Das Publikum grölt, mehr als 3.000 Zuschauer klatschen in die Hände und feuern die Athleten an, die sich für den Wettbewerb warm machen. Schon viele Wochen im Voraus haben sie sich qualifiziert, um beim „The Dutch Throwdown“, der Arena für Cross- Fit-Begeisterte schlechthin, anzutreten. Die Stimmung in der Halle ist aufgeladen: Durchtrainierte Körper warten auf den Startschuss, schon jetzt steht leichter Schweiß auf ihrer Stirn; die Nervosität, die Leistung zu bringen, steigt mit jeder Sekunde. Inmitten der Ansammlung bereitet sich auch Thomas van Leyen auf den Startschuss vor und zieht routiniert seine Warmmachhose aus. Plötzlich richten sich die Blicke der umliegenden Athleten auf ihn: Ausdrücke wie „Was macht der denn hier?“, „Kann der das?“ oder „Meint der das ernst?“ stehen in ihre Gesichter geschrieben. Aber Thomas van Leyen kann das, sogar besser als viele andere hier. Die befremdlichen Blicke motivieren den 47-Jährigen, sie spornen ihn an, und am Ende wird die Bewunderung die Verwunderung ablösen, denn der Niederrheiner wird mit einer Platzierung in der Tasche nach Hause fahren.

Thomas von Leyen hat sich zurück ins Leben gekämpft.
Es ist ein Sonntag im November 2009, als Thomas van Leyen für einen Routine-Einsatz im Rahmen seines Bereitschaftsdienstes noch einmal kurz in die Papierfabrik gerufen wird. Der Reparaturschlosser tauscht das defekte Montageteil aus, möchte dann nur noch eben oberhalb einer Walze ein Gerät mit der Wasserwaage kontrollieren, als sich die schwere Rolle selbstständig macht. Innerhalb weniger Sekunden ist der Schuh samt Fuß im Gerät verschwunden. Als der Familienvater erwacht, findet er sich in der Unfallklinik in Duisburg wieder. „Der Arzt sagte mir, dass mein Fuß eigentlich intakt sei, die Haut wäre allerdings völlig abgelöst“, erinnert sich van Leyen. „Laufen könnte ich damit trotzdem nie wieder.“ Denn die Haut könne zwar in einem zwei- bis dreijährigen, sehr schmerzhaften Verfahren transplantiert werden, es gebe aber nichts auf der Welt, das eine Fersenhaut ersetzen könne. „Und ohne Ferse kann man eben nicht auftreten“, sagt der Duisburger. „Übersetzt heißt das: Mein Fuß war für nichts mehr zu gebrauchen.“
Noch am gleichen Abend trifft Thomas van Leyen für sich eine Entscheidung: Er möchte sich und vor allem seine Familie mit zwei kleinen Kindern vor einem langen Leidensweg beschützen. Er sagt zu, seinen Fuß und einen Teil des Unterschenkels amputieren zu lassen. „Der Orthopädietechniker erklärte mir, dass es von der Funktionalität her am besten sei, wenn man den Unterschenkel rund 19 Zentimeter unter dem Knie abnehmen würde. So hätte man die Möglichkeiten, eine Prothese gut zu verwenden“, erklärt van Leyen. „Ich war eigentlich gesund, ich war bei Verstand, und mein größtes Geschenk war, dass ich selbst eine Entscheidung treffen konnte. Das hat die Zukunft einfacher gemacht.“
Nur vier Tage später werden in einer Operation der Fuß und ein Teil des Beines abgenommen. Die Wadenmuskulatur klappt der Operateur über den Knochen, sodass der Stumpf zukünftig geschützt wird und eine Prothese ohne Schmerzen verwendet werden kann. Schon kurze Zeit später kann der damals 37-Jährige wieder nach Hause. Mit Krücken kommt er zum ersten Mal in seine gewohnte Umgebung zurück. „Ich hatte zwei Mög- lichkeiten: Ich konnte mich wie ein Haustyrann gehen lassen und trauern, dass ich mein Bein verloren habe, dann wäre aber meine Familie wahrscheinlich auch weg gewesen. Oder ich konnte kämpfen“, sagt der Fami- lienvater. „Und das tat ich.“

ür die Familie van Leyen ist Sport mehr als nur ein gemeinsames Hobby. Sebastian Scheppler (hinten rechts) von iFunc dient als Motivator und Trainer
Schon im Januar steht vor der Haustüre ein behindertengerechtes Auto: Noch während seiner Krankschreibung kann der Reparaturschlosser seine Frau Anja darin unterstützen, die Kinder zum Kindergarten, zur Schule und zu Freizeitaktivitäten zu fahren. Er versucht, alle gewohnten Abläufe beizubehalten und sich nicht einschränken zu lassen, sich nicht aussätzig zu fühlen. Nach einer Heilungsphase bekommt er drei Monate später seine erste Prothese. Der Verzicht auf die Krücken tut gut, die Eingewöhnungszeit ist trotzdem schwierig für den jungen Mann. „Der Orthopädietechniker sagte mir, dass die Prothese schnell zu mir gehören würde. Das sah ich aber gar nicht so. Sie war klobig, fremd und so breit, dass ich nur noch Baggy-Hosen tragen konnte“, erinnert sich van Leyen und schmunzelt. „Das ging aber dann von Prothese zu Prothese besser.“ Das ist vor allem dadurch begründet, dass sich über die Zeit der Stumpf verändert: Befindet sich im Bein anfangs noch die gewohnte Muskulatur, baut diese durch die neue Belastungssituation ab. Der Stumpf wird schlanker und damit auch die Prothesen filigraner.
Thomas van Leyen kommt gut in seiner Situation zurecht. Auch wenn seine Frau Anja Veränderungen an ihrem Mann feststellt. „Ich hatte schon das Gefühl, dass er sich selbst als Außenseiter, als Krüppel wahrnahm“, erzählt sie. „Wenn Sommer ist, fällt er eben auf. Die Leute drehten sich nach ihm und seiner Prothese um.“ Die Situation beginnt sich zu ändern, als Anja van Leyen an einem Bandscheibenvorfall erkrankt. Ab jetzt müsse sie ihre Muskulatur stärken, sagen ihr die Ärzte, und während die beiden Jungs der Familie Schwimmunterricht nehmen, geht die Mutter zur gleichen Zeit an der Sechs-Seen-Platte in Duisburg joggen. „Ich begleitete Anja, saß dann zuerst immer auf einer Parkbank und wartete und fuhr dann irgendwann mit einem Roller daneben“, sagt der Familienvater. „Das wurde irgendwann echt langweilig. Warum sollte ich es also nicht mal selbst probieren, fragte ich mich. Mehr als schiefgehen konnte es ja nicht.“ Aber es geht nicht schief: Der Mann mit nur einem gesunden Bein beginnt, zu joggen. Eine Sportprothese mit einer integrierten Carbonfeder als Fuß steigert seine Funktionalität und Bewegungsdynamik. Bald erkunden Anja und Thomas van Leyen nicht nur laufend den Duisburger Bereich, sondern auch den Krefelder Stadtpark einschließlich des Bewegungsparks. „Ja und da traf ich Eddy.“
Ediz Yolcu und Sebastian Scheppler sind die heutigen Inhaber der iFunc-Box, einer Halle für funktionelles Training und CrossFit in Krefeld-Oppum an der Bischofstraße. Ab dem Zeitpunkt ändert sich für den Duisburger alles: Erst beginnt er nur am Wochenende mit Kettlebells, Medizinbällen, Ropes und Powerbags zu arbeiten, immer öfter entschließt er sich, auch unter der Woche zu trainieren. Gleichzeitig verschwinden Beschwerden, an denen er auf Grund seines Unfalls leidet: Das Becken schmerzt nicht mehr, die Muskulatur wird gestärkt und der Duisburger verliert mehr als 13 Kilogramm Körperfett. Seine Familie steckt er an: Die Söhne Moritz und Philipp begleiten ihn, auch Anja trainiert mit. „Ich habe gemerkt, dass sich im Kopf meines Mannes etwas verändert hat“, schildert die Lehrerin den Prozess. „Thomas hat sich als Teil von etwas gefühlt. Er hat gemerkt, dass er genau das gleiche oder sogar noch mehr leisten kann als alle anderen und das trotz Prothese. Er war kein Krüppel mehr.“ Die Gruppe nimmt ihn als vollwertiges Mitglied auf: Sie halten zusammen, feuern sich gegenseitig an, leiden beim Training gemeinsam und schlagen anschließend verschwitzt und glücklich ein. „Immer wieder ist es vorgekommen, dass anderen Sportlern erst nach Wochen aufgefallen ist, dass ich eine Prothese trage und sie total erstaunt waren“, erzählt van Leyen. „Das hat mich schon stolz gemacht.“
Der Sportler setzt die neugewonnene Energie ein, um seine Situation auch durch das richtige Hilfsinstrument zu verbessern: Er nimmt Kontakt zu Markus Rehm, selbst paralympischer Goldgewinner mit Beinprothese und Orthopädietechnik-Meister, auf und optimiert mit seiner Hilfe seine Prothesen. Das führt dazu, dass er im Training sogar den Box-Jump, den Sprung aus dem Stand auf fast einen Meter Höhe, schafft. „Das hätte ich mir früher nie zugetraut“, sagt van Leyen stolz. „Das größte Hindernis bist eben nur du selbst.“
Heute ist das iFunc-Training fester Bestandteil im Leben des Familienvaters: Sechs bis sieben Mal in der Woche trainiert er in der Box, stemmt wie die anderen Sportler Gewichte, schafft sogar das Kreuzheben trotz seiner Prothese und ist ein mehr als würdiger Gegner im Wettbewerb.
Sein vierter Platz bei den „The Dutch Throwdown“ ist der aktuelle Höhepunkt auf der Leiter, die Thomas van Leyen selbst erklommen hat. Und Dank seiner Motivation, seiner Familie und seinem Team ist das Ende der Fahnenstange noch lange nicht in Sicht.