Scheinbar mühelos wuchtet Schreinerin Jule Niemann eine große Holzplatte auf die große CNC-Fräse und füttert anschließend die Hightech-Maschine mit den notwendigen Daten für die Bohrungen. In der Halle der Industrieschreinerei von Holz Roeren ist Jule in ihrem Element. Die 28-Jährige liebt Holz, den Geruch, die Haptik und die Gestaltungsmöglichkeiten des Werkstoffs. Äußerlich setzt sich die junge Frau mit ihren langen blonden Haaren und dem sympathischen Lächeln deutlich von ihren männlichen Kollegen ab, fachlich aber keineswegs. Im Gegenteil: Bei allen Stationen ihres beruflichen Werdegangs beeindruckt die in Hüls lebende Vollbluthandwerkerin Kollegen und Vorgesetzte. Debatten um Frauenquoten und vermeintliche Männerberufe wischt sie augenrollend beiseite. Mit ihrer zielstrebigen und unbekümmerten Art ist sie ein leuchtendes Beispiel dafür, dass Emanzipation weniger durch Worte, sondern am besten durch Taten voranschreitet.

Julia Niemann
„Ich war nie das typische Mädchen“, sagt Jule und lacht. „Mein Papa hat mich wie einen Jungen erzogen und mir hat es gefallen.“ Seinerzeit nicht wissend, welche Hobbys traditionell an die Geschlechter geknüpft sind, repariert sie Möbel mit ihrem Vater und verrichtet Laubsägearbeiten mit dem Opa in der Garage. „Typischer Mädchen-Kram hat mich nie interessiert. Ich konnte mit Puppen genauso wenig anfangen wie mit Schminke“, sagt sie rückblickend und schüttelt den Kopf. „Ich fand es viel reizvoller, etwas zu schaffen, zu gestalten – und am Ende des Tages zu sehen, was ich gemacht habe.“ Bis heute ist sie fast nur mit Männern befreundet, trinkt Bier, keinen Sekt. Und wenn einmal der Kolben ihres Motors kaputt geht, schaut sie ein Youtube-Tutorial und repariert den Schaden anschließend selbst. Obwohl die smarte Powerfrau weiß, dass ihre Interessen durchweg „männlich“ sind, hält sie nichts von Labeln und wirbt für eine Abkehr von geschlechtsspezifischen Rollenbildern. „So einfach es klingt, aber das gelingt am besten, wenn mehr Frauen einfach das tun, worauf sie Bock haben und sich nicht von der Erwartungshaltung anderer beeinflussen lassen“, findet sie.
„ZWAR MUSSTE ICH SCHON IMMER MEHR LEISTEN ALS MEINE MÄNNLICHEN KOLLEGEN, ABER ICH HABE ANSCHLIESSEND AUCH IMMER MEHR RESPEKT BEKOMMEN.”
So selbstbewusst wie Jule heute ihren „Mann“ in der Schreinerei steht, so schwierig gestaltete sich damals ihr eigener Berufseinsteig in einer von Testosteron dominierten Branche. „Nach der Schule schrieb ich 89 Bewer-bungen, aber wurde nur zu einem Vorstellungstermin eingeladen. Die meis- ten dachten wohl, dass eine Frau mit Abitur den Betrieb auf den Kopf stellen würde. Umso glücklicher war ich, als ich endlich eine Zusage erhielt und mich beweisen konnte“, erzählt sie. Sich beweisen zu müssen, zieht sich fortan wie ein roter Faden durch Jules Berufsleben. Mehr noch, als es ihremännlichen Kollegen mussten, sagt sie. Jule erkennt aber auch darin etwas Gutes: „Zwar musste ich schon immer mehr leisten als meine männlichen Kollegen, aber ich habe anschließen auch immer mehr Respekt bekommen.“ Doch es gebe auch immer wieder Männer, die sich angesichts ihrer Fähig- keiten in ihrem Stolz verletzt sähen. „Mein Papa hat sich selbst zum ‚Heim- werker‘ degradiert und mir den Titel ‚Handwerker‘ überlassen. Das meint er natürlich voller Anerkennung, aber es gibt sicher Männer, die das wurmt“, so Jule weiter.
Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung sind Leitmotive in Jules Leben. Zu reisen und die Welt zu entdecken, ist ihr mindestens ebenso wichtig wie ihre Arbeit. In Australien und Neuseeland vermochte sie beides mitei- nander zu verbinden. Mitten in der Nacht begann damals ihr Arbeitstag in Perth, der heißesten Stadt im Westen Australiens, am Vormittag ging’s dann mit dem Surfbrett an den Strand. „Die Zeit war wirklich toll, bis ich mir das Bein brach und zurück nach Deutschland musste“, sagt sie wehmütig und zuckt mit den Schultern. „Von der Lebensart und der Offenheit der Aussies können wir uns eine Menge abschauen, auch mit Blick auf das Rollenverständnis der Geschlechter. Dort wird vieles viel lockerer genommen als bei uns.“ Trotz des Fernwehs genießt sie ihren Job bei Roeren jeden Tag. Sie schätzt das familiäre Arbeitsklima und die Charaktere der Inhaber- Familie. „Dass ich eine Frau bin, war hier nie ein Thema. Wichtig ist nur, was ich kann. So sollte es überall sein“, sagt sie.
Im Moment bereitet sich Jule auf ihre Meisterprüfung vor. Und wenn sie neben dem Lernen und arbeiten frei hat, dann arbeitet sie einfach weiter. Wahlweise baut sie einen Tresen aus Holz für ihre Küche, restauriert ein Auto oder hilft bei Bekannten und Freunden aus, bei denen sie den Ruf als handwerkliche Allzweckwaffe genießt. Einen Tipp für alle Frauen, die mit dem Gedanken spielen, ebenfalls Schreinerin zu werden, hat sie auch: „Ein- fach machen!“
HolzLand Roeren, Mevissenstraße 62, 47803 Krefeld Telefon: 02151 878770, www.holz-roeren.de