Während Tausende aus den Kriegsgebieten nach Deutschland flüchten, geht sie dahin, wo die Menschen herkommen: in die Kriegsgebiete. Die Krefelderin Leyla Bilge reist persönlich in die von der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) bedrohten Länder, um Verfolgten vor Ort zu helfen – aller Risiken zum Trotz.

Leyla e.V. - „Ich muss zu diesen Kindern“

Stadt in Trümmern: Kobanê in Syrien wurde zu 80 Prozent vom IS zerstört

Es ist mitten in der Nacht, es ist drückend, heiß. Der Schweiß rinnt ihr den Rücken herab, ihr Atem geht in kurzen Stößen. Sie läuft mit geducktem Oberkörper. Von irgendwoher kommt Hundegebell. Sie läuft schneller. Da hinten blitzt ein Scheinwerfer auf. Sie wirft sich flach auf den Boden, wartet, bis der kreisende Lichtkegel wieder erlischt, atmet. Rappelt sich auf. Rennt, geduckt. Sie rennt um ihr Leben.

Ein Wohnzimmer, irgendwo in Krefeld. In einem der großen Ledersessel sitzt Leyla Bilge, 34 Jahre alt, lange schwarze Haare, braune Augen, Kurdin. Muslimin. Gerade erzählt sie, wie sie nachts heimlich die syrische Grenze überquert hat, um zurück in die Türkei zu gelangen, eingehüllt in dunkle Kleidung, begleitet von einheimischen Vertrauenspersonen. Wenn man hört, wie sie das schildert, mit leiser, fester Stimme, dann wirkt das fast surreal in diesem Krefelder Wohnzimmer. Und im ersten Moment, als sei sie eine Schwerverbrecherin: als müsse sie vor dem türkischen Militär fliehen, weil sie etwas Schlimmes getan hat. Dabei ist das Gegenteil der Fall.Wenn Bilge aus Syrien kommt, hat sie etwas Gutes getan: Mit ihrem Verein „Leyla – Den Stummen eine Stimme geben“ kämpft die Krefelderin für die Jesiden, Christen und Muslime, die in Syrien und im Irak von der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) als Ungläubige verfolgt werden, in übervollen Flüchtlingscamps leben müssen. Bilge hilft ihnen mit Geldspenden, Sachspenden. Aber sie überweist nichts, verschickt nichts. Denn: „Ich will einfach ganz sichergehen, dass meine Spenden in die richtigen Hände gelangen“, sagt sie. Deshalb lässt sie es sich nicht nehmen, höchstpersönlich zu den notleidenden Menschen zu gehen. Auch wenn das vor allem in Syrien nicht nur eigentlich unmöglich, sondern lebensgefährlich ist: „Die Grenze zum Land ist komplett dicht, niemand darf im Moment ein- oder ausreisen; die Flüchtlinge dort brauchen aber dringend Hilfe, sie haben zu wenig Wasser, keine Medikamente.“

Leyla e.V. - Den Stummen eine Stimme geben

Bilge kam als Kind mit ihrer Familie nach Deutschland, ins Münsterland, seit vier Jahren lebt sie in Krefeld, arbeitet als selbständige Finanzberaterin. Wegen ihrer Hilfe für die vom IS gebeutelten Menschen habe sie schon „Drohungen von angeblichen Islamisten per Telefon und facebook“ bekommen, sagt sie. Bilge erzählt das völlig ruhig, unaufgeregt, lapidar. Nimmt einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse.
Hat sie gar keine Angst, bei dem, was sie tut? Doch. Klar. Aber die Wut ist größer: die Wut, die sie ergriff, als der IS im August 2014 die Stadt Mossul im Nordirak überfiel. „Als ich im Fernsehen die Bilder von weinenden Jungen und Mädchen sah, die wimmerten, ihr Papa, ihre Mama seien vor ihren Augen getötet worden, da gab es für mich kein Halten mehr“, erinnert sich Bilge. Sie fühlte einen tiefen, starken Wunsch, etwas für die Kinder zu tun. Und zwar nicht von Deutschland aus, „von Deutschland aus kann man nicht wirklich helfen“. Bilge wollte vor Ort sein. Da sein. Mit anpacken. „Eine soziale Ader hatte ich immer schon“, sagt sie. „Aber speziell in der Situation wollte ich auch zeigen, was den Islam ausmacht: ein guter Mensch zu sein. Die Religion anderer nicht zu bewerten. Ich habe zu einem Freund gesagt: ,Es klingt vielleicht verrückt, aber ich muss zu diesen Kindern – ich weiß nicht, wann ich wieder nach Deutschland komme.’“ Die Krefelderin packte Kuscheltiere, Luftballons, Pustefix für Seifenblasen, Lutscher, Unmengen von Bonbons in einen Koffer, stopfte etwas Gepäck für sich selbst dazu. Sie konzentrierte sich zunächst auf die Türkei, in die sie als Kurdin ohne ausufernde amtliche Verrenkungen einreisen konnte, erkundete, wo sich in dem Land ein Flüchtlingscamp befand. Setzte sich ins Flugzeug nach Istanbul, reiste von dort in die Stadt Midyat an der syrischen Grenze und weiter nach Bacine, einem nahegelegenen Dorf. Bilge fragte sich durch, knüpfte Kontakte. Ortskundige führten sie zu einem Haus, in dem sich 300 Menschen drängten.

„Diesen Menschen, die ich vorher nur im Fernsehen sah, plötzlich nahe zu sein, hat mich im ersten Moment so ohnmächtig gemacht. Ich bin erst mal raus aus dem Haus, bin ein paar Schritte gegangen, hab‘ für mich geheult.“

Bilge hebt den Blick. „Was ich gefühlt habe, als ich die Leute dort sah – ich habe eigentlich keine Worte dafür“, sagt sie leise. Sie sah orientierungslose Männer, Frauen, Kinder, seit Tagen ungewaschen, teilweise halbnackt, ohne Schuhe an den Füßen, die Kleidung verdreckt. „Sie hatten nur noch das, was sie an dem Tag ihrer Flucht vor dem IS am Leibe trugen“, die Krefelderin schüttelt den Kopf. „Diesen Menschen, die ich vorher nur im Fernsehen sah, plötzlich nahe zu sein, hat mich im ersten Moment so ohnmächtig gemacht. Ich bin erst mal raus aus dem Haus, bin ein paar Schritte gegangen, hab‘ für mich geheult.“

Nach und nach hat sie dann versucht, „irgendwo anzufangen, den Menschen eine Art Tagesablauf zu geben“, erzählt sie. „Ich habe einen Putzdienst organisiert, mit den Familien gekocht, mit den Kindern Lesen und Schreiben geübt.“ Sechs Wochen blieb sie in Bacine, untergebracht bei kurdischen Parteimitgliedern. Sie lernte eine Frau kennen, die Kontakte zu einem jesidischen Hilfsverein in Emmerich am Niederrhein hatte und noch katastrophalere Zustände für Flüchtlinge im Irak schilderte, die vor allem in der kalten Jahreszeit litten. Bilge fuhr zurück nach Deutschland. Räumte ihren eigenen Kleiderschrank halbleer, bat Verwandte, Freunde, Bekannte um Pullis, Hosen, Schuhe, Jacken, Mäntel, Mützen. Belud im November 2014 mit den Verein aus Emmerich einen LKW, schickte den 40-Tonner in den Irak. Und reiste hinterher. Obwohl es nun schwieriger werden würde.

Leyla e.V. - Den Stummen eine Stimme geben

„In der Türkei konnte ich mich als Kurdin mit türkischen Wurzeln noch offiziell bewegen“, erzählt Bilge. In das Flüchtlingscamp im Irak, wo vor allem Jesiden lebten, konnte sie nicht so problemlos hinein, „die Sicherheitsbestimmungen dort sind sehr streng“, so Bilge. „Deshalb musste ich mithilfe von Vertrauenspersonen des jesidischen Vereins heimlich eingeschleust werden.“ „Heimlich“ bedeutet dann, „vorzugeben, man wolle Verwandte im Camp besuchen, sich dabei unauffällig zu verhalten; am besten lässt man die Vertrauensperson, die einen begleitet, sprechen – das ist ein Weg, mit dem man probieren kann, hineinzukommen“.
Das Einschleusen im November 2014 funktionierte. Aber scheinbar doch nicht ganz unbemerkt. Im Irak klingelt eines Tages Leyla Bilges Handy. Ein Anruf mit unterdrückter Nummer. Bilge geht dran. „Wie ist das Wetter im Irak?“, fragt eine ihr unbekannte Männerstimme. „Man hört, es könnte bald ein Donnerwetter geben. Anstatt dich für Teufelsanbeter einzusetzen, solltest du mal lieber zu deiner Religion zurückkehren“, sagt die Stimme ruhig.

Bilge legt auf. „Teufelsanbeter“ ist ein Schimpfwort des IS für die Jesiden. „Aber ich habe das erst mal nicht ernst genommen“, sagt sie. Zu eingenommen war sie von der Not in dem irakischen Flüchtlingscamp, wo sie den inzwischen eingetroffenen LKW mit der gespendeten Kleidung in Empfang nahm. Anders als in der Türkei lebten hier die Männer, Frauen, Kinder in ungeheizten Sommerzelten, die unbefestigt auf kaltem, nassem Boden standen. Und das bei den bitterkalten Temperaturen des irakischen Winters. Ohne Essen, ohne Medikamente, ohne jede medizinische Versorgung. In Zeltstädten mit bis zu 70.000 Menschen.

Zwei Wochen später kehrte Bilge nach Deutschland zurück. Erst da fiel ihr wieder der Unbekannte ein, der ihr im Irak am Telefon gedroht hatte: Auf ihrer facebook-Seite tauchten plötzlich Kommentare von Usern auf, die sich als „Islamisten“ ausgaben, sie aufforderten, mit ihren Einsätzen aufzuhören. Die behaupteten, man wisse, wo sie wohne. „Freunde von mir warnten, ich solle das nicht auf die leichte Schulter nehmen“, sagt Bilge. „Aber“, entschlossen wirft sie die schwarzen Haare über die Schulter, „ich wollte mich nicht einschüchtern lassen.“ Statt dessen dachte sie über einen eigenen Hilfsverein nach, mit dem sie, eingetragen in das städtische Vereinsregister und mit allem, was zu einem ordentlichen Verein gehört, Geld sammeln darf. Ihr Verein „Leyla – Den Stummen eine Stimme geben“ war geboren. Seitdem organisiert Bilge offiziell Benefizkonzerte mit Infoständen. Oder Aktionen wie den „Spendenmarathon“: Sie verteilt Dosen für Spenden an Geschäfte, Restaurants oder Cocktailbars, und sobald die Dose voll ist, überweisen die Inhaber der Läden das gesammelte Geld auf das Konto des Vereins. Elf Locations in Essen, Duisburg und Wuppertal beteiligen sich bisher.

Leyla e.V. - Den Stummen eine Stimme geben

Vor wenigen Wochen ließ sich Bilge erstmals nach Syrien über die blockierte Grenze schmuggeln. Sie wollte zur syrischen Stadt Kobanê, die zu 80 Prozent vom IS zerstört worden ist, um den Menschen dort Lebensmittel, Geld, Wasser zu bringen. Und sie hat es geschafft. „Die Menschen reagierten fast positiv traumatisiert auf mich, sie brachen in Tränen aus, umarmten mich, legten mir nasse Lappen gegen die Hitze auf die Stirn.“ Solche Begegnungen wiegen für Bilge in Syrien die Angst auf. Wenn sie mit Vertrauenspersonen nachts die Grenzposten zur Türkei abfährt, herauszufinden versucht, wo sich gerade das wenigste Militär aufhält, um wieder den Grenzzaun zu überwinden. Wenn ihre Begleiter den Stacheldraht des Zauns auseinander biegen, sie sich durch die Öffnung windet. Wenn ihre Haare sich im Stacheldraht verhaken, der Draht sich in die Haut bohrt, bevor sie losrennt, um ihr Leben rennt.