Deutsches Textilmuseum
Stoffe können sprechen. Zwar nicht in unserer Sprache, doch wenn sie dazu in der Lage wären, hätten sie uns einiges zu erzählen. Was würde das bestickte weiße Brautkleid berichten, das im Schaufenster des Secondhand-Ladens hängt? Und was hat wohl das ehrwürdige Gewand eines Papstes vor 500 Jahren erlebt? Wer die Aussagekraft von Textilien voll erfasst, dem offenbaren sie ihre Vergangenheit – von kurzen Anekdoten bis hin zu langen Geschichten.

Annette Schieck leitet das Deutsche Textilmuseum seit 2012
Dass Kleidung als Medium fungiert, ist wohl jedem geläufig. Nicht umsonst hat sich der Ausspruch „Kleider machen Leute“ gehalten, nicht grundlos spielt der persönliche Kleidungsstil eine so große Rolle für viele. Dass nicht nur Kleidungsstücke, sondern schon kleinste Stofffetzen oder Garne ganze Epochen (be-)greifbar machen, wissen nur wenige so gut wie Dr. Annette Schieck. Die Leiterin des Deutschen Textilmuseums in Krefeld ist eine der wenigen Expertinnen weltweit, die sich auf den Bereich Textilarchäologie spezialisiert haben. Wie Kollegen anderer Fachrichtungen Hieroglyphen entziffern oder Fossilien interpretieren, kann sie die Beschaffenheit von Stoffen in wertvolle gesellschafts-, industrie- oder modehistorische Informationen übersetzen. „Ich finde, Stoffe können unendlich viel erzählen. Ich untersuche die Form, die Konturen, schaue mir die Gewebekanten an, suche nach Nahtspuren. Ich beachte das Gewebe, die Drehung der Garne. Dann versuche ich, das ganze Gewand zu rekonstruieren, zumindest virtuell. So kann ich herausfinden, wann und wo etwas getragen wurde. Dann schaue ich mir die Motivik an und finde heraus, ob sie etwas über den Träger aussagt, zum Beispiel über die Religiosität oder den Stand in der Gesellschaft. Das könnten wirjetzt schier endlos weiterführen“, erzählt sie. Obwohl Stoffe laut der Expertin ein großes Erkenntnispotenzial besitzen, hat der Fachbereich noch keine große Lobby. „Das hat auch damit zu tun, dass diese Arbeit sehr viel spezielle Kenntnisse erfordert“, erklärt Schieck, die das Deutsche Textilmuseum seit 2012 leitet und vorher bereits an mehreren Standorten wissenschaftlich tätig war.
Das Deutsche Textilmuseum: State of the Art-Forschung im beschaulichen Linn
Mit dem Deutschen Textilmuseum verfügt Krefeld – neben einem beliebten Freizeitziel – auch über eine international relevante Forschungs-, Konservierungs- und Restaurierungsstätte mit eigener fachspezifischer Bibliothek. „Man kann unsere Sammlung qualitativ durchaus in eine Reihe mit dem Victoria and Albert Museum in London einordnen. Sie wurde von Anfang an, also ab 1880, universell aufgestellt. Damals hat man Stücke aus allen Epochen und Kulturen zusammengetragen. Wir beschäftigen uns aktuell damit, nach und nach bestimmte Sammlungsteile zu analysieren. Drittmittelgeber wie das BMBF unterstützen Forschungsaktivitäten des Museums, seit 2017 fördert die Sparkassen-Kulturstiftung vier Forschungsprojekte von uns.“ Zur jüngsten
Forschungsarbeit der Archäologin und des Historikers Dirk Senger – „Textile Erwerbung und Sammlungsstrategien europäischer Museen in der NS-Zeit“ – ist erst kürzlich ein Buch erschienen. Parallel wird in Linn derzeit an ostasiatischen, präkolumbianischen und frühislamischen Textilien geforscht.
Die Arbeit mit historischen Stoffen erfordert eine Vielzahl besonderer Maßnahmen. Die Textilien müssen liegend aufbewahrt werden und benötigen konstante klimatische Bedingungen, um gut zu halten. Fasern können quellen
oder schrumpfen, wenn sich Temperatur oder Luftfeuchtigkeit ändern. Auch Licht vertragen die Stücke nicht gut. Deshalb werden sie dunkel gelagert und sind nur im Rahmen der Ausstellungen dem Licht ausgesetzt. „Ideal wäre es, wenn man die Teile nie rausholen würde“, lacht Annette Schieck. „Aber das geht natürlich nicht. Wir als Museum wollen natürlich nicht nur bewahren und sammeln, sondern auch zugänglich machen.“ Für die Handhabung der Objekte sind fünf Textilrestauratorinnen zuständig, die in akribischer Arbeit die Stoffe
restaurieren und für Ausstellungen vorbereiten.
Mode und Chemie – zwei verwobene Industrien
Vor wenigen Wochen tagte der CIETA-Kongress im Krefelder Institut, eine internationale Jahresversammlung der Textilforscherinnen und -forscher, die sich thematisch mit dem Kernthema der aktuellen Ausstellung befasste. In „Zeitkolorit“ werden die Zusammenhänge zwischen Textil- und Chemieindustrie aufgeschlüsselt. Der erste synthetische Farbstoff wurde bereits 1856 hergestellt. Das sogenannte „Mauvein“, ein intensiver Violettton, war ein reines Zufallsprodukt. „Henry William Perkin hat eigentlich ein Malariamittel gesucht. Bei seinen Experimenten kam dann dieser Farbstoff heraus“, weiß die Museumsleiterin. Ab diesem Zeitpunkt veränderte sich die Modeindustrie rasend – plötzlich konnten Farben schneller und billiger produziert werden, was nicht ohne Folgen für Hersteller und Konsumenten blieb. „Den wenigsten ist bewusst, dass Chemie- und Textilbranche auch in Krefeld durchaus Hand in Hand arbeiteten“, erzählt Schieck.
Seit Kleidung dank der Verwendung synthetischer Produkte für nahezu jedermann zugänglich ist, habe sich auch die Lesbarkeit der Stoffe verändert. „Es gibt noch heute modische Codes, aber einen bestimmten Stoff treffsicher
einer exklusiven Gesellschaftsgruppe zuzuordnen, ist nicht mehr ohne weiteres möglich. Interpretierbar sind unsere modernen Textilien noch immer – aber es wird schwieriger,“ erklärt die Museumsdirektorin. Was und wie viel unsere Kleidung in einigen hundert Jahren über unsere Gesellschaft erzählen wird, können wir heute noch nicht sagen. Die wachsende Initiative der Textilforschung wird jedoch sicher auch in ferner Zukunft noch Schlüsse aus den von uns hinterlassenen Stoffen ziehen können. Schließlich geben diese nicht allein Auskunft über ihre Herstellungsform, sondern auch über das, was sie im Laufe ihres Daseins erlebt haben.
Deutsches Textilmuseum
Andreasmarkt 8, 47809 Krefeld
Öffnungszeiten: Di-So 11-17 Uhr
Telefon: 02151-9469450
Die aktuelle Ausstellung „Zeitkolorit – Mode und Chemie im Farbrausch“ läuft noch bis zum 29. März 2020