Gott im Himmel hat uns zu Weihnachten seinen Sohn, den Erlöser geschenkt und auf eine neue Art war er nie so erlösend wie heute, der Heilige Abend. Er befreit nämlich viele von uns von dem Martyrium der Schuldgefühle und Versagensängste des vorweihnachtlichen Beschaffungsdrucks. Auch wenn wir nach einem kaloriengewaltigen XXL-Festmahl nicht wirklich von Erleichterung sprechen können und uns das Aufatmen bei einem Magendruck von gefühlten zehn Bar schwer fällt, so sind wir doch froh, die Mission impossible der passenden Geschenkideen mehr oder weniger erfüllt zu haben. Unsere Gedanken sind wieder frei und streifen erschöpft über die Berge von zerrissenem Geschenkpapier und schmutzigem Geschirr hin zu den Kinderzimmern, in denen dank virtueller Aggro-Software am Fest der Liebe mehr Aliens und Fantasy-Krieger gekillt werden als Menschen im gesamten zweiten Weltkrieg. Papas Seele baumelt mit gemischten Gefühlen am imaginären Bungeeseil des Jochen Schweizer-Actiongutscheins und Mama versucht angesichts der von der Familie spendierten Botox-togo-Behandlung nicht die Beherrschung zu verlieren. Immerhin hat sie ihrem Mann mit der zwei Tage vor Weihnachten geäußerten Beschwerde über die kleinen Falten an den Mundwinkeln unbewusst zu diesem Geschenk inspiriert. Sie nimmt den kosmetischen Sanierungsvorschlag hin, weil sie spürt, dass sie mit ihrer Bemerkung dem ratlos umherirrenden Gatten im letzten Moment den glücklichsten Augenblick der Adventszeit beschert hat. Und überhaupt. Wir betrachten den Countdown der vier Adventskerzen nicht mehr als das Zeitfenster froher Erwartung, sondern als die Schießscharte eines eingeschränkten Handlungsspielraums. Die bereits am Ende des Sommerschlussverkaufs mit Schokoladenweihnachtsmännern und Lebkuchen gefüllten Regale scheinen uns nun zu verhöhnen: „Sieh mich an, Du ignoranter Schlumpf. Du hattest Zeit genug, Dir über die Herzenswünsche deiner Familie, der Freunde und Geschäftspartner den Kopf zu zerbrechen!“ Doch was ist, wenn der Herzenswunsch des Lebenspartners die pure Anerkennung seiner Wunschlosigkeit ist? Was sollen wir schenken in Zeiten, in denen an Kindergeburtstagen mobile Delphinarien vorfahren oder ehemalige Artisten des russischen Staatszirkus durch die Wohnzimmer turnen? Was bleibt noch übrig, wenn wir den kleinen Wünschen keine Gelegenheit mehr geben, sich zum vorweihnachtlichen Bedürfnis zu entwickeln, weil wir sie über‘s Jahr hinweg via Mausklick im Handumdrehen erfüllen? Das Fest der Liebe und der Freude ist überschattet von der Trauer, wenn wir den großen Wunsch unserer Angehörigen nicht erfüllen können, von der Sorge um den Zoff, der entsteht, wenn wir ihre heimlichen Wünsche nicht bemerkt haben und von der Angst vor dem Reinfall mit dem Einfall. Dabei wäre es vielleicht einfacher, wenn wir uns und unseren Lieben unsere Ratlosigkeit eingestehen, unsere wunschlose Zufriedenheit vermitteln und die Vorstellung einer vom Lichterglanz durchfluteten Leere unter dem Weihnachtsbaum ertragen könnten.

 

Wolfgang Jachtmann  

Jachtmanns Buch „LG von Malle an alle!“ ist in der Klein’schen Buchandlung, in Hüls sowie im Internet käuflich. Das ideale Weihnachtsgeschenk für Freunde feinsinnger Unterhaltung