
Günter Brocher
Ein 20-Jähriger war mit seiner Bäckerausbildung offensichtlich überfordert. Aufgrund seiner ADHS-Erkrankung konnte er sich nicht konzentrieren, weder in der Backstube noch in der Berufsschule. „Von allen Seiten bekam er negatives Feedback: Du kannst nichts, du bist zu dumm, du bist zu faul! Hilfe bekam er weder von seinem Chef und den Lehrern noch von seiner Mutter. Schließlich hatte er Bauchschmerzen, wenn er zur Arbeit musste und ein schlechtes Gewissen, wenn er in der Schule wieder einmal nichts verstand“, erzählt Senior-Experte Michael Kleinsz über den ersten Jugendlichen, den er betreut hat. „Ich habe mich von Anfang an als Anwalt des jungen Menschen gesehen und erst einmal versucht, Probleme zu erkennen und herauszustellen, um Gräben zu überbrücken, die sich zwischen ihm und seinem beruflichen wie privaten Umfeld aufgetan hatten. Mit der Zeit wurde allen Beteiligten klar, dass es in der Bäckerlehre nicht weiterging. So haben wir den Ausbildungsbetrieb, das Arbeitsamt, die IHK mit ins Boot geholt und schließlich den Ausbildungsvertrag einvernehmlich aufgelöst. Es folgte eine Reha-Maßnahme mit individueller Förderung und einer Reihe Eignungspraktika, die schließlich zu einer Ausbildung als Servicekraft für Hotel und Gaststätten führte. Der Auszubildende zeigt sich inzwischen sehr engagiert und motiviert und befindet sich auf einem sehr guten Weg. Auch seine Situation in seinem privaten Umfeld hat sich entscheidend verbessert. Wichtig ist an dieser Stelle zu erwähnen, dass diese Begleitung auch nur so erfolgreich verlaufen ist, weil sich Ämter und Institutionen, wie Arbeitsamt und Jobcenter, auch die IHK und die Träger der Reha-Maßnahmen sehr kooperativ, offen und unbürokratisch gezeigt haben.“
Kleinsz arbeitet seit drei Jahren ehrenamtlich als Ausbildungsbegleiter für die Initiative VerA beim Senior Experten Service SES. Die Buchstaben V E R A stehen für „Verhinderung von Ausbildungsabbrüchen“. Aber manchmal, wie im geschilderten Fall, raten die VerA-Experten trotzdem zum Abbruch, wenn es am alten Ausbildungsplatz wirklich nicht mehr weitergeht. „Es geht darum, die jungen Menschen auf einen erfolgreichen, zu ihnen passenden, Lebensweg zu bringen, egal wie der im Einzelnen aussieht“, so Kleinsz. „Oftmals sind es auch gar keine spezifischen Ausbildungsprobleme, an denen die Jugendlichen leiden, sondern Schwierigkeiten mit dem Leben überhaupt. Auch da versuchen wir zu helfen.“ Ein solches Beispiel kann Kleinsz Kollege Günter Brocher erzählen: „Ich habe eine junge Frau betreut, die machte eine Ausbildung zur Servicekraft, war zuhause ausgezogen und musste jetzt immer von Viersen nach Krefeld pendeln. Zur Schule kam sie fast gar nicht mehr, weil sie das Fahrgeld nicht hatte und zu oft verschlief. Da sie noch in der Schulpflicht war, wurden ihr 5.000 Euro Strafe angedroht. Ich habe ihr dann geholfen, ein Haushaltsbuch anzulegen, um ihre Kosten in den Griff zu bekommen und sie eine Zeit lang immer morgens angerufen, damit sie pünktlich zur Schule fuhr. Dann hat sie ihre Ausbildung erfolgreich abgeschlossen.“

Michael Kleinsz
Für Ausbildungsbegleitungen, wie sie die Senior-Experten Michael Kleinsz und Günter Brocher bewältigen, sind Lebenserfahrung und Verständnis für junge Menschen meist wesentlich wichtiger als spezifische Fachkenntnisse. Menschen wie Brocher und Kleinsz haben ein erfolgreiches Berufsleben hinter sich, waren Führungskräfte oder gefragte Fachleute und haben keine Lust, ihren Ruhestand nur vor dem Fernseher zu verbringen. „Am ersten Tag als Rentner war ich ziemlich deprimiert und habe gedacht: Was machst du jetzt mit der ganzen Zeit?“ Erklärt der 77-jährige Günter Brocher. „Zum Glück konnte ich meinen Söhnen beim Aufbau ihrer Selbständigkeit helfen und als das vorbei war, habe ich den Senior Experten Service entdeckt. Das hält mich bis heute frisch.“ Er ist heute VerA-Regionalkoordinator für den IHK-Bezirk Mittlerer Niederrhein. In seinem Berufsleben war er lange Jahre Führungskraft bei einem Versicherungsunternehmen, und seine Vertriebserfahrungen helfen ihm jetzt oft bei Kontakten zu Betrieben und Verbänden.
Michael Kleinsz arbeitete fast 30 Jahre – zuletzt als Produktionsleiter – für einen Krefelder Metallbetrieb und ging danach zwei Jahre nach England. Dort wollte er aber nicht bleiben und fand einen Job bei einer Freiburger Unternehmensberatung, den er gut mit seinem ehrenamtlichen Engagement verbinden kann. Außer für VerA engagiert er sich beim SES auch im Ausland in der Entwicklungshilfe, war in China und geht dieses Jahr noch für drei bis vier Wochen für ein Projekt nach Ägypten.
„Die Probleme der jungen Menschen sind oft vielfältig und hängen stark mit ihrem Lebensumfeld zusammen“, weiß der Senior-Experte. „Ein problematisches Elternhaus und ein daraus resultierendes, unpassendes Sozialverhalten führen zu Schwierigkeiten in Schule und Betrieb, was wiederum zu Problemen im übrigen Leben führt. Das ist oft ein Teufelskreis. Wichtig ist es, die Problempunkte zu entdecken, ehrlich auf die Jugendlichen einzugehen, Vertrauen zu gewinnen und ihnen zu helfen, an den richtigen Schrauben zu drehen. Dann kann man viel bewirken.“
Dass der Bedarf an Ausbildungsbegleitung riesengroß ist, wissen auch viele Verantwortliche in den Betrieben, bei den IHKs und Handwerkskammern. Jeder vierte deutsche Jugendliche bricht zurzeit seine Ausbildung vorzeitig ab. Gerade in Zeiten des demografischen Wandels und zunehmenden Fachkräftemangels ist das ein ernsthaftes Problem. Trotzdem gelingt es den Verbänden und ihren professionellen Initiativen nicht, die Herausforderungen ohne ehrenamtliche Hilfe zu bewältigen. Zu vielfältig sind die Aufgaben und zu gering die verfügbaren Zeiten. „Um Maßnahmen zu koordinieren und sich zu vernetzen, werden in einigen Regionen runde Tische organisiert, an denen ich in Mönchengladbach und Dormagen oft teilnehme“, berichtet Brocher. „Da bekomme ich Kontakte zu Leuten von den Kammern, Schulen, dem Arbeitsamt und auch zu Migrantenorganisationen. Trotzdem laufe ich nicht immer offene Türen ein und muss oft Überzeugungsarbeit leisten. Manchen Betriebsleiter oder Lehrer kann ich erst durch eine erfolgreiche Begleitung überzeugen. Manchmal arbeite ich sogar wie zu meinen Versicherungszeiten und telefoniere eine Adressliste – zum Beispiel von Ausbildungswarten der einzelnen Gewerke – ab, um unsere Leistungen anzubieten. Die Reaktionen sind meist positiv. Nur von selbst kommen die selten auf uns zu.“
Auch wenn ihr „Geschäft“ manchmal mühsam ist, sind sich Günter Brocher und Michael Kleinsz einig, dass die Erfolge den Aufwand mehr als aufwiegen. „Es ist toll, wenn ein Auszubildender, den ich betreut habe, mir nach Jahren freudestrahlend berichtet, wie gut er seine Ausbildung geschafft hat“, freut sich Brocher. „Manchmal ergeben sich sogar langjährige Freundschaften zwischen den Begleitern, den jungen Menschen und ihren Familien. Ich kann nur jeder Rentnerin und jedem Rentner, die gelangweilt zuhause rumsitzen, empfehlen sich zu engagieren. Wer will, kann mich einfach anrufen. Wir haben genügend Aufgaben.“
Günter Brocher, Telefon 0171-1 72 46 80,
mittlererniederrhein@vera.ses-bonn.de, www.vera.ses-bonn.de