 1920er Jahre und verschlankte die Besetzung von ursprünglichen zwölf auf sieben Rollen. Die Ausgangssituation: Die Studenten Charles und Jack sind schwer verliebt in Amy und Kitty, dürfen die Mädchen aber nicht ohne Anstandsdame treffen. Weil Charly’s reiche Tante aus Südamerika auf sich warten lässt, muss Gärtner Brassett in ihre Rolle schlüpfen. Da er ohnehin gerade sein Kostüm vorführt, in dem er die Rolle einer älteren Lady in einem Amateurtheater geben möchte, wird der lustige und dem Alkohol keineswegs abgeneigte Gärtner mit sanfter Gewalt zu Charleys Tante gemacht. Als Brassett immer mehr Gefallen an dieser Rolle findet und dann noch heftig vom skurrilen Colonel Sir Francis, Jacks Vater, angeflirtet wird, ist das Chaos perfekt. Zu guter Letzt findet sich auch noch Charleys echte Tante ein.