Krefeld. Eine Nacht im Juni 2016. In einer Erdgeschosswohnung im Stadtteil Gartenstadt klingelt das Handy einer Studentin. Als Sara S.* aus dem Schlaf hochschreckt und abnimmt, dringt nur ein Atemgeräusch an das Ohr der jungen Frau, die allein im Bett ihres dunklen Zwei-Zimmer-Appartements liegt. Sie legt sofort auf, in ihrem Bauch breitet sich ein heißkaltes Gefühl aus, das sie zuvor nur aus dem Flugzeug kannte. „Wie, wenn der Flieger plötzlich absackt, so fühlte sich das an“, beschreibt sie es später einer Freundin. Anders als der kurze Adrenalinkitzel über den Wolken hält das mulmige Gefühl in Saras Körper an. Als sie sich die warme Decke wie ein Schutzschild bis ans Kinn zieht, ist an Schlaf nicht mehr zu denken. Anrufe wie diesen wird es in der folgenden Zeit immer wieder geben. Morgens findet die 27-Jährige oft Briefe, die mit Tesafilm an ihr Küchenfenster geklebt wurden, erhält täglich WhatsApp-Nachrichten, manchmal Dutzende innerhalb weniger Stunden. Nach wenigen Wochen, in denen sich die übergriffigen Kontaktversuche häufen, ist klar: Sara hat es mit einem Stalker zu tun.

 

Unter dem Begriff „Stalking“ werden alle Formen penetranten Verfolgens oder Belästigens einer Person verstanden; dazu zählt sowohl aktives Nachstellen als auch Terrorisierung über Telefon, Post, Mail oder soziale Medien. Stalker können aus allen sozialen Schichten kommen, unabhängig von Alter, Bildungshintergrund oder Beruf. Was sie eint, ist ein gestörtes Verhältnis zu Beziehung und zwischenmenschlichen Grenzen, gespeist von
einem geringen Selbstwertgefühl. Häufig gehören Stalker zum sozialen Umfeld ihres Opfers – nicht selten handelt es sich um frühere Beziehungspartner oder Arbeitskollegen. Auch Sara kennt ihren Stalker. „Das war ein
Exfreund von mir. Wir hatten anderthalb Jahre lang eine Beziehung geführt“, erzählt sie. Während sie an ihren Verfolger zurückdenkt, knetet Sara unruhig ihre Fingerkuppen. Ihr Gesicht möchte sie aus nachvollziehbaren Gründen nicht zeigen. Zu groß die Sorge, dass ihr Stalker sich ihr wieder nähert.

In rund 80 Prozent der Stalkingfälle sind Frauen die Opfer. Wer sich dem menschlichen Schatten allein zu stellen versucht, endet schnell in einer scheinbar aussichtslosen Situation: Nicht selten erkranken Betroffene aufgrund der psychischen Belastung an Depressionen oder Angststörungen. Auch Sara wurde der tägliche Albtraum irgendwann zu viel. „Wenn du jeden Morgen mit der Gewissheit aufwachst, dass du nicht allein bist, dass du nie deine Ruhe hast, zermürbt dich das einfach“, erzählt die Studentin.

 

„Das Wichtigste, was wir den Opfern anbieten, ist zunächst einmal Empathie und Respekt,denn das Thema ist sehr  schambehaftet. Viele Frauen glauben, sie hätten Schuld an dem, was ihnen widerfährt.“

 

 

Therese Fröschen und Tanja Heier von der Frauenberatungsstelle Krefeld wissen, vor welch großer Herausforderung Betroffene wie Sara stehen. Die Beraterinnen fangen die Opfer auf, bieten Erstberatungsgespräche, längerfristige Betreuungs- und Therapieprogramme sowie akute Krisenhilfe an. „Das Wichtigste, was wir den Opfern anbieten, ist zunächst einmal Empathie und Respekt“, erläutert Tanja Heier, „denn das Thema ist sehr schambehaftet. Viele Frauen glauben, sie hätten Schuld an dem, was ihnen widerfährt.“ Auch Sara war lange überzeugt, ihrem Exfreund Unrecht getan zu haben. „Ich habe erst gedacht, dass er einfach schlimmen Liebeskummer hat. Die Trennung ist nicht leicht für ihn gewesen“, erzählt sie und schüttelt den Kopf. „Heute kann ich nicht mehr verstehen, dass ich wirklich so lange die Schuld auf mich genommen habe. Rückblickend war das, was er da getan hat, einfach nur krank.“ Therese Fröschen hat derartige Fälle schon häufig erlebt. „Neben Wut oder Hass sind übersteigerte Zuneigungsgefühle ein häufiger Auslöser für Stalking. ‚Weil ich sie doch so liebe. Und eines Tages wird sie erkennen, dass wir zusammengehören‘“, fasst die Trauma-Fachberaterin zusammen. Der vermeintliche Liebeskummer sei aber eine ernstzunehmende Form psychischer Gewalt.


„Neben Wut oder Hass sind übersteigerte Zuneigungsgefühle ein häufiger Auslöser für Stalking.“

 

Dass sich Sara für die Situation verantwortlich fühlte, können Therese Fröschen und Tanja Heier gut nachvollziehen. „Viele Frauen haben den Wunsch, eine für beide Seiten möglichst faire Lösung zu finden. Sie glauben, sie könnten ihren Stalker erreichen und dazu bringen, sein Verhalten zu ändern“, so Heier. Jegliche Form der Reaktion auf die Kontaktversuche des Täters bestärke diesen jedoch in seinem Handeln. Besonders wichtig sei es deshalb, Freunde und Familie in die Situation einzuweihen und sich aktiv gegen die Belästigung zu positionieren. Erster Schritt: konsequenter Kontaktabbruch. Diesen Versuch unternahm auch die junge Studentin. „Das ging einfach nicht mehr. Ich konnte und wollte das nicht mit mir machen lassen. Ich habe ihn dann auf WhatsApp blockiert und bin nur noch in Begleitung rausgegangen. Die Anrufe habe ich auch ignoriert“, erzählt die junge Frau. „Er hat aber weiterhin versucht, an mich ranzukommen. Irgendwann habe ich mich dann auch an einen befreundeten Anwalt gewandt.“ Sie sei überrascht gewesen, dass dieser sofort einen Lösungsvorschlag hatte machen können.

 

Wer sich bedroht fühlt, kann im ersten Schritt ein vom Anwalt formuliertes Schreiben an den Täter senden, um klarzustellen, dass im Ernstfall rechtliche Schritte eingeleitet werden.

 

 

 

 

Von Polizei und Justiz wird Stalking als Gewalttat eingestuft. Die kürzlich in Kraft getretene Änderung des Nachstellungsparagrafen 238 im Strafgesetzbuch gibt Betroffenen eine bessere juristische Handhabe gegen die Täter. „Vor der Änderung des Gesetzes musste die Situation eine tatsächliche Beeinträchtigung des alltäglichen Lebens des Opfers hervorgerufen haben. Die neue Gesetzeslage setzt die Grenze niedriger an“, erklärt Rechtsanwältin Anna Kordes, die selbst bereits von Stalkingopfern konsultiert wurde. „Nun reicht es aus, wenn ein Maß an Nachstellung vorliegt, das die Lebensgestaltung schwerwiegend beeinträchtigen könnte.“ Dies ermöglicht es der Justiz, mehr Fälle von Stalking zu ahnden. Wer sich bedroht fühlt, kann im ersten Schritt ein vom Anwalt formuliertes Schreiben an den Täter senden, um klarzustellen, dass im Ernstfall rechtliche Schritte eingeleitet werden. „Sobald wiederholte Handlungen vorliegen, die eine Mandantin oder einen Mandanten beeinträchtigen, können eine Strafanzeige oder ein Antrag auf Gewaltschutz gestellt werden“, weiß Anna Kordes. „Auch diese Dokumente werden dem Täter zugesandt, um ganz klar die juristische Grenze aufzuzeigen.“

Im Fall Sara S. reichte das Initialschreiben aus, um ihren Stalker fortan auf Abstand zu halten. „Er hatte einen sehr gut bezahlten Job, der ihm wahnsinnig wichtig war. Ich glaube, das offizielle Schreiben hat ihm Angst
gemacht, sich irgendwann tatsächlich vor Gericht verantworten zu müssen und dadurch negativ aufzufallen“, vermutet sie rückblickend. Kurz nachdem das Schreiben die Kanzlei verlassen hatte, hörten die nächtlichen Anrufe auf. Am Fenster hefteten keine obszönen Briefe mehr. Sara hatte Glück im Unglück. Der Täter entschloss sich nicht, später erneut Kontakt aufzunehmen. Nicht jede Betroffene kann so schnell ein Ende des Albtraums erwirken. „Manche Stalker sind sehr hartnäckig. Einige Opfer werden über Jahre hinweg verfolgt“, so Therese Fröschen. Um eine wirksame Vorgehensweise auszuarbeiten, sei eine Verquickung unterschiedlicher Hilfsinstanzen aus Beratung, Exekutive und Judikative ratsam. In Krefeld besteht ein Ring aus Anlaufstellen, die sich unter dem Slogan „Stark gegen Stalking“ für die Belange der Opfer einsetzen und zu diesem Zweck miteinander kooperieren.

Stalking

Laut § 238 „Nachstellung“ des Strafgesetzbuches wird mit einer Freiheitsstrafe (bis drei Jahre) oder mit Geldstrafe bestraft, „wer einer anderen Person in einer Weise unbefugt nachstellt, die geeignet ist, deren Lebensgestaltung schwerwiegend zu beeinträchtigen, indem er (…) die räumliche Nähe dieser Person aufsucht, (…) Kontakt zu dieser Person herzustellen versucht, (…) unter missbräuchlicher Verwendung von personenbezogenen Daten dieser Person Bestellungen (…) für sie aufgibt oder (…) Dritte veranlasst, Kontakt mit ihr aufzunehmen, (…) diese Person mit (…) Verletzung (…) bedroht oder eine andere vergleichbare Handlung vornimmt. (Quelle: www.gesetze-im-internet.de/stgb/_238)

 

Alle Erinnerungen an die Schreckensperiode hat Sara inzwischen vernichtet. Experten empfehlen allerdings, Nachrichten zu archivieren oder einer Vertrauensperson zur Verwahrung anzuvertrauen, da sie im Falle einer Strafverfolgung als Beweismittel dienen können. Saras Verfolger scheint jedoch einen Schlussstrich gezogen zu haben. Dennoch hat er nachhaltigen Schaden angerichtet. In ihren Albträumen sieht sich Sara noch manchmal mit dem Mann konfrontiert. Wenn die heute 29-Jährige hochschreckt, durchzuckt das altbekannte heißkalte Ziehen ihren Bauch. „Ich habe jedes Mal kurz Panik, dass plötzlich wieder eine Nachricht an meinem Fenster klebt, wenn ich von ihm geträumt habe“, erzählt sie. Doch wenn sie in die Küche geht, um nachzusehen, sieht sie nur die Kirschlorbeerhecke des Nachbarn durch ihre Fensterscheibe.

*der Name des Opfers wurde von der Redaktion geändert

 

Frauenberatungsstelle Krefeld
Carl-Wilhelm-Straße 33, 47798 Krefeld
Telefon: 02151-800571

Weißer Ring Krefeld
Telefon: 02151-935446