Ein sonniger Vormittag am Ende des Rundwegs in Krefeld-Uerdingen: Frühlingsfest auf dem Sportplatz, Training in der Hundeschule, ein paar Kinder auf Fahrrädern. Christoph Becker läuft einen schmalen, wild bewucherten Schotterweg hinunter zu einem verrosteten Stahltor, dreht den Schlüssel um und unter einigem Getöse gibt das wuchtige Tor den Blick frei in das Innere des imposanten Gebäudes, dessen Ausmaße sich bereits von außen erahnen ließen. Dann zündet er sich eine Zigarette an, schweigt und lässt den Raum auf sich wirken.
Becker steht in der großen Halle des alten Uerdinger Klärwerks, das entgegen seiner einstigen Funktion keineswegs wie ein technischer Zweckbau wirkt, sondern fast schon sakral anmutet – innen wie außen. Sofort springen typische Merkmale der Jugendstil-Architektur ins Auge, etwa die parabelförmig geschwungenen mit Schiefer eingedeckten Betondächer, gestützt durch seitwärts auskragende rippenartige Balken, die großzügigen und detailreich verzierten Fensteröffnungen oder der langgezogene Dachaufbau, durch den zusätzliches Licht und Luft in die gigantische, fast dreißig Meter lange und siebzehn Meter hohe Halle dringt. Erst auf den zweiten Blick entdeckt man hingegen die bemerkenswerten Details der Innenarchitektur, die heute unter einer dicken Schicht grauer Verwitterungen verborgen liegen: Villeroy & Boch Kacheln verzieren die Wände, und Terrazzoböden mit liebevollen Mosaikverzierungen schmücken den Boden. Eine runde und weiche Formgebung bestimmt die Architektur des Baus und bricht sich im Inneren in der Härte der verbliebenen, fast schon bedrohlich wirkenden, stählernen Industrieanlagen des einstigen Klärwerks – eine faszinierende Ambivalenz.

Der Essener Unternehmer Christoph Becker hat sich in das alte Klärwerk verliebt und will es künftig der Öffentlichkeit zugänglich machen
„Das Klärwerk ist ein Meilenstein der Stadtgeschichte, dem Bruggaier mit seinem opulenten Baustil ein architektonisches Denkmal setzte“
„Man wird immer wieder aufs Neue von der Halle gefangen genommen, sobald man sie betritt“, schwärmt Becker und ist sichtlich überwältigt. Der 49-jährige Unternehmer aus Duisburg hat sich in das alte Uerdinger Klärwerk verliebt, das ihn nicht nur aufgrund seiner imposanten Erscheinung fasziniert, sondern auch aufgrund seiner turbulenten, über einhundertjährigen Geschichte, die in einer wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Blütezeit Krefelds ihren Ursprung nahm. 1910 wurde das Klärwerk nach Plänen des Architekten Georg Bruggaier, der auch für zahlreiche weitere einprägsame Bauten der Stadt verantwortlich ist, auf Geheiß des Krefelder Baurats Hubert Hentrich fertig gestellt und gilt seither als herausragende Pionierleistung der Hygienearchitektur. Flossen die Abwässer der aufblühenden Stadt zuvor noch ungefiltert durch ein unorganisiertes und lückenhaftes Kanalnetz in den Rhein, machte es die fortschreitende Industrialisierung und das damit einhergehende rasante Bevölkerungswachstum nötig, die städtische Entwässerung radikal neu zu konzipieren. Ein millionenschweres Bauvorhaben wurde in Gang gesetzt, dessen zentraler Bestandteil der Bau des Uerdinger Klärwerks war, das fortan sämtliche Abwässer der Stadt von groben Verschmutzungen befreite. Es war eine der ersten mechanischen Abwasserreinigungsanlagen im gesamten Rheinland und Bruggaier stand somit vor der anspruchsvollen Aufgabe, einen komplett neuen Gebäudetypus zu konzipieren. An Inspiration gelangte er durch ein kurz zuvor fertiggestelltes Pumpwerk in Hattersheim bei Frankfurt und unterteilte den Gebäudekomplex in drei Funktionsbereiche: die große Haupthalle für die Absatzbecken und Rechenanlage, ein kleinerer, architektonisch identischer Anbau für Pumpen und Transformatoren und das seitwärts angebaute sogenannte Bremsberghaus zum Abtransport der Klärmasse. „Das Klärwerk ist ein Meilenstein der Stadtgeschichte, dem Bruggaier mit seinem opulenten Baustil ein architektonisches Denkmal setzte“, schwärmt Becker, der sich intensiv in die Geschichte des Gebäudes eingearbeitet hat.
Das Klärwerk sollte abgerissen und durch eine moderne Pumpstation ersetzt werden. Es ist vor allem dem damaligen Tiefbauamtsleiter Wilhelm Wessel zu verdanken, dass es stattdessen saniert und weiter genutzt wurde
Doch aller Opulenz zum Trotz machte das unausweichliche Schicksal technischer Bauten auch vor dem Uerdinger Klärwerk nicht Halt. Den ersten Weltkrieg überstand es unbeschadet, geriet jedoch bereits in den ausgehenden 20er-Jahren zunehmend an seine Kapazitätsgrenzen und es entstanden alsbald Pläne, eine größere und modernere zentrale Kläranlage zu errichten. Ein Vorhaben, das der zweite Weltkrieg durchkreuzte und so verrichteten die Arbeiter in der technisch längst überholten Anlage noch bis ins Jahr 1962 ihren kräftezehrenden Dienst an der mechanischen Rechenanlage. 1970 ging dann im Zuge erneuter erheblicher Veränderungen im Kanalnetz der Stadt auch die Hochwasserpumpstation in der kleineren Halle vom Netz. Die einzig verbliebene Funktion des einstigen Klärwerks war es fortan, die Abwässer aus den Gebieten Rheinhafen, Gellep-Stratum und Linn zur neuen zentralen Kläranlage zu pumpen. „Das Klärwerk stand vor seinem Aus, sollte abgerissen und durch eine moderne Pumpstation ersetzt werden. Es ist vor allem dem damaligen Tiefbauamtsleiter Wilhelm Wessel zu verdanken, dass es stattdessen saniert und weiter genutzt wurde“, erklärt Becker. Der inzwischen auch optisch sanierungsbedürftig gewordene Komplex wurde für über zwei Millionen Mark von 1980 bis 1982 generalüberholt und durch den Einbau von zwei leistungsfähigen Schneckenpumpen in der Haupthalle zu seiner neuen Aufgabe befähigt. Mit der umfassenden Restaurierung und der Aufnahme in den Katalog der denkmalgeschützten Gebäude brach dann ein komplett neues Kapitel des Klärwerks an: Die Nutzung als Keramikwerkstatt und Atelier.
Ohne aktive Nutzung gibt es keine soziale Kontrolle und Vandalismus ist vorprogrammiert
„Ein Denkmal muss genutzt werden, nur dann bleibt es auch in einem guten Zustand“, erläutert Pia Kobylecky von der Krefelder Denkmalbehörde und ergänzt: „Aus unserer Sicht war es daher ein ideales Szenario, dass sich die Keramiker rund um Uwe Winkler im kleineren Teil des Klärwerks mit Werkstatt und Atelier niederließen.“ Die sogenannten „Klärwerker“ rund um Winkler, dem damaligen Werkstattleiter der Fachhochschule, war indes nur die erste Künstler-Generation, die dem Charme des Jugendstil-Baus erlag und dort neben dem Betrieb ihrer Werkstatt auch zahlreiche überregional wahrgenommene Ausstellungen realisierte. Nachdem die Gruppe 1985 auseinanderbrach und auch der zwischenzeitlich eingezogene Glaskünstler Harald Harrer die Nutzung nach bereits einem Jahr aufgab, wurde das Gebäude in den späten 80er Jahren erneut zum Politikum. „2,4 Millionen für nichts?“, fragte Klaus Schmidt in der Rheinischen Post vom 18.Mai 1990, denn das aufwändig sanierte Klärwerk war nach nur wenigen Jahren der Nutzung einmal mehr dem Verfall preisgegeben. „Ohne aktive Nutzung gibt es keine soziale Kontrolle und Vandalismus ist vorprogrammiert“, beklagt Denkmalschützerin Kobylecky. Erneut stand das Klärwerk vor dem Aus, doch nach einigen Jahren des Leerstands setzte die vierköpfige Künstler-Gruppe „Klärwerkkeramik“ rund um die Krefelderin Antje Schwittmann-Schops im November 1991 die Tradition der Nutzung als Atelier fort.
„Was wir mit diesem Juwel machen, wissen wir noch nicht genau, aber wir möchten dieses einmalige Gebäude auf jeden Fall der Öffentlichkeit zugänglich machen. Ausstellungen, Konzerte, Sport – hier ist vieles denkbar.“
„Wir konnten damals den Ofen und die sonstigen Anlagen unserer Vorgänger übernehmen. Dennoch war es ein gewaltiger Aufwand, das inzwischen runtergekommene Gebäude wieder herzurichten“, erinnert sich Schwittmann-Schops, die ihr Keramik-Atelier heute auf der Inrather Straße betreibt. „Es war eine spannende Zeit im alten Klärwerk und wir haben uns dort im Grunde sehr wohl gefühlt, doch mit der Zeit gab es auch immer mehr Probleme“, ergänzt die Ex-Klärwerkerin wehmütig. Schwierigkeiten mit der Heizung, Gestank durch die Abwässer, aber vor allem das Fehlen eines langfristigen Mietvertrags machten den vier Künstlerinnen zu schaffen. Nachdem die Stadt dann 1995 aufgrund des endgültigen Zerfalls der alten Pumpen ein modernes unterirdisches Pumpwerk auf dem Grundstück vor dem alten Klärwerk errichtete und sich im Zuge dessen entschloss, das ursprüngliche Gebäude nicht weiter zu vermieten, sondern zu verkaufen, bekamen die Keramikerinnen dann schließlich „kalte Füße“, wie Schwittmann-Schops sagt. „Immer wieder kamen Kaufinteressenten in unser Atelier. Die Vorstellung, unsere große Werkstatt innerhalb von drei Monaten leerzuräumen und etwas Neues finden zu müssen, hat uns Angst gemacht. Schließlich haben wir dann unsere Sachen gepackt und sind kurz vor der Jahrtausendwende freiwillig gegangen.“ Doch zu einem Verkauf des Klärwerks sollte es trotz zahlreicher Interessenten im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte nicht kommen – bis heute.
Aus wirtschaftlichen Gründen spricht immer alles dafür, Gebäude wie dieses abzureißen
„Ich wohne ganz in der Nähe und habe irgendwann in der Zeitung gelesen, dass die Stadt das alte Klärwerk seit Jahrzehnten vergeblich verkaufen möchte“, erzählt Christoph Becker während er sich einen Weg durch das marode, ehemalige Atelier bahnt. Die Zeit im alten Pumpenraum scheint stehengeblieben. Unter einer dicken Schicht Vogelkot liegen Zeitschriften aus den 90er-Jahren, an der Decke hängen noch die antiquierten Heizstrahler und auch die provisorische Galerie, die die Künstlerinnen damals installierten, steht noch unverändert vor der riesigen Fensterfront. Durch die zerschmissenen Fensterscheiben und die stählernen Panzerplatten, die das Gebäude umringen, dringt nur noch wenig Sonnenlicht in das einst so helle und freundliche Atelier. „Aus wirtschaftlichen Gründen spricht immer alles dafür, Gebäude wie dieses abzureißen. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass es nun fast zwanzig Jahre gedauert hat, bis so verrückte Idealisten wie wir das Gebäude kaufen wollen“, sagt Becker, der gemeinsam mit drei weiteren Unternehmern die Eventagentur Querfeldeins mit Sitz in Essen betreibt. „Zu uns passt das alte Klärwerk jedoch perfekt. Wir sitzen derzeit in einer denkmalgeschützten Zeche und suchen schon länger ein vergleichbares Objekt am Niederrhein. Die Verhandlungen mit der Stadt sind auf einem guten Weg und wir hoffen, das Klärwerk 2018 beziehen zu können. Hier im kleineren Gebäude wollen wir dann unser Büro unterbringen.“
„Ein Denkmal muss genutzt werden, nur dann bleibt es auch in einem guten Zustand. Aus unserer Sicht war es daher ein ideales Szenario, dass sich die Keramiker rund um Uwe Winkler im kleineren Teil des Klärwerks mit Werkstatt und Atelier niederließen.“
Zurück in der großen Halle schweigt der zukünftige Klärwerker wieder, setzt sich auf das riesige Betonfundament einer der Schneckenpumpen und lässt das imposante Hauptgebäude erneut auf sich wirken. „Wie es scheint, ist das die letzte Chance für das Klärwerk“, sagt er eine Zigarettenlänge später nachdenklich und ergänzt: „Was wir mit diesem Juwel machen, wissen wir noch nicht genau, aber wir möchten dieses einmalige Gebäude auf jeden Fall der Öffentlichkeit zugänglich machen. Ausstellungen, Konzerte, Sport – hier ist vieles denkbar.“ Und so scheint es gut möglich, dass das alte Uerdinger Klärwerk allen Widrigkeiten zum Trotz auch für die kommenden Generationen als herausragendes Denkmal der hiesigen Baukultur erhalten bleibt.