„fiftyfifty“, ruft Norbert Reich mit dezent kehliger Stimme. Er sitzt auf seinem Rollator. In der einen Hand hält er die Obdachlosenzeitung, in der anderen einen Pappbecher für das Kleingeld. Norbert hat einen festen Platz in der Krefelder Innenstadt. Fast jeden Tag steht am Rande des Neumarkts, gleich gegenüber der Bäckerei Kamps. Hunderte Menschen laufen an ihm vorbei, werfen ihm oft nur einen geringschätzenden Blick zu. Sie sehen in Norbert eine gescheiterte Existenz, einen Mann, der ganz unten angekommen ist. Nur wenige kaufen ihm eine Zeitung ab, gerade einmal acht Euro hat er heute verdient. Früher hätte der heute 63-Jährige diesen Betrag lächelnd als Trinkgeld gegeben. Bis zu 20.000 D-Mark netto habe er Ende der Siebziger verdient. Norbert ist gebrochen; körperlich und geistig. Die Geschichte, hin zu diesem Zustand, klingt bisweilen aberwitzig, doch er trägt sie so detailreich vor, dass sie wohl kaum gänzlich erfunden sein kann.
Es ist kalt geworden. Neun Grad zeigt das Thermometer Ende November. Aber Norbert friert nicht. Fast 20 Jahre auf der Straße haben ihn abgehärtet. Seine ausgetragene Jacke hat er geöffnet. Schweren Schrittes schleppt er sich auf eine Bank vor dem Irish Pub „Limericks“. Er trinkt einen großen Schluck Kaffee. Ein paar Tropfen verfangen sich dabei in seinem dichten, weißen Vollbart. Dann öffnet er eine seiner Obdachlosenzeitungen und zeigt mir einen Artikel über sich. Zu sehen sind Fotos, die ihn als jungen Mann zeigen: Ein strammer Bursche mit vollem Haar und einem Schnurrbart, austrainiert bis in die letzte Faser seines Körpers. „Ja, ich war einmal ein richtig hübscher Bengel“, beginnt er zu erzählen und streicht mit seinem Finger über das Papier. Wehmut schwingt in seiner Stimme. Er holt tief Luft und sucht gedanklich nach dem Einstiegspunkt für seine Lebensgeschichte. „Mein Vater war ein Arschloch“, platzt es dann aus ihm heraus. „Er war ein Säufer und hat unsere Familie zerstört.“ Er habe ihn, seine Mutter und die fünf Geschwister tyrannisiert, deswegen habe er in der Schule versagt und kein Selbstbewusstsein entwickelt. „Ich war ein sehr schüchterner Junge und konnte kaum mit Fremden sprechen. Jede Nacht hatte ich Angst, dass er meiner Mutter etwas antun würde. Ich schlief nicht mehr und konnte mich deswegen in der Schule nicht konzentrieren“, erzählt er weiter. Seine Stimme fängt an zu beben und er ringt um Fassung. In wenigen Sätzen schildert Norbert den Zusammenbruch der Familie. „Der Gipfel war erreicht, als mein Vater eine Kneipe aufmachte. Wir lebten damals in Duisburg-Meiderich. Eines nachts attackierte er im Suff meine Mutter mit einem Messer. Sie konnte flüchten und wir tauchten unter. Danach habe ich Vater nur noch einmal gesehen“, sagt er sichtlich bewegt.
Zwar ist Norbert mit Anfang 20 immer noch gebeutelt von den traumatischen Erfahrungen in seinem Elternhaus, aber er strampelt sich mit dem Mut der Jugend zurück ins Leben. Er geht zum Bund, arbeitet als Monteur und spielt Fußball auf Spitzen-Niveau. „Meine Entwicklung im Fußball stand schon immer in einem starken Kontrast zu meinem sonstigen Leben. Erst spielte ich bei Hamborn 07 in der Jugend, dann bei Eintracht Duisburg in der dritten Liga. Ich wollte damals Profi werden, aber ein Kreuzbandriss hat meine Karriere beendet“, erzählt er fast nüchtern. „Mich haben die sportliche Erfolge auch nicht selbstbewusster gemacht. Früher konnte ich nur unter Alkoholeinfluss mit Frauen reden.“ Und die liegen ihm in jenen Tagen scharenweise zu Füßen. „Die haben mich angesprochen und ich habe mir dann einen zurecht gestammelt“, erzählt er und lacht. „Ich habe das immer Minutenbeziehungen genannt.“
„Sechs Monate haben wir in wilder Ehe gelebt, bevor wir dann im Meidericher Rathaus heirateten. Ich war so glücklich.Der größte Wunsch meiner Frau war es, ein Jahr später auf den Philippinen, in Manila, kirchlich zu heiraten. Wir sparten ein Jahr und flogen rüber.“
Mit 25 Jahren geht Norbert mit einem seiner Brüder in eine Disco. Dort sehen sie zwei philippinische Frauen. „Die eine war hübsch, die andere sehr hübsch“, schmunzelt Norbert. „Wir zogen Stöckchen, wer sich neben welche Frau setzen durfte. Ich musste mit der hübschen vorlieb nehmen.“ Wie verhängnisvoll diese Begegnung sein würde, konnte Norbert seinerzeit nicht ahnen. Er verabredet sich mit seiner neuen Bekanntschaft am nächsten Tag. Sie kommen sich näher und verlieben sich schlussendlich. „Sechs Monate haben wir in wilder Ehe gelebt, bevor wir dann im Meidericher Rathaus heirateten. Ich war so glücklich. Der größte Wunsch meiner Frau war es, ein Jahr später auf den Philippinen, in Manila, kirchlich zu heiraten. Wir sparten ein Jahr und flogen rüber“, erzählt er klar, flüssig und mit leuchtenden Augen. „Dann konnte ich nicht fassen, unter welchen Bedingungen meine Schwiegereltern lebten. 15 Menschen in einem Verschlag auf 20 Quadratmetern.“
Trotz großer Armut bescheren die Schwiegereltern dem jungen Ehepaar eine traumhafte Hochzeit am Meer. Sie schlachten ein Schwein, mieten einen großen Saal und zeigen sich als beste Gastgeber. Norbert kann sich rückblickend selbst nicht erklären, wie sie das alles finanzieren konnten, aber es ist ihm zu diesem Zeitpunkt auch egal. Zu schön ist sein Leben, zu glücklich ist er mit seiner Frau. Einige Wochen verbringen sie auf dem Inselstaat, ehe sie zurück nach Deutschland fliegen wollen. „Dann sagte meine Schwiegermutter: ‚Kauf mir ein Haus!‘. Ich frage: Wovon? Doch sie ließ nicht locker. Sie zeigte mir ein Traumhaus in einer geschützten Anlage. 200.000 D-Mark sollte es kosten. Nach langem Hin und Her ging ich einen Vertrag mit einer Ratenzahlung über 19 Jahre ein und vereinbarte mit meiner Schwiegermutter, dass sie einen Teil des Hauses untervermietet und so ebenfalls einen Teil der Rate trägt. Heute weiß ich, dass mich alle beschissen hatten. Mir wurde selbst vom Notar versichert, dass ich ins Grundbuch eingetragen werde. Alles Lug und Trug“, erzählt Norbert kopfschüttelnd.
„Dort gab man mir Drogen. Ich bin davon überzeugt, dass ich kollabieren sollte. Sie wollten einen legalen Tod.“
Es sollten Jahre vergehen, bis er merkte, was hinter seinem Rücken passierte. Dazwischen liegt die wohl schönste Zeit seines Lebens. „Meine Frau hatte Muschelketten von den Philippinen mitgebracht. Die wollte sie in Deutschland zu Geld machen. Anfangs habe ich sie für die Idee ausgelacht. Zuhause angekommen, wurden uns die Dinger aber aus den Händen gerissen. Sie waren in Mode. Ich ließ sie weiter aus den Philippinen importieren und verdiente damit an einem Tag mehr Geld als mit meinem normalen Beruf in einem Monat. Wir lebten in Saus und Braus, bekamen unseren Sohn und waren glücklich“, erzählt er und nimmt den letzten Schluck aus seinem Kaffeebecher. Er wischt sich mit dem Handrücken den Mund ab, atmet zweimal tief ein und blickt nach oben. „Ab jetzt kommt nichts Schönes mehr.“ Denn: Dann habe er herausgefunden, was auf den Philippinen abging. „Die hatten sich nicht an die Vereinbarung gehalten. Ich nahm 60.000 D-Mark von der Bank, flog dorthin und bezahlte die letzte Rate auf einmal ab. Dann der Schock. Man sagte mir, dass Ausländer keinen Grund und Boden besitzen könnten. Das Haus sollte meiner Frau gehören. Verstört irrte ich durch die Straßen Manilas, bis plötzlich ein Wagen anhielt aus dem vier Männer sprangen. Sie verprügelten mich und zogen mich ins Auto. Dort saß mein Schwiegervater. Er lächelte und sagte: ‚I’ll kill you, because I want the house.’“
Norbert schildert, wie er in ein Haus verbracht wurde, in dem 20 weitere Personen eingepfercht gewesen seien. „Dort gab man mir Drogen. Ich bin davon überzeugt, dass ich kollabieren sollte. Sie wollten einen legalen Tod“, führt er aus. Viele Tage seien so vergangen, ehe es ihm gelang über einen der Wachleute eine Nachricht an einen deutschen Freund in Manila zu schicken, dem er im Gegenzug eine weiße Frau versprach. Das nächste, woran er sich erinnern könne, sei, dass er von der Polizei befreit wurde. Immer noch völlig benebelt habe er die nächste Maschine nach Deutschland genommen. „Meine Schwiegereltern haben unterdessen meine Frau angerufen und ihr erzählt, dass ich drogensüchtig sei und sich mich deswegen in eine geschlossene Entzugsanstalt gebracht hätten. Meine Frau hat den Unsinn geglaubt“, erklärt er fassungslos.
Ab diesem Punkt wird Norbert schmallippig. Scheinbar sitzt der Stachel dieser schmerzvollen Erfahrungen zu tief. Er habe nach seiner Landung eine Schizophrenie entwickelt. „Ich mietet mich in 5-Sterne-Hotels ein und deponierte Wertsachen in Schließfächern. Meine Frau musste denken, dass ich wirklich drogensüchtig war, und verließ mich. Das war der Anfang vom Ende“, seufzt er. Gebeutelt von Wahnvorstellungen sei er auf die Autobahnbrücke in der Nähe des Duisburger Hauptbahnhofs gegangen und ohne nachzudenken gesprungen. „Aufgewacht bin ich im Krankenhaus mit einem zertrümmerten Arm, einem doppelten Beckenbruch und künstlichen Harnleitern. Ich hatte eine posttraumatische Belastungsstörung. Das Nahtoderlebnis auf den Philippinen hat mich dazu gebracht zu springen“, analysiert er rückblickend. Seit diesem Vorfall, 1985, leide er immer wieder schubweise unter schizophrenen Attacken, die ihn in eine Parallelwelt beförderten. „Seither bin ich auch arbeitsunfähig“, sagt er weiter.
Mich hinterlässt Norberts Geschichte mit vielen Fragen. Warum wollte ihn sein Schwiegervater umbringen lassen, wenn das Haus doch von Rechts wegen seiner Frau gehörte, die ohnehin, wie er sagt, ihren Eltern hörig gewesen sei? Warum hat er keine größeren Anstrengungen unternommen, seiner Frau die Wahrheit zu erzählen, wenn er sie so sehr geliebt hat? „Ich habe die Chance, dass sie mir glaubt, gegen Null gehen sehen“, sagt er lakonisch. Aber auch seinen deutschen Freund auf den Philippinen hat er nie um Aufklärung gebeten. Irgendwann habe er sein Schicksal einfach akzeptiert. Vielleicht hatte auch einfach keine Kraft mehr zum Kämpfen.
Fakt ist, dass Norbert nun seit 20 Jahren auf der Straße lebt und gerade in diesen Tagen auf Menschen angewiesen ist, die ihr Herz und ihr Portemonnaie öffnen. Hilfe vom Staat möchte er nicht beanspruchen, dafür ist er zu stolz. Diese Würde konnte ihm sein Schicksal nicht nehmen. Seinen letzten Satz werde ich wohl für immer in Erinnerung behalten: „Hätte ich doch nur das längere Stöckchen gezogen.“