Einen kaputten PC hat jeder zuhause, einen kaputten ICE kaum jemand“

Über viele Jahre hinweg war ich Gelegenheitsberater. Gelegenheitsberater sind Menschen, die aufgrund ihres Berufes unabhängig von Ort und Zeit und zumeist rein zufällig von irgendwem auf ein Problem hin angesprochen werden. Das bedeutet: Zum Gelegenheitsberater wirst du in dem Moment, in dem du deinem weinenden Vierjährigen gerade ein Eishörnchen gekauft hast oder mit vier vollen Einkaufstüten über den Aldi-Parkplatz stolperst. Man könnte meinen, Gelegenheitsberatung sei ein Ehrenamt, denn für so manchen Fragensteller ist es aus Gedankenlosigkeit oder Raffinesse selbstverständlich, dass er den Ratschlag kostenlos bekommt. Dabei musst du sogar aufpassen, denn obwohl du als Scheidungsanwalt deinem Tankwart soeben frei Haus einen viertelstündigen Vortrag über die Nachteile einer Zugewinngemeinschaft gehalten hast, wird er dir vielleicht Ärger machen, wenn du während der Debatte vergessen hast, dein Tütchen Gummibärchen zu bezahlen.

In meinem Fall begann die Beratung meistens mit dem Satz: „Ich bin zwar nicht Ihr Patient, aber ich sehe, dass Sie gerade Zeit für mich haben, und hätte bei der Gelegenheit mal eine medizinische Frage.“ So erinnere ich mich daran, dass ich mir einmal unter den sorgenvollen Blicken einer Kommuniongesellschaft Baby-Kevins Bauchnabelbruch ansehen sollte. Ein andermal unterzog ich Tante Klärchens Halsschmerzen einer fachmännischen Betrachtung, indem ich ihr unter dem Jubel der Festgemeinde einen Suppenlöffel von ihrer Goldhochzeitstafel in den Rachen schob. Ich denke auch gerne an den spätabendlichen Anruf einer mir unbekannten soziopathischen Spitzenkraft, die mir mitteilte, sie sei die Freundin des Freundes des Nachbarn eines meiner Patienten, und deshalb hätte ich als Arzt dafür sorgen, dass der radiologische MRT-Termin für ihre Großmutter vorverlegt würde.

Um mich herum wurde es erst ruhiger, als ich von der Allgemeinmedizin zur Psychotherapie wechselte. Seither mied man meinen Ratschlag wie der Teufel das Weihwasser. Einen Bandscheibenschaden darf halt jeder haben, einen offiziell bestätigten Dachschaden niemand. Mein Nachbar zur Rechten ist ebenfalls ein vielbeschäftigter Gelegenheitsberater, denn als Computerfachmann ist er ein gern gesehener Gast auf Hochzeiten und Beerdigungen. Mein Nachbar zu Linken hingegen fristet als Konstrukteur von Hochgeschwindigkeitszügen ein von der Öffentlichkeit wenig beachtetes Schattendasein. Einen kaputten PC hat eben jeder zuhause, einen kaputten ICE kaum jemand. Je länger eine Geburtstagsparty dauert, desto übersichtlicher wird die Situation. Während ihre Ehefrauen herrenlos durch das Gelände streunen, untersuchen Dermatologen auf Gästetoiletten seltsame braune Flecken, Installateure sind gerade mal mit dem Hausherrn bei der Heizungsanlage, und Elektromeister beurteilen auf dem Nachbargrundstück die Möglichkeiten für eine Gartenbeleuchtung nach Art des Gastgebers.

Um einen Eklat mit den vernachlässigten Gattinnen zu vermeiden, empfiehlt es sich von daher, die ein oder andere Kindergärtnerin oder Sozialpädagogin vorzuhalten. Auf der Heimfahrt werden sie ihren Ehemännern stolz berichten, dass sie viel Zeit, Kosten und Mühe gespart hätten, weil sie zwischen Mettbrötchen und Chili con Carne den entwicklungspsychologischen Hintergrund von Klein-Lenas Nasebohren geklärt hätten. Bleibt der Tipp an kontaktscheue Jugendliche: „Werdet Handwerker, Hundetrainer oder Inhaber einer Modelagentur, und ihr habt im Nullkommanichts eine ganze Schar von Gelegenheitsfreunden. Wollt Ihr euer Bier hingegen in aufrichtiger, jedoch überschaubarer Gesellschaft trinken, dann versucht euer Glück vielleicht als Steuerfahnder, Gerichtsvollzieher oder zur Not als Facharzt für Enddarmerkrankungen.“