Die Geschichte des Flachsmarktes reicht zurück bis in das Jahr 1315. Damals wurden der in der Umgebung angebaute Flachs und daraus gefertigte Produkte auf dem Linner Andreasmarkt angeboten. Aufgrund der zunehmend schwindenden Relevanz des Flachsanbaus fand 1903 der letzte ursprüngliche Markt statt und geriet danach in Vergessenheit. Erst 1975 gab es den ersten neuzeitlichen Flachsmarkt, der immer weiter wuchs und später auch die Burg Linn und den Burgpark mit einbezog. Seither erfreut sich der Handwerksmarkt größter Beliebtheit, nicht zuletzt aufgrund der vielen faszinierenden Handwerker und Aussteller. Einer von ihnen ist gleich in zweifacher Hinsicht hochinteressant: Boy de Winter ist nicht nur einer der dienstältesten Handwerker auf dem Flachsmarkt, sondern auch der letzte verbliebene Zylindermacher überhaupt – auf der ganzen Welt.
Die Werkstatt von Boy de Winter liegt in einem kleinen Industriegebiet am Rande von Uden in den Niederlanden, eine gute Autostunde von Krefeld entfernt. Ein typisch unscheinbarer Bungalow, vorne ein Parkplatz, gegenüber die Halle eines mittelständischen Industriebetriebs, im Flur ein Holztisch und ein Perserteppich, an der Wand Bilder der Familie und ein großer bronzener Ehrenteller des Flachsmarktes. Bedenkt man, dass hier der letzte Handwerker seiner Zunft lebt und arbeitet, ist man zunächst etwas enttäuscht. Doch die bodenständige Behausung passt zum Wesen des 68-Jährigen, der sich aus all dem Trubel, den seine Einzigartigkeit mit sich bringt, nicht allzu viel macht. Dabei hätte er allen Grund dazu, denn bei L’Hiver, wie seine Zylindermanufaktur heißt, geben sich die Prominenz und der Adel der ganzen Welt die Klinke in die Hand: De Winter fertigte in seiner 55-jährigen Karriere schon Zylinder, Melonen und Zweispitze für Adelsfamilien, Präsidenten und Hollywood-Größen. Und wenn die Berühmtheiten nicht im beschaulichen Uden einkehren, fährt der Zylindermacher kurzerhand selbst hin, zum Beispiel ins holländische Königshaus, und nimmt dort Maß. „Ob königliche Köpfe oder Zigeunerköpfe – ich mache da keinen Unterschied. Das sind doch alles Menschen“, betont de Winter, schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch und beginnt schallend zu lachen. Ohnehin lacht der bestens gelaunte Zylindermacher viel und ruft auch gleich selbst die naheliegende Assoziation zum verrückten Hutmacher aus Alice im Wunderland hervor: „Ich bin ziemlich verrückt, aber auf eine positive Art. Das gehört wohl zum Beruf dazu.“
Wenig, so scheint es, kann das positive Gemüt des Handwerkers trüben, doch eines stimmt ihn nachdenklich. Auch wenn sein Geschäft davon profitiert, dass es auf der Welt keinen zweiten gibt, der Zylinder auf seine traditionelle Art- und Weise fertigen kann, so fehlt ihm der Austausch mit Gleichgesinnten: „Wenn du allein bist mit etwas, bist du eben allein. Die Leute kommen mit Fragen zu mir, denn was ich mache, findet man nicht im Internet. Es ist ein Wissen, über das nur ich verfüge. Ich hingegen kann niemanden fragen.“ Um der Nachwelt das seltene Wissen um seine Handwerkskunst zu erhalten, gibt er es an seine Kinder und Enkel weiter, die bereits fleißig im Familienbetrieb mitarbeiten, in dem auch seine Frau und Schwester tätig sind. Und auch ein Buch schrieb de Winter in den vergangenen Jahren gemeinsam mit einer Professorin der Universität Nimwegen – das erste und einzige wissenschaftliche Standardwerk über die Zylindermacherei. „Es gab schon damals, als ich das Handwerk erlernte, nicht sehr viele Zylindermacher, denn es ist ein hochkomplexes Unterfangen. Daher reiste ich während meiner Ausbildung um die ganze Welt, um von den wenigen damals noch lebenden Meistern zu lernen“, erinnert sich de Winter an seine aufregende Lehrzeit, die bereits im Alter von 13 Jahren begann und erst fünf Jahre später endete. Die Faszination für Hüte erwarb er noch früher als kleines Kind im Geschäft des Vaters, der zwar keine Hüte fertigte, aber verkaufte. „Menschen die einen Hut aufsetzen, verhalten sich anders. Das ist etwas, was mich von Beginn an fasziniert hat und bis heute fasziniert“, sagt de Winter und führt in sein Allerheiligstes: die Werkstatt.

Dampf ist eine essentielle Zutat im Handwerk des Zylindermachers Boy de Winter
„Mein Handwerk ist dreidimensional. Man kann es sehen, hören und riechen“, erklärt der Niederländer mit Blick auf die vielen antiken Werkzeuge, die auf langen Arbeitstischen entlang der Fenster seiner Werkstatt verteilt liegen. Verschiedenartig Hämmer, Bügeleisen, eine Dampfmaschine – Blickt man umher, so könnte man sich auch in einem Museum für mittelalterliche Handwerkskunst befinden. Denn zwischen den identifizierbaren Gerätschaften gibt es auch Spektakuläres, wie den sogenannten Conformateur, ein kopfgroßes Gestell mit unzähligen kleinen Holzstiften, das dem künftigen Zylinderträger aufgesetzt wird, um die exakten Konturen des Schädels aufzunehmen. Und das Gegenstück, den Formateur, der dazu dient, die aufgenommenen Schädelkonturen in eine passgenaue Form für die Schellack-Unterkonstruktion des Zylinders zu übersetzen. „Diese beiden Geräte sind sehr wichtig für mein Handwerk. Sie stammen aus dem Jahr 1840 und ich lasse sie regelmäßig von einem Geigenbauer restaurieren“, kommentiert de Winter. Elektrische Maschinen sucht man in seiner Werkstatt indes vergeblich, denn de Winter betreibt echte und ausschließliche Handarbeit. „Ich bekam einmal Besuch von der technischen Universität in Utrecht.
Die Wissenschaftler wollten mit moderner Computertechnik ein maschinelles Verfahren für die Zylinderherstellung entwickeln“, erinnert sich der Handwerker. Sie scheiterten. Denn, das betont de Winter immer wieder, „das Handwerk ist hochkomplex. Ein Zylindermacher kann ohne Probleme Hüte machen, aber ein Hutmacher wird niemals einen Zylinder, eine Melone oder einen Zweispitz herstellen können.“ Bis ein Exemplar die Werkstatt von Boy de Winter in einem gut gepolsterten Metallkoffer verlässt, wird es immer wieder bearbeitet, zum Zwischentrocknen ins Lager gelegt und weiter bearbeitet – ein Prozess der bis zu vier Monate dauern kann. Ein solcher Aufwand hat natürlich seinen Preis. Je nach Ausführung und Sonderwünschen kann ein Exemplar bis zu 4.000 € kosten. „Meine Hüte sind nicht teuer, sie kosten nur viel Geld“, lacht de Winter und ergänzt: „Ein Zylinder hält eben viele Jahre und ist eine Investition fürs Leben.“
Auch ohne eine Kaufabsicht fasziniert das Handwerk des sympathischen Niederländers. Aus diesem Grund schlägt der Familienbetrieb jedes Jahr zu Pfingsten auf dem Linner Flachsmarkt seinen Stand auf, bei dem Besucher einen Einblick in die altehrwürdige und seltene Handwerkskunst erhalten können – oder einfach ihren bestehenden Zylinder restaurieren lassen. „Früher waren wir regelmäßig auf Märkten auf der ganzen Welt. Heute fahren wir nur noch zum Flachsmarkt. Und das bereits seit 1976, dem zweiten Jahr der Veranstaltung“, sagt de Winter, der aufgrund der langen Beteiligung tief mit dem Handwerkermarkt in Linn verwurzelt ist und sich immer wieder darauf freut. „Ich komme wegen den Menschen, denn viele kenne ich bereits seit Jahrzehnten“, betont de Winter und äußert einen besonderen Wunsch für den diesjährigen Flachsmarkt: „Früher haben die Kinder viel mehr Fragen gestellt als heute. Deshalb rufe ich alle Kinder Krefelds dazu auf, ein Schild mit der Aufschrift ‚Zuschauen ist Silber, Fragen ist Gold‘ mitzubringen.“
Der 42. Flachsmarkt findet von Samstag, den 3. Juni bis Montag, den 5. Juni rund um die Burg Linn statt. Weitere Infos unter: www.flachsmarkt.de