Auf dem Weg in die Innenstadt stehe ich mal wieder im Berufsverkehr in einem Ampelstau auf der rechten Geradeausfahrstreifen. Auf der Linksabbiegerspur ist nichts los. Deshalb überholen mich hier in kurzen Abständen diese Einscher-Schneider, die sich nach einer Vollbremsung noch knapp vor der Kreuzung rechts rüber in die Blechparade schnippeln. Dabei spekulieren sie auf die Lücke, die ihnen irgendeiner von uns Braven schon bieten wird, der seinen Fuß beim Anfahren nicht schnell genug aufs Gaspedal bekommt. Wenn es für die Grünphase nicht mehr reicht, stehen sie beim nächsten Mal immerhin auf der Pole Position. Der Gedanke, dass wir anderen Wartenden es genauso eilig haben könnten, ist diesen Siegertypen nicht zuzumuten, denn dort, wo bei uns das Schuldgefühl erzeugt wird, sitzt bei ihnen der Istmiregalomat oder sogar der Hohn und Spott Generator. Ich versuche mir einzureden: „Bleib gelassen Wolle! Du hast Dich rechtzeitig auf den Weg gemacht, und hörst soeben eine wunderbare Bossa Nova über weiße Strände, blaues Meer und eine eiskalte Caipirinha unter tropischer Sonne.“ Aber es ist zwecklos. Mein Blutdruck sprengt vor Wut meinen Zylinderkopf, und ich bilde mir ein, dass in Anbetracht dieser Frechheit auch in den meisten anderen Staufahrzeugen die Klimaanlage auf Aggressionskühlung runtergeschaltet werden muss. Ich spüre meine Machtlosigkeit, und meine Fantasie jubelt mir unter, dass ich mich als Versager zu fühlen habe, weil ich keiner von diesen „Nach mir die Sintflut“ Dreistlingen bin. In solchen Verkehrssituationen gewinnst du den Eindruck, dass dem lieben Gott bei der Erschaffung der Menschheit schon ziemlich früh die soziale Intelligenz ausgegangen sein muss. Zudem konstatiere ich in meinem Frust, dass das Strafgesetzbuch die gewohnheitsmäßigen Ausbremser, Vordrängler, Überrumpler und Unterbutterer obendrein noch vor der ihnen gebührenden öffentlichen Auspeitschung schützt. Dabei ist solch ein Unterlegenheitsgefühl völliger Quatsch. Werden die penetranten Fahrstreifen-Wildwechsler, die rasenden Rettungsgassen-Guerillas oder Standspur-Stürmer von Amtswegen doch einmal gestoppt, ist es mit den strahlenden Outlaws des Berufsverkehrs schnell vorbei. In solchen Momenten verwandeln sie sich in das, was sie vielfach sind: Jammernde Niederquerschnittsdenker mit abgefahrenem Persönlichkeitsprofil. Und es ist schon fast tragikomisch, dass die hervorragende Lebensleistung dieser Vorfahrtraubritter, Bleifußindianer und Lichthupenrammler oftmals darin besteht, damit angeben zu können, zwei Ampelphasen früher als du am anderen Ende der Stadt oder eine Kaffeetassenlänge eher am anderen Ende von Deutschland gewesen zu sein. Ein Bekannter von mir brüstete sich nach jedem Winterurlaub damit, die Strecke Krefeld-München trotz Stau und Baustelle0n in unter fünf Stunden geschafft zu haben. Als ich irgendwann die Nase davon voll hatte, und ihm mitteilte, dass ich ihn für den Nobelpreis in Physik vorschlagen würde, weil es ihm gelungen sei, dass Raum-Zeit-Kontinuum zu überwinden, unterstellte er mir Neidhammelei, und ward fortan nicht mehr gesehen. Die persönliche Erfahrung hat mich gelehrt, dass manch ein Mensch, dem solch eine sinnfreie Großtat wichtig ist, sich oft auch mit dem günstigsten Urlaub im schönsten Hotel, dem lukrativsten Arbeitsplatz und den talentiertesten Kindern hervortun will. Nein, das wahre Opfer bin nicht ich, sondern das sind die, die ständig auf der Überholspur fahren müssen, weil ihnen sonst der Lebensmotor ausgeht.
