Wer „Kinderheim“ hört, denkt auch heute noch oft an triste Verwahranstalten für arme Waisenkinder, an große, kahle Schlafsäle, strenge Erzieher und freudlose Disziplin. Diesem Bild entspricht das Krefelder Marianum in keiner Weise und hat ihm wohl auch nie entsprochen. Nicht zufällig sagen viele – auch ältere – Ehemalige: „Das Marianum war sicher nicht in allem das Beste, aber das Beste, was mir damals passieren konnte.“ Das berichtet der pädagogische Leiter Heinz-Werner Knoop. Natürlich möchten Kinder fast immer lieber bei ihren Eltern leben, selbst dann, wenn diese sie gar nicht gut behandeln. Aber leider ist die häusliche Situation in manchen Familien so katastrophal, dass man die Kinder nur schützen kann, indem man sie nicht dort ihrem Schicksal überlässt. Und dann ist ein Kinderheim wie das Marianum eine absolut segensreiche Einrichtung.

Pädagogischer Leiter Heinz-Werner Knoop
Um zu illustrieren, welchen Verhältnissen manche Kinder ausgesetzt sind, erzählt Knoop gerne eine Geschichte: „Bei einer nächtlichen Notaufnahme kamen vier Brüder zu uns, der Älteste vielleicht 12 oder 13. Denen haben wir dann erst einmal gezeigt, wo sie die nächsten Tage wohnen werden und kamen dabei auch in die Küche ihrer Wohngruppe, in der ein großer Kühlschrank steht. Wie hypnotisiert blieben die Jungs vor dem Kühlschrank stehen, und der Älteste fragte, ob er mal hineingucken darf. Als er sah, dass der Kühlschrank komplett mit Wurst, Käse, Eiern, Gemüse und vielen anderen Lebensmitteln gefüllt war, fragte er mit großen Augen: ‚Und das ist alles für uns?‘ Als wir das bejahten, sagte er noch einmal zu seinen Brüdern: ‚Das ist alles für uns!‘ Bei solchen Erlebnissen läuft selbst erfahrenen Erziehern immer noch eine Gänsehaut über den Rücken.“
Dass Vernachlässigung in Krefelder Familien (und natürlich nicht nur in Krefeld) kein Einzelfall ist, können Heinz-Werner Knoop und Marianum-Geschäftsführer Norbert Niessen im KR-ONE-Gespräch bestätigen. Da gibt es zum Beispiel einen Haushalt, in dem niemand einer geregelten Beschäftigung nachgeht und ein 12-Jähriger morgens manchmal aus dem Fenster klettern muss, um zur Schule zu kommen. In anderen Familien herrscht die gesamte Nacht Lärm und Unruhe, so dass die Kinder nicht schlafen können, und leider sind auch ständiger Streit, Alkoholmissbrauch und häusliche Gewalt keine Seltenheit. Drei Mahlzeiten am Tag bekommen Kinder in solchen Familien selten, und Geld für die Schulverpflegung ist nicht vorhanden oder wird anderweitig ausgegeben. Aus diesem Grund hat das Marianum eine Kindermensa eingerichtet, in der Kinder zwischen 8 und 15 eine kostenlose, warme Mahlzeit bekommen. Zusätzlich fährt der Hausmeister jeden Morgen belegte Brötchen zu benachbarten Grundschulen, die dann in den Pausen von Lehrern verteilt werden. Das alles ist allerdings nur dank großzügiger Spenden und ehrenamtlicher Helfer möglich.
Etwa 95 Kinder leben derzeit im Marianum. Manche davon mehrere Monate oder sogar Jahre,
andere nur ein paar Tage.
Etwa 95 Kinder leben derzeit im Marianum. Manche davon mehrere Monate oder sogar Jahre, andere nur ein paar Tage. „Es kommt vor, dass eine alleinerziehende Mutter ins Krankenhaus muss und uns ihre Kinder bringt. Die bleiben dann nur ein-zwei Wochen hier“, erklärt der pädagogische Leiter. „Andere werden vom Jugendamt zu uns gebracht, nachdem eine ambulante Betreuung der Familie nicht erfolgreich war. Und wenn es am Wochenende oder nachts ‚kracht‘, dann werden uns die Kinder auch schon mal von der Polizei gebracht.“ Im Marianum leben die Kinder in sechs Gruppenhäusern, in vier Wohnungen in einem Vierfamilienhaus und Wohneinheiten im sogenannten „Hochhaus“. Darunter gibt es Kleinkindergruppen, Gruppen nur für Jungen und Mädchen ab 13 Jahren und eine Gruppe für junge Flüchtlinge. Zwei Etagen des Hochhauses sind an das Eishockeyinternat des KEV 81 vermietet. „Fast jeder hat bei uns ein eigenes Zimmer“, betont Heinz-Werner Knoop. „Ausnahmen machen wir zum Beispiel bei Geschwisterkindern, die gerne zusammen sein wollen. Schlafsäle gibt es bei uns schon lange nicht mehr.“

Marianum-Geschäftsführer Norbert Niessen
Betreut werden die Kinder und Jugendlichen von etwa 70 Menschen, die für ihre jungen Schützlinge teilweise rund um die Uhr verfügbar sind. Neben den Vollzeit-Erzieherinnen und -Erziehern arbeiten im Marianum unter anderem Verwaltungsmitarbeiter, Küchen- und Reinigungskräfte. Wobei die älteren Kinder in ihren Zimmern selbst Ordnung halten müssen. Neben den Wohnräumen gibt es einen Kunstraum, eine Nähstube, einen Unterrichtsraum und natürlich einen Spiel- und Sportplatz, der auch von Kindern aus der Nachbarschaft mitgenutzt wird. Ein vollausgestattetes Schwimmbad findet sich im Keller ebenfalls. Aus Kostengründen muss das aber derzeit trocken bleiben. Hier werden noch Spender gesucht. „Unser Kinderheim mitten in Krefeld gibt es schon seit 1857. Damals hieß es in Krefeld ‚das Waisenhaus‘“, erklärt Geschäftsführer Niessen und ergänzt: „Unser Träger ist eine kirchliche Stiftung mit dem historischen Namen ‚Katholische Armenverwaltung‘ und selbst über 260 Jahre alt. Bis zum Jahr 2000 wurde das Heim zusammen mit Ordensschwestern betreut, die uns dann aber aus Altersgründen verlassen mussten.“
„Die Probleme sind heute im Prinzip die gleichen wie früher“, weiß Heinz-Werner Knoop. „Wobei manches sich natürlich auch ändert. Nach dem Krieg gab es zum Beispiel mehr Waisenkinder, die haben wir heute fast gar nicht mehr. Heute betreuen wir dafür viele junge Flüchtlinge und helfen bei der Eingliederung in die Gesellschaft.“ Knoop arbeitet bereits seit drei Jahrzehnten für das Marianum, sein 1949 geborener Kollege Norbert Nießen auch schon seit 27 Jahren. In dieser Zeit haben beide viel Elend erlebt, aber auch genauso viele Mut machende Geschichten. „Alle hier freuen sich, dass wir unseren Kindern ein schönes Zuhause geben können“, betont Knoop. „Die Familien können wir zwar nicht auf Dauer ersetzen, aber den Kindern zumindest zeitweise einen sicheren Raum geben, ein Umfeld, in dem sie aufatmen können. Kinder, die völlig verstört zu uns kommen, sind manchmal bereits nach zwei Wochen kaum wiederzuerkennen. Unser Ziel ist es, mitten in Krefeld 24 Stunden für unsere Kinder zur Verfügung zu stehen!“
Anmerkung der Redaktion: Namen und wiedererkennbare Geschichten durften wir hier nicht verwenden, um die Persönlichkeitsrechte von Eltern und Kindern nicht zu verletzen. Aus demselben Grund durften wir auch keine Kinder fotografieren. Einen kleinen Einblick in die Lebenswelt des Marianum bekommt man im Internet unter www.marianum-krefeld.de.
Marianum Krefeld,Hubertusstraße 226,47798 Krefeld, Telefon 02151-80780