Meine Dame klaut seinen Läufer. Sein Springer bedroht meinen König und gleichzeitig einen meiner Türme. Ich muss mit meinem König aus der Schusslinie, prompt klaut sein Springer natürlich meinen Turm. Dann der Schlagabtausch: Seine Dame klaut meine Dame – mein Springer klaut seine Dame. Das Schachspiel zwischen mir und Hüseyin Michael Cirpici ist in vollem Gange. Und es sieht nicht gut aus für mich.

Hüseyin Michael Cirpici, regisseur der Tragödie Macbeth von Shakespeare
Im oberen Glasfoyer des Theaters ist es totenstill. Schummriges Licht aus Deckenlampen fällt auf die würfelförmige Lesebühne in der Mitte des Raumes. Auf der Bühne, einem Podest mit rotem Vorhang, sitze ich mit Hüseyin Michael Cirpici an einem Tisch und spiele Schach: Es hat gute Gründe, warum ich den 48-jährigen Regisseur an diesem verregneten Mittwochnachmittag im Januar zu einer Partie mit den schwarz-weißen Holzfiguren eingeladen habe. Zum einen, weil Cirpici gerne Schach spielt. Zum anderen, weil der Künstler zurzeit die berühmte Tragödie Macbeth von Shakespeare inszeniert und damit ein Stück, in dem es, genau wie beim Schach, auch um das Thema Macht geht. Gleichzeitig ist gerade Macbeth ein Stück, in dem doch mit Macht ganz anders umgegangen wird als bei dem coolen, durchdachten Strategiespiel. Deshalb ist die Partie Schach gerade eine echte Unterbrechung von den vielen Proben, die den Terminkalender Cirpicis momentan bestimmen – und bietet parallel eine spannende Diskussionsgrundlage darüber, was zu einem gesunden Umgang mit Macht eigentlich gehört.
Sicherlich nicht das, was in Macbeth, jener um 1606 von William Shakespeare verfassten Tragödie, als eines der bekanntesten Werke des englischen Dramatikers passiert. „Macbeth“, fasst Cirpici den Inhalt zusammen, „ist ein hochrangiger Heerführer Schottlands, der sich, nachdem ihm zu Stückbeginn drei Hexen den Königstitel prophezeien, verführen lässt, König von Schottland zu werden: Angestachelt von seiner Gattin, Lady Macbeth, ermordet er den amtierenden König Duncan und besteigt den königlichen Thron. Auf diesem kann er sich aber nicht halten, weil er zu unbedachten Verhaltensweisen neigt, mit denen er sich selbst im Wege steht und die ihn überdies auch als Königsmörder entlarven – und es seinen Gegenspielern ermöglichen, ihn letztendlich zu töten.“
„Ich will den Zuschauer mitnehmen, indem ich sein Bauchgefühl anspreche. Die Zuschauer sollen (…) das Theaterstück mitatmen, sie sollen in das Stück hineingezogen werden und das Dargestellte nachfühlen und nachspüren.“
Macbeth in aller Kürze. In aller Würze. Mit dem Shakespeare-Klassiker verbindet Cirpici eine ganz besondere Beziehung. Als Sohn einer Deutsch-Niederländerin und eines Türken in Krefeld geboren und in Uerdingen zur Schule gegangen, war Macbeth für Cirpici nach seinem Schauspielstudium in Stuttgart das „erste professionelle Theaterstück“, in dem er Anfang der 90er Jahre am Schauspielhaus Bochum mitgespielt hat. Dass er sich diesem nun erneut widmen darf, jetzt als Regisseur, freut ihn, entspricht gerade dieser hochemotionale Plot mit seiner hochemotionalen Hauptfigur doch ganz seiner Art, Theater zu machen. „Ich will den Zuschauer mitnehmen, indem ich sein Bauchgefühl anspreche. Die Zuschauer sollen das Theater, die Bühne, nicht als kunsthaftigen Raum begreifen, den sie intellektuell betrachten und reflektieren. Sondern sie sollen das Theaterstück mitatmen, sie sollen in das Stück hineingezogen werden und das Dargestellte nachfühlen und nachspüren“, erklärt der Regisseur. Der Regen trommelt leise gegen die Scheiben des Glasfoyers, während der Regisseur so über seine neue Inszenierung spricht. Gleichzeitig spielt er weiter mit mir Schach. Gerade setzt er einen Bauern ein Feld nach vorne. Kühl-strategisch vorauszudenken, genau das geht dem hitzköpfigen Macbeth ab. „Der hätte sich was von einem Schachspieler abgucken können,“ grinst Cirpici und fährt sich mit der Hand durch seine wilden, grauen Locken.
Eine gute Strategie zeichnet einen Schachspieler aus bei seinen Bestrebungen, über seinen Gegner Macht zu erlangen; eine Strategie lässt Macbeth völlig vermissen. „Der bedenkt maximal den nächsten Zug seines Vorgehens, dann weiß er nicht mehr weiter“, sagt Cirpici. „Er verliert sich in seinem Verlangen, den Königsthron an sich zu reißen, die Machtgier im Visier: Er agiert nicht distanziert“ – Shakespeares Hauptfigur fehlt die kalte Ekstase. Mir als Schachspielerin übrigens auch. Soeben bringt der Regisseur wieder meinen König in die Schusslinie, diesmal bedroht er ihn mit einem seiner Türme. Ich kann meinen König kurzfristig retten, dann ist es aus mit mir: Cirpici bedroht mit einem zweiten Turm erneut meinen König, der kann nun nirgendwohin mehr ausweichen. „Das war’s wohl“, lächelt Cirpici mich an. Dann steht er auf. Nimmt seine Jacke. Macht sich auf den Weg zu seiner nächsten Probe für Macbeth. Ich bleibe alleine zurück auf der Lesebühne, im Schummerlicht aus Deckenlampen. Die Begegnung mit Cirpici, die Beschäftigung mit der Magie der Macht haben mich elektrisiert, ich werde mir Macbeth ansehen. Werde mich mitreißen, berühren, aber nicht verführen lassen, sondern das strauchelnde Wesen von Macbeth erspüren. Und dann gewinne ich die nächste Partie Schach. Ohja!
Macbeth ist am Theater Krefeld zu folgenden Terminen zu sehen: 3., 12., 26. und 28. Februar, jeweils um 19.30 Uhr, am 2. März um 19.30 Uhr sowie am 24. April um 16 Uhr und am 12. Mai um 19.30 Uhr.
Karten-Telefon: 02151-805-125, theaterkasse-kr@theater-kr-mg.de