„Krefeld, Stadt des Altbieres und der Brauhäuser.“ Für Generationen war dieser „Claim“ von so viel Wahrhaftigkeit durchzogen, dass er auch unter dem Stadtwappen hätte stehen können. Heute fällt es jungen Eltern sichtlich schwer, diesen Geist auf ihre Kinder zu übertragen. Wie auch? Sind doch von einstmals 73 Brauereien im heutigen Stadtgebiet Krefelds nur noch zwei selbstbrauende Betriebe übriggeblieben: Die Brauerei Königshof auf der Untergath und Gleumes an der Sternstraße. Die Ursachen für den Niedergang der Braukultur in der Seidenstadt sind multifaktoriell; soziale und technologische Aspekte spielen dabei die Hauptrollen. Das Ergebnis war und ist für Liebhaber des Kellerbrauens und Ausschanks in kleinen Wirtschaften gleichermaßen desaströs: Quartiere haben an Identität und das gesellschaftliche Leben an Facettenreichtum verloren. Braukultur war über viele Dekaden buchstäblich ganz fest mit Baukultur verwoben.
Die Hochstraße zählte im 19. Jahrhundert 13 kleine Brauereien
Tief im 19. Jahrhundert, als Krefeld noch den Zusatz „Stadt wie Samt und Seide“ verdient hatte, waren es die typischen Arbeiterviertel, um die herum zahlreiche Kellerbrauereien entstanden, die nach heutigen Maßstäben Kleinstmengen für den umliegenden Kiez brauten. Die Arbeiterschicht und das darunter liegende Prekariat waren in der Textilindustrie angesiedelt. In damals stadtbildprägenden Zwei-Fensterhäusern saßen sie tagsüber an den Webstühlen, während die Frauen in der angrenzenden Stube die Familie versorgten, sich um den Nutzgarten im Hof kümmerten und die Ziegen molken. Nach Feierabend gingen die Männer in die Schankhäuser und tranken Bier, oft so viel, dass der Familie von der Lohntüte nur noch Spurenelemente zugeführt wurden. Über Jahrzehnte glich dieser Tagesablauf einem zyklischen Ritual, sodass die Brauereien dort, wo die Weber saßen, wie Pilze aus der Erde schossen. Die Hochstraße, die einst Hohe Straße hieß, weil sie auf einem Plateau oberhalb des Sumpflandes erbaut wurde, zählte im ersten Drittel des 19. Jahrhundert 13 kleine Brauereien. Wo heute Schuh- und Bekleidungsgeschäfte um Kundschaft werben, gab es seinerzeit klangvolle Betriebe wie die „Brauerei zur Stadt München“ (Nr. 18), aber auch kleine Familienbrauereien wie die der Janssens (Nr. 19), Oellers‘ (Nr. 44), Neuhaus‘ (Nr. 46-47), Hammersbachs (Nr. 52) und Peltzers (Nr. 66). Insgesamt befanden sich 38 Brauereien im Innenstadtgebiet, die Vororte, die damals größtenteils noch eigenständig waren, wie Linn, Uerdingen und Hüls, wiesen ebenfalls zahlreiche Bier brauende Betriebe auf. Dass die Braukultur in jenen Tagen ihren Zenit erreichte, lag auch an der Förderung durch die Obrigkeit. Bier galt als vergleichsweise harmloses Getränk mit geringer Suchtgefahr. Zuvor tranken die Männer Weinbrand; alkoholbedingte Unfälle waren an der Tagesordnung und der volkswirtschaftliche Schaden stieg. Wasser verstand man als ungesündeste Alternative, stammte es doch in den meisten Fällen aus Flüssen und war extrem keimbelastet.
Tief im 19. Jahrhundert, als Krefeld noch den Zusatz „Stadt wie Samt und Seide“ verdient hatte, waren es die typischen Arbeiterviertel, um die herum zahlreiche Kellerbrauereien entstanden, die nach heutigen Maßstäben Kleinstmengen für den umliegenden Kiez brauten.
Tatsächlich war es wohl die erste Emanzipationswelle, die das Konsumverhalten der Männer veränderte
Fragt man Historiker nach den Gründen des Rückgangs der Kellerbrauereien, wird in der Regel die Gründung von Brauerei-Aktiengesellschaften und der damit verbundene Konzentrationsprozess ins Feld geführt. Tatsächlich aber war es die erste Emanzipationswelle, die das Konsumverhalten der Männer veränderte. „Die Rolle der Frau wurde um die Jahrhundertwende immer stärker, sie akzeptierten nicht mehr, dass die Männer ein autarkes Leben von der Familie führten und die Lohntüte gleich nach der Übergabe versoffen“, erklärt Frank Tichelkamp, Vertriebsleiter der Brauerei Königshof, der im Rahmen seiner Tätigkeit ein eigenes Archiv zum Thema Braukultur in Krefeld angelegt hat. Tatsächlich war die Kaiserzeit Männerzeit. Ohne die Zustimmung ihres Mannes durfte eine Verheiratete weder einem Broterwerb nachgehen, noch über ihr Geld verfügen, noch ihren Wohnort bestimmen. Sie hatte nicht einmal das Recht auf ihre Kinder. Das einzige, was ihr als Hausfrau zustand, war die Schlüsselgewalt über die Speisekammer. Immer mehr bürgerliche Frauen aber wollten sich nicht in dieses Schicksal fügen. Die Frauenbewegung verlangte nach Befreiung, forderte Rechte ein. Sie opponierte gegen die männlich dominierte, militärisch geprägte Erziehung, gegen die eigene rein repräsentative Tätigkeit, gegen sinnentleerte Konventionen. Ebenso kritisierten viele Lebensreformerinnen der Jahrhundertwende die ungesunden und diskriminierenden Bedingungen, unter denen Frauen in der Gründerzeit-Gesellschaft lebten. Doch während die Frauenbewegung vor allem gegen die rechtliche und finanzielle Benachteiligung und für mehr Gleichberechtigung kämpfte, wollten die Lebensreformerinnen in erster Linie das Alltagsleben verbessern. Dasselbe Ziel, zwei Wege. Aber das eine schloss das andere nicht aus. So gab es zahlreiche Frauen, die den Kampf für Rechte mit dem lebensreformerischen Bemühen um eine unmittelbare Erleichterung und Verbesserung des Alltagslebens verbanden. Zu den wichtigsten Punkten gehörte dabei, die Männer von den Brauhäusern fernzuhalten und die Lohntüten einzufordern. Natürlich wurde weiterhin Bier getrunken, „aber eben zuhause“, so Tichelkamp weiter, „damals schickten die Väter ihre Kinder in die Schankwirtschaft und ließen sich ein Siphon abfüllen. Das kostete nur halb so viel wie Bier, das direkt vor Ort getrunken wurde.“
Wie schade es ist, dass es keinen großen lokalen Biererzeuger mehr gab, haben die meisten erst festgestellt, als Rhenania weg war
Dieser Trend alleine hätte das Massensterben der Kellerbrauereien binnen eines Jahrhunderts allerdings nicht zur Folge gehabt, sondern nur zu deren moderater Ausdünnung geführt. Kriege und die fortschreitende Industrialisierung brachten zunächst Zerstörung und Rohstoffmangel, später einen Preisdruck, dem kleine Betriebe nicht standhalten konnten. Schlicht eine Revolution ist seinerzeit die automatisierte Flaschenabfüllung gewesen, die den Vertrieb und das Konsumverhalten weiter veränderte. Größere Krefelder Brauereien kauften kleinere auf und stellten deren Betrieb ein, dazu strömten auswärtige Marken auf den hiesigen Markt. Bis heute bekannte, aber längst verschwundene Namen wie Tivoli, Rixen und Rhenania (nun Brauerei Königshof) festigten dieser Tage ihre Vormachtstellung. Als verhältnismäßig kleine Hausbrauereien hielten sich Gleumes, Wienges, Herbst Pitt und das „Et Bröckske“, das vor der Erbauung der Rhenania Brauerei das Stammhaus der Familie Wirichs war und Jahrzehnte als Schankwirtschaft geführt wurde. Hinterlassenschaften der zahlreichen Kellerbrauereien sind heute nicht einmal in Rudimenten zu finden. Entweder wurden die Häuser von Bomben zerstört oder abgerissen. Blickt man in der Gegenwart auf die Braukultur, so ist aus der einstigen Oase ein Ödland geworden. „Leider erkennen die Menschen den Wert von Brauereien und Kneipen meist erst in der Retrospektive“, veranschaulicht Frank Tichelkamp. „Wie schade es ist, dass es keinen großen lokalen Biererzeuger mehr gab, haben die meisten erst festgestellt, als Rhenania weg war. Jetzt schätzen sie die lokale Marke wieder und unterstützen sie.“ Die im Jahr 2003 gegründete Brauerei Königshof ist inzwischen allerdings nicht nur akzeptiert, sondern ein erheblicher Wirtschaftsfaktor für die Stadt geworden. Dazu ist der stetig gewachsene Brauriese Unterstützer der verbliebenen Brauhäuser. So wird hier nach dem alten Originalrezept Wienges Alt gebraut und Gleumes Obergäriges in Flaschen abgefüllt.

Bereits 1807 eröffnete das Brauhaus „Zu den drei Kronen“. Heute wird im Gleumes immer noch selbst gebraut
Bis heute befindet sich die Herbst Pitt in makellosem Zustand, doch das Haus hat scheinbar keine Zukunft
Bei der Bestandsaufnahme der letzten Bastionen, blutet bisweilen das Herz der Liebhaber gepflegten Bierausschanks. Das „Et Bröckske“ auf der Marktstraße 41 steht seit Jahren leer. Die Pläne eines Kölner Investors, das Gebäude aufgrund seines katastrophalen Zustandes abzureißen und nach historischer Vorlage wieder neu aufzubauen, wurde seitens der Stadt gestoppt, die das Gebäude kurzerhand unter Denkmalschutz stellte. Auch „Herbst Pitt“ ist in einen Dornröschenschlaf gefallen. Die Familie Mäurers, die das denkmalgeschützte Krefelder Traditionsbrauhaus an Ecke Markt- und Hubertusstraße 2001 nach fast zehnjährigem Leerstand erworben und komplett saniert hatte, gab nach 14 Jahren auf. Rund anderthalb Millionen Euro hat die Familie aus Grefrath „aus Liebe zu dem historischen Gasthaus und zur Gastronomie“ in „Herbst Pitt“ investiert. Sämtliche Räume wurden saniert, das gesamte Original-Mobiliar aufgearbeitet. Das Haus erhielt eine neue Küche und neue Sanitäranlagen. Im Obergeschoss entstand der Kronensaal für rund 100 Personen, im Erdgeschoss wurden zusätzlich das Sudhaus mit dem Original-Kessel sowie die Hopfenstube eingerichtet, und im Keller bauten die Mäurers drei neue Kühlhäuser für Getränke, Gemüse und Fleisch ein. Bis heute befindet sich das Haus in makellosem Zustand, doch hat scheinbar keine Zukunft. Bleiben also nur noch „Gleumes“ und „Wienges“, deren Kronen an der Fassade auf die Familienzusammengehörigkeit hindeuten, die aber ansonsten, schon aufgrund der Lage, vor ganz unterschiedlichen Herausforderungen stehen. „Mit Gleumes wird es in Zukunft wieder bergauf gehen“, orakelt Tichelkamp augenzwinkernd und fügt hinzu: „Wienges hat vor allem ein Standort-Problem. Dort, wo es gelegen ist, verkehren Menschen aus Kulturkreisen, in denen Brauhäuser keine Rolle spielen. Wäre das Wienges weiter oben gelegen, Richtung Stadtmarkt, würde es brummen.“
„Die Rolle der Frau wurde um die Jahrhundertwende immer stärker, sie akzeptierten nicht mehr, dass die Männer ein autarkes Leben von der Familie führten und die Lohntüte gleich nach der Übergabe versoffen.“
Im Zuge einer sich rasant verändernden Gesellschaft und vor dem Hintergrund der Einwanderungspolitik liegt das gastronomische Leben inzwischen in ausländischer Hand. Das ist bereichernd, aber ein ebenso deutliches Signal dafür, wie wir mit der eigenen Kultur umgehen und damit die Verantwortung für die Stadtentwicklung in den eigenen Händen halten. Letztlich sind wir es, die mit unserem Konsumverhalten und Ausgehgewohnheiten über das Fortbestehen der Hausbrauereien entscheiden. Und damit auch darüber, ob unsere Kinder mit dem Claim „Krefeld, Stadt des Altbieres und der Brauhäuser“ im realen Leben etwas anfangen können oder ihn lediglich in Geschichtsbüchern lesen werden.