In Krefeld gibt es das „MediMobil“, eine fahrbare Arztpraxis, die sozial bedürftige Menschen in der Rheinstadt vor Ort medizinisch versorgt. Das „MediMobil“ wird getragen von der Caritas Krefeld und der Diakonie Krefeld-Viersen und ist ein rein ehrenamtliches Projekt. KR-ONE ist bei einer Schicht mitgefahren und hat viel Leid gesehen – und auch Freude.

„MediMobil“ - Helfen, einfach so

Seine Augen leuchten auf, als der weiße Transporter um die Ecke biegt, vor dem Südeingang des Hauptbahnhofs zum Stehen kommt. Detlef Schemel breitet seine Arme aus, ruft „Hallo!“. So schnell er kann, bewegt er sich auf das Auto zu, und er kann nicht so schnell. Sein Knie tut heute wieder sehr weh, er zieht das rechte Bein nach, aber er will nicht zum Arzt damit. Er wartet lieber, bis der weiße Transporter kommt, immer dienstagabends, zum Hauptbahnhof. Denn dann kann Schemel sicher sein, dass er nicht weggeschickt wird. Der Arzt kommt ja zu ihm.

Der Transporter ist das sogenannte „MediMobil“, ein Projekt, das die Caritas Krefeld und die Diakonie Krefeld-Viersen seit 2002 trägt: eine Art fahrende Arztpraxis, die für Menschen wie Detlef Schemel da ist. Schemel, 52, hat keine Arbeit, war acht Jahre lang obdachlos, seit zwei Monaten lebt er in einer Wohnung, die ihm die Bahnhofsmission vermittelt hat. Schemel gehört zu den Menschen in Krefeld, die in soziale Not geraten sind, und schon lange hat er starke Schmerzen im rechten Knie. „Vor zehn Jahren war ich beim Arzt damit, aber der wollte mich nicht behandeln, weil ich damals keine Krankenversicherung hatte“, erzählt er. Irgendwann hat er das „MediMobil“ entdeckt, einen mittelgroßen Transporter in dem man aufrecht stehen kann. Es gibt eine lederbezogene Liege darin und eine große durchsichtige Kiste aus Plastik mit Medikamenten, aber vor allem: es gibt einen Arzt darin, der einem hilft und einen nicht wegschickt. Seitdem holt sich Schemel dort seine Schmerztabletten ab.

„MediMobil“ - Helfen, einfach so

Die Arbeit fürs „MediMobil“ hat ihren Blick „weicher gemacht“: Katrin Würfel, 35, Assistenzärztin der Inneren Medizin am Helios-Klinikum Krefeld

So wie an diesem Dienstagabend im April. Es war einer der ersten schönen Tage im Jahr, jetzt ist früher Abend, aber die Luft ist noch ganz warm. Es ist kurz nach halb sieben, der Krefelder Hauptbahnhof ist eine von drei Stationen, die das „MediMobil“ neben dem „Beratungszentrum für Wohnungslose“ in der Lutherstraße und dem Theaterplatz anfährt, mit der Internistin Katrin Würfel an Bord. Würfel bekommt keinen einzigen Euro für ihren Dienst.

Das „MediMobil“ ist ein ehrenamtliches Projekt. Würfel gehört zu einem Team von sechs Ärzten, die unbezahlt nach ihrem Feierabend zu Orten in Krefeld fahren, an dem sich viele sozial bedürftige Bürger aufhalten, um sie dort medizinisch zu versorgen. Das Projekt besteht außerdem aus Menschen, die sich unbezahlt nach Feierabend hinter das Steuer des Transporters setzen: Der Fahrer des heutigen Dienstags heißt Andreas Eisendle, ist 48 Jahre alt, Speditionskaufmann und wohnt in Ratingen. 2012 hat er über das „MediMobil“ in der Zeitung gelesen, „das ist aber eine gute Sache“ hat er gedacht, und seit drei Jahren kommt er für diese gute Sache mehrmals im Monat extra von Ratingen nach Krefeld. „Das ist die Grundeinstellung der Menschen, die bei uns mitmachen“, sagt Torsten Gärtner, 44, seit 2011 Betreuer des „MediMobil“ bei der Caritas Krefeld. Diese Grundeinstellung ist so einfach wie spektakulär, „die Menschen“, sagt Gärtner, „die ,MediMobil‘ möglich machen, denken sich: ,mir geht es gut, also kann ich denen, den es nicht so gut geht, etwas davon abgeben’.“ Und so tragen die Wohlfahrtsverbände sonst nur die organisatorischen Kosten, indem sie zum Beispiel hin und wieder Fahrer stellen oder die laufenden Betriebskosten, wie das Benzin für das „MediMobil“, bezahlen. Der Rest läuft komplett ehrenamtlich. Medikamente und Verbände spendet außerdem die Krefelder Roland-Apotheke. Das Auto selbst ist von der Uerdinger Familie Melcher und dem Helios finanziert worden. Den Innenausbau trug wiederum die Caritas. Und die sozial bedürftigen Krefelder sind unendlich dankbar für diese Selbstlosigkeit.

„Durchschnittlich haben wir über die letzten Jahre immer um die 250 Kontakte pro Jahr gehabt“, sagt Gärtner. „In der Regel kann man von fünf bis sieben Kontakten pro wöchentlichem Einsatz ausgehen.“ Wie viele Menschen in Krefeld auf der Straße leben, ist schwer nachvollziehbar, und je nachdem, welche Stelle man fragt, schwanken die Angaben stark. So berichtet Wolfram Gottschalk, Leiter des Fachbereichs „Soziales, Senioren und Wohnen“ bei der Stadt Krefeld, der Stadt seien „20 Menschen“ als „offiziell obdachlos“ gemeldet. Peter Kraps, Pressesprecher der Agentur für Arbeit und des Jobcenters Krefeld, spricht von 28.178, die Sozialleistungen – umgangssprachlich ,Hartz4′ – empfangen; rund 80 bis 90 davon haben keinen festen Wohnsitz. Von Horst Renner, Geschäftsführer der „Obdachlosenhilfe linker Niederrhein“, wiederum kommt eine ganz andere Zahl. Renner ist durch seinen Einsatz für Projekte wie etwa dem Krefelder „Kältebus“ seit fünf Jahren im direkten Kontakt zu obdachlosen Bürgern in der Rheinstadt. Er schätzt, dass in Krefeld „bis zu 400 obdachlose Menschen“ leben. Etwa ein Viertel von ihnen seien Frauen und sehr viele junge Menschen „die weder ein Dach über dem Kopf haben, noch eine Krankenversicherung“, die es ihnen erlauben würde, sich von einem Arzt behandeln zu lassen. Eine Stadt in der Größenordnung wie Krefeld bewege sich mit ihrer Anzahl obdachloser Menschen „etwas unter dem Bundesdurchschnitt“, so Renner. 400 sind aber immer noch 400 zu viel. Und auch für diese Menschen, unterstreicht Renner, „muss eine mobile medizinische Versorgung gesichert sein“.

Katrin Würfel setzt sich seit zwei Jahren dafür ein, so lange ist die 35-Jährige, die als Assistenzärztin in der Inneren Medizin am Helios Klinikum arbeitet, beim „MediMobil“ dabei. Der weiße Transporter ist inzwischen weitergefahren, hat jetzt am Theaterplatz gehalten. Gerade untersucht Würfel die Füße von Dieter, 58, der nur seinen Vornamen sagen will. Dieter lebt von Hartz 4, hat eine kleine Wohnung und „Thrombosen im Becken und deshalb starke Schmerzen“. Er hat zwar eine Krankenversicherung, aber auch er wartet lieber, bis das „MediMobil“ zu ihm kommt, anstatt zu einem Arzt zu gehen. „Hier wird mir geholfen, ohne dass ich miese Blicke ernte“, sagt Dieter. „Vielleicht bilde ich mir das ja ein. Aber ich glaube, es ist schon richtig, was ich fühle.“ Vorsichtig betastet Würfel Dieters Füße, auf denen sich offene Wunden gebildet haben, streicht Salbe auf die Wunden. Dann gibt sie Dieter Tabletten mit und entlässt ihn wieder. „Natürlich sind uns medizinische Grenzen gesetzt“, sagt Würfel. „Wir können keine Operationen durchführen, bieten ausschließlich akute Erstversorgung an und geben Medikamente gegen Schmerzen oder Erkältung aus.“ Gleichzeitig hat Würfel bei ihren Einsätzen das Gefühl, eine „neue Seite der Medizin“ kennenzulernen: „wie man mit möglichst wenigen Mitteln möglichst viel machen kann“.

„MediMobil“ - Helfen, einfach so

Würfel pustet sich eine Strähne ihrer langen dunklen Haare aus der Stirn. Die 35-Jährige hat eine Zehn-Stunden-Schicht im Krankenhaus hinter sich und ein T-Shirt an, auf dem „I need coffee now“ steht. Die Arbeit beim „MediMobil“ hat ihren Blick, ihre Einstellung „weicher gemacht“, hat Platz für mehr Verständnis bei ihr geschaffen, sagt sie. „Warum geht es den Menschen so, wie es ihnen geht? Was steckt für ein Schicksal dahinter?“, diese Frage beschäftige sie, seit sie sich für das „MediMobil“ engagiere. Sozial Bedürftigen kann man viel vorwerfen. Man kann ihnen vorwerfen,  dass sie an ihrer Lebenssituation ein Stück weit selber Schuld sind, weil sie Drogen nehmen, weil ihr Gesundheitsbewusstsein mies ist, weil sie sehenden Auges verantwortungslos mit sich umgehen. Zusätzlich kann man den Versuch unternehmen zu verstehen, in welchem Teufelskreis diese Menschen stecken und wie viel Kraft es kostet, aus diesem Teufelskreis herauszukommen, steckt man einmal so tief drin. Würfel hat verstanden, dass die Menschen „regelrecht Angst haben,  in eine Praxis zu gehen und in einem Wartezimmer zu sitzen, weil sie abgestempelt werden“. Besonders viele Hemmungen gebe es auch vor dem Gang zum Zahnarzt. Deshalb bietet die Caritas Krefeld in ihrer Notschlafstelle an der Melanchthonstraße seit 2014 auch eine zahnärztliche Erstversorgung an. Die Sprechstunde heißt „Denti vor Ort“ und ist alle 14 Tage dienstags von 18.30 Uhr bis 19 Uhr geöffnet. Die Caritas Krefeld hat sie auf Anregung der Krefelder Zahnärztin Dr. Eva Pavel eingerichtet. Mittlerweile ist es kurz nach halb acht. Die Schicht heute wird nicht mehr lange gehen, „das ist immer ganz unterschiedlich“, sagt Ärztin Würfel, „mal haben wir nicht so viel zu tun, wir waren aber auch schon mal bis 22 Uhr im Einsatz“. Sie habe noch nie eine „Nullrunde“ erlebt. Also, dass keiner kommt. Tritt man den Menschen offen gegenüber, kämen sie ebenso offen auf einen zu. Manchmal aus Sucht getriebenen Gründen. Vorhin, als das „MediMobil“ am Theaterplatz Halt gemacht hat, kam ein junger Mann auf den weißen Transporter zu gelaufen. „Haben Sie Spritzen?“, hat er Würfel gefragt, aber die Ärztin hat bedauernd den Kopf geschüttelt. „Wir geben keine Spritzen aus“, hat sie geantwortet.

„MediMobil“ - Helfen, einfach so

Lebte acht Jahre lang auf der Straße: Detlef Schemel

Und dann erlebt man auch Szenen wie diese: Das „MediMobil“ will gerade wieder abfahren, da kommt der 58-jährige Dieter, den Würfel vorhin wegen seiner schmerzenden Füße behandelte, noch einmal zum Transporter zurück, „das muss ich Ihnen erzählen!“, ruft er atemlos. In der Hand hält er eine Ecke von einer Pizza, er strahlt über das ganze Gesicht. Da sei eben ein Passant auf den Theaterplatz gekommen, mit einem großen Karton und einer Riesenpizza drin, erzählt Dieter. „Er hat uns die Pizza hingestellt und allen einen guten Appetit gewünscht.“ Einfach so.