Duisburg, 24. Juli 2010. Es ist ein sonniger Tag. Folkhard Werth ist noch nicht lange als Polizeiseelsorger im Dienst. Gemeinsam mit einem Polizisten in zivil befindet er sich auf einem vermeintlichen Routineeinsatz. Auf dem Gelände des ehemaligen Hauptgüter- und Rangierbahnhofs wird ausgelassen gefeiert. Zigtausende tanzen zu wummernden Beats, freuen sich das Lebens. „Dann entstand eine ganz merkwürdige Stimmung“, erinnert sich Werth, als wäre es gestern gewesen. „Mein Kollege wurde unruhig. Er wusste, dass es kein gutes Zeichen ist, wenn der Polizeihelikopter so lange über einer Stelle kreist. Er griff zum Handy und stellte fest, dass wir keinen Empfang haben. Wir rannten zur Stelle, über der der Heli kreiste und noch bevor wir etwas sehen konnten, kamen uns taumelnde Menschen mit vor Schreck erstarrten Gesichtern entgegen. Man sah den Tod in ihren Augen. Andere Polizisten kamen zu uns und sagten: ‚Ihr könnt euch nicht vorstellen, was wir gesehen haben.‘ Das werde ich nie vergessen.“

Folkhard Werth, Seelsorger, PolizeiWerth ist in jenen Tagen kein Unbedarfter, viele Jahre hatte er bereits zuvor als Notfallseelsorger für die Feuerwehr gearbeitet. Er sah etliche Todesopfer, überbrachte die Nachrichten anschließend an die Hinterbliebenen. Psychische Ausnahmesituation gehören für den evangelischen Pfarrer zum Alltag. Die Loveparadetragödie brachte allerdings auch ihn an den Rand der Belastbarkeit. „Wir sind sofort vom Gelände ins Polizeipräsidium geeilt und haben dort eine Anlaufstelle für Angehörige eingerichtet“, erzählt er rückblickend. „Fast zwei Tage am Stück standen wir dort für Hilfesuchende bereit. Aber es waren nicht nur Angehörige von Opfern oder Zeugen, die wir betreuen mussten, sondern auch die Einsatzkräfte. Besonders die Kriminalbeamten waren tief getroffen.“ Wie markerschütternd eine solche Katastrophe für viele ist, zeigt der Zeitraum, über den sich die Polizisten an den Polizeiseelsorger gewandt haben. „Das letzte Gespräch mit Bezug auf die Loveparade habe ich vor drei Monaten geführt“, erzählt Werth im Krefelder Präsidium am Nordwall.

Dass Werth Berufsleben einmal daraus bestehen würde, Menschen rund um das schrecklichste aller denkbaren Szenarien zu begleiten, war für den Theologen lange nicht absehbar. Nach seinem Studium widmete sich der heute 53-Jährige dem Lehrauftrag, 20 Jahre lang unterrichtete er Religion an einem Berufskolleg. Es sei eine schöne Zeit gewesen, allerdings habe er irgendwann eine neue Herausforderung gesucht. Als eine Stelle als Notfallseelsorger vakant war, bewarb er sich darauf und wurde genommen. „Was es heißt, diese Arbeit zu machen, habe ich gleich bei meinem ersten Einsatz im Rahmen des 24-stündigen Praktikums erfahren. Wir mussten einer 18-Jährigen mitteilen, dass ihre Eltern bei einem Verkehrsunfall schwerst verletzt wurden. Das Mädchen war völlig apathisch. In diesem Moment war mir klar. Wenn es nicht Menschen wie dich gibt, die diese Aufgabe übernehmen, wäre das Mädchen jetzt alleine, völlig alleine“, erzählt der Vater einer Patchwork-Familie mit Blick in seine Anfangsjahre.

Das Bild von Seelsorgern ist in der Bevölkerung nebulös. Es reicht vom weihrauchspendenden Greis bis hin zur Trostphrasen dreschenden Tatort-Figur. Nichts davon trifft zu. Allerdings ist niemand froh, Werth im Rahmen seiner damaligen Profession zu sehen. „Wenn die Konstellation Polizist und Seelsorger vor der Tür steht, wissen die Menschen bereits, was los ist. Dieser Moment war immer wieder sehr anstrengend und belastend“, erzählt Werth kopfschüttelnd mit nach oben gerichtetem Blick. „Die ersten Schritte sind immer dieselben. Wir fragen, ob es sich bei den Menschen um die oder die Person handelt, wenn dies bejat wird, bitten wir sie, sich zu setzen. Dann wird die Todesnachricht ohne Umschweife ausgesprochen. Anschließend muss man sehr genau ausloten, was man wie sagt oder ob man überhaupt etwas sagt.“ Im Umgang mit Werth wird schnell deutlich, welche Eigenschaften ihn zu dieser Arbeit befähigen. Er spricht ruhig und hört genau zu. Ihn umgibt eine mitfühlende Aura. Seine Empathie wird dabei fast greifbar. Seine Augen vermitteln Respekt und Verständnis. Er hat ein ernsthaftes Interesse an Menschen und ihren Schicksalen. Er ist ausgeglichen, obwohl er sagt: „Durch die Arbeit ist mir der Tod näher gekommen.“

 

„Wenn die Konstellation Polizist und Seelsorger vor der Tür steht, wissen die Menschen bereits, was los ist. Dieser Moment war immer wieder sehr anstrengend und belastend“

 

Es sind nicht die Todesarten, die ihn dabei so erschüttern. Selbst den Anblick schwerste Traumata, abgetrennter Körperteile und schwerstverstümmelter Leichen trägt er mit Fassung. In seiner Zeit als Notfallseelsorger hat er sich jedes Opfer vorher angeschaut, um mit den Hinterbliebenen ehrlich sprechen und sie auf den Zustand des Opfers hinweisen zu können. Zur wirklichen Belastung können für ihn die Hintergründe eines Todes werden. „Suizide. Suizide sind für mich das Schlimmste. Und das aus zweierlei Gründen. Zum einen deswegen, weil ich es grauenhaft finde, wie es Menschen ergangen sein muss, die zu so einer Maßnahme gegriffen haben. Wie aussichtslos muss ihnen alles erschienen sein, wie allein müssen sie sich gefühlt haben? Und zum anderen für die Hinterbliebenen, denen jeder hoffnungsspendende Strohhalm entzogen wird. Sie sind verzweifelt und machen sich Vorwürfe“, erklärt Werth mit in Falten gelegter Stirn.
Es ist eben diese Todesart, mit der er den schwierigsten aller seiner Einsätze verknüpft. „Ich war in einer 40 Quadratmeter-Wohnung“, beginnt Werth zu erzählen, „und musste dort einer Familie sagen, dass sich der Vater im Keller erhängt hatte. Die Mutter kollabierte bis hin zum Verlust des Bewusstseins. Es befanden sich elf Menschen in der Wohnung, die alle anders reagierten. Während der eine die Regale zerschlug, saß der andere in der Ecke und blickte starr an die Wand. Eine weitere Person schlug seinen Kopf gegen den Türrahmen. Es war ein unheimliches Szenario, das ich so kaum ertragen konnte. Ich musste mehrmals die Wohnung verlassen.“ Aber auch der Tod von Kindern ist für den ausgeprägten Familienmenschen schwer zu ertragen: „Einmal wurde ich zu einem Haus bestellt, in dem ein 5-jähriger Junge verstorben war. Ich redete erst lange mit den Eltern und dann gingen wir nach oben, um den Leichnam zu segnen. Der Vater zog die Decke runter und ich sah einen Blondschopf, der aussah wie mein ältester Sohn. Da merkte ich: Das wird heikel. Ich musste mich danach erst einmal sammeln und ging dann wenig später. Als ich im Auto saß, begann ich zu weinen. Zuhause habe ich anschließend ausgiebig mit meinen Söhnen gespielt.“

 

Doch es sind nicht immer nur die Hinterbliebenen von Todesopfern, die seelischen Beistand benötigen. Manchmal sind es auch die vermeintlichen Täter, denen eine Stütze gegeben werden muss. „Ich habe auch schon mit LKW-Fahrern gesprochen, die auf ein Stauende gefahren sind und dabei viele Menschen getötet haben. Die Schuldfrage ist an der Stelle im rechtlichen Sinne noch gar nicht geklärt, allerdings steht die moralische Schuld bereits im Raum. Diese Menschen quälen Vorwürfe. Tröstende Worte gibt es da nicht. Man kann nur die nächsten Schritte erläutern und so ganz pragmatische Hilfe leisten“, veranschaulicht Werth die verschiedenen Facetten der Betreuung. Generell gebe es kein Patentrezept für die richtigen Worte, sagt er, man müsse genau schauen, wie der Mensch reagiert und lieber zweimal nachdenken, bevor man zu viel oder etwas Falsches sagt. „Es ist auch schon vorgekommen, dass ich 20 Minuten neben einem Hinterbliebenen saß und gar nichts gesagt habe. Manchmal ist das genau richtig“, so Werth weiter.

 

„Es ist auch schon vorgekommen, dass ich 20 Minuten neben einem Hinterbliebenen saß und gar nichts gesagt habe. Manchmal ist das genau richtig“

 

Nach vielen Jahren der Notfallseelsorge und der Ausbildung junger Seelsorger hat sich Werth vor sechs Jahren dazu entschieden einen Tapetenwechsel vorzunehmen. Nun kümmert er um die Psyche von Polizeibeamten, die in ihrem Arbeitsalltag immer wieder belastende Entscheidungen treffen müssen. Hauptgrund für Berufswechsel sei das Gewaltmonopol der Polizei gewesen. „Ich wollte unbedingt wissen, wie die Polizisten damit umgehen. Und ich muss sagen, dass ich positiv überrascht bin. Denn sie sind noch verantwortungsvoller als ich es vermutet habe. Und das, obwohl ihnen ständig respektlos begegnet wird“, schildert Werth seine Eindrücke. Als Polizeiseelsorger ist der Uerdinger für Präsidien im Rheinland und angrenzenden Ruhrgebiet verantwortlich. Er versteht sich selbst als „aufsuchender Beistand“. Das heißt, dass er die verschiedenen Stationen von sich aus ansteuert und mit Polizisten ins Gespräch kommt. Für diejenigen, die aktiv Hilfe suchen, ist er natürlich auch empfänglich. „Ist sind die unterschiedlichsten Anlässe, die Polizisten dazu bringen, mit mir sprechen zu wollen. Vom kleinen moralischen Dilemma bis hin zur Aufarbeitung tödlich angewandter Gewalt. Manchmal befinden sich Polizisten in einer Zwickmühle, denn obwohl sie formal richtig handeln, haben sie das Gefühl, menschlich falsch gehandelt zu haben“, erklärt er und nennt Beispiele: „Die Beamten fragen sich, ob es richtig ist, einem augenscheinlich armen Menschen zehn Euro Verwarngeld für ein vergessenes Licht am Fahrrad abzuknüpfen, wenn sie wissen, dass dieser Betrag drei warme Mahlzeiten für ihn bedeutet. Ein Beamter hat mir erzählt, dass er bei der Wohnungsräumung eines einsamen alten Mannes dabei war. Das Umzugsunternehmen habe nur die Kartons in die neue Wohnung gestellt und gerade einmal das Bett aufgebaut. Der alte Mann saß anschließend in der Küche auf einem Stuhl mit seiner Katze auf dem Schoß. In dem Raum war nichts weiter als eine nackte Glühbirne an der Decke. Dieses Bild hat der Polizist nicht mehr aus dem Kopf bekommen, obwohl er genau gehandelt hat, wie es vorgeschrieben ist. Nach Dienstschluss ist er dann noch einmal zur neuen Wohnung des Mannes gefahren, um zu helfen, durfte dann aber feststellen, dass die Diakonie bereits da war. Dieses Beispiel macht den Konflikt gut deutlich.“

 

editiert_IMG_9766Wenn Polizisten von der Schusswaffe Gebrauch machen müssen, sind die Dienste eines Seelsorgers allerdings am nötigsten. „Zum Glück ist mir das bislang erspart geblieben, aber ich weiß von zwei Fällen außerhalb von NRW, bei denen die Beamten anschließend völlig unterschiedlich reagiert haben. Der eine traf bei einer Wohnungsräumung auf einen psychisch Kranken, der plötzlich eine Waffe zog, schoss und anschließend in die Wohnung rannte. Der Polizist erwiderte das Feuer durch die Tür und verletzte den Täter tödlich. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass der Kranke nur eine Gaswaffe hatte, das konnte der Polizist allerdings nicht wissen. Er war anschließend mit sich und der Situation im Reinen. Bei einem anderen Fall musste ein Polizist bei einem Amoklauf in Bayern auf einen Täter schießen und verletzte ihn dabei schwer. Doch dieser rannte mit einem Messer bewaffnet weiter auf ihn zu. Kurz bevor er ihm in den Kopf schießen wollte, sackte der Amokläufer zusammen, aber zu wissen, er hätte ihm jetzt in den Kopf geschossen, hat ihn dazu veranlasst, sich in den Innendienst versetzen zu lassen. So unterschiedlich können die Reaktionen sein, obwohl beide Handlungen formal völlig in Ordnung waren“, zeigt Werth auf.

 

Die Kraft für die Arbeit als seelische Stütze und Fels in der Brandung schöpfe Werth aus der Familie und den Gesprächen mit seiner Lebensgefährtin, die ebenfalls als Seelsorgerin in einem Krankenhaus arbeitet. „Wenn ich mich einmal richtig auskotzen möchte, dann kann ich auch auf mein Netzwerk aus Pfarrern und Seelsorgern im Umkreis zurückgreifen“, erklärt der selbsterklärte Optimist. Es ist ihm zu Wünschen, dass sich eine seiner größten Befürchtungen nicht bewahrheitet: „So etwas, wie am 24. Juli 2010 in Duisburg, möchte ich nicht noch einmal erleben“, sagt er und verabschiedet sich.