Für sie ist das Arbeiten mit Weide viel mehr als die Ausübung eines der ältesten Handwerke der Menschheit. Irmgard Wissing offenbart sich beim Flechten ihrer Weidenskulpturen ein Hauch Magie und Psychologie, weil dabei Themen aus dem Unterbewusstsein an die Oberfläche gelangen. Ihre Herangehensweise an die Weidenwerkkunst geschieht mit einem hohen Maß an Achtsamkeit.
Wer die Weidenwerkstatt der gelernten Gartenbau-Ingenieurin und Gärtnerin im münsterländischen Senden betritt, spürt die Liebe zum Naturmaterial. Getrocknete und wohlsortierte Weiden warten darauf, geformt zu werden. Die Passion von Irmgard Wissing sind menschliche Figuren, vor allem Kinder. „Sie erinnern uns Erwachsene an das Lebensgefühl von Unbekümmertheit. Sie strahlen Lebensfreude, Vitalität, Gelassenheit und gleichzeitig Risikobereitschaft aus“, erklärt die Mittfünfzigerin. Im Waldorfkindergarten und in der der Waldorfschule ihrer beiden Söhne fand sie vor vielen Jahren den Ausgleich zum Arbeitsalltag im familieneigenen Gartenbaubetrieb. Dabei lernte sie die Verarbeitung von Naturmaterialien wie Wolle, Stein, Ton, Holz und Weide kennen. „Die Liebe zur Weide war am stärksten und ist zu meiner Berufung geworden“, erzählt sie heute.
In Porta Westfalica hat Irmgard Wissing die Grundlagen des Handwerks erlernt, das vermutlich in die Zeit der Neandertaler zurückgeht. Sie erklärt: „Die damaligen Jäger und Sammler haben nachweislich Pflanzenmaterial verwendet. Ich vermute sogar, dass die Menschen vor der Verwendung tierischer Produkte, wie beispielsweise Wolle, Pflanzenteile wie Weide benutzt haben. Weidenruten sind sehr zäh und gleichzeitig geschmeidig. Daher eignen sie sich gut für die Weiterverarbeitung.“ Genau diese Gegensätze des Materials sprechen die Weidenkünstlerin in ihrem Innersten an: „Die Arbeit mit Weide stillt mein tiefes Bedürfnis, mich gestalterisch mit meinen Alltagsthemen und philosophischen Aspekten auseinanderzusetzen. Meine Weiden-Skulpturen berühren die Betrachtenden und erinnern an persönlich Durchlebtes und Durchlittenes. Manchmal werden auch fast vergessene Gefühle von kindlicher Gelassenheit. Leichtigkeit und Lebensfreude wieder lebendig.“

„Die Liebenden“
Das Arbeiten mit Weide: ein meditativer Prozess
Wenn Irmgard Wissing an einer neuen Skulptur arbeitet, versinkt sie in einen meditativen Prozess, den sie so erklärt: „Um mich herum wird alles unwichtig. Es gibt nur das Werkstück, die Weide und mich. Gedanken kommen und gehen, beleuchten erlebte Situationen in einem anderen Licht. Ich lerne dadurch, geschmeidiger zu denken, weg von starren Urteilen wie Gut und Böse, Weiß und Schwarz. Ein ,Sowohl als auch‘ wird dann möglich. Ich habe über die Jahre beobachtet, wie ich von einer sehr strengen und bewertenden Beobachterin zu einer liebevoll gewährenden, gelassenen Person geworden bin. Durch die Beschäftigung mit Weide ist es mir gelungen, eine Offenheit und Lebendigkeit für mich und andere zu bewahren.“
In ihrer Weidenwerkstatt gibt Irmgard Wissing seit fünf Jahren Kurse. Dort entstehen weniger praktische Dinge, sondern Kunstobjekte, „die unabhängig sind vom Wert und Nutzen der herkömmlichen Korbflechterei“, wie sie betont. Deshalb entzögen sich ihre Skulpturen auch dem kritischen Urteil eines Korbmachers oder dem geschulten Blick eines Flechtwerkgestalters. Nicht die Flechttechnik definiere ihre Kunst, sondern die Auseinandersetzung mit dem Material Weide, das viele menschliche Eigenschaften miteinander vereine wie Starre, Widerspenstigkeit, Zähigkeit, Weichheit, Geschmeidigkeit, Formbarkeit und Fügsamkeit. Diese drückt die Weidenkünstlerin in ihren Skulpturen aus, zum Beispiel in „Die Liebenden“, die sie auch auf dem Flachsmarkt zeigen wird.
„Die Arbeit mit Weide stillt mein tiefes Bedürfnis, mich gestalterisch mit Alltagsthemen und philosophischen Aspekten auseinanderzusetzen.“
Anderthalb Jahre währte der Entstehungsprozess dieser mannshohen Weidenskulptur von der Themenfindung bis zur Ausführung. Irmgard Wissing erläutert, warum: „Die Schwierigkeit war für mich, eine Form zu finden, in der die Liebenden im Herzen miteinander verbunden sind, sich aber trotzdem frei begegnen. Ich wollte ausdrücken, dass Binden und Loslassen mit Leichtigkeit möglich ist, wenn man im Herzen miteinander verbunden ist; eben durch die Liebe.“ Ein philosophischer Ansatz, der auch deutlich wird in der Skulpturengruppe „Kreis des Werdens und Vergehens.“ Zehn unterschiedlich große Kugeln und Halbkugeln, zum Teil mit kleinen Kugeln in ihrem Inneren, beschreiben den Weg des Menschen von der Geburt über das Heranwachsen bis zum Tod mit immer wiederkehrendem Loslassen und Neuanfängen.
Zum ersten Mal auf dem Flachsmarkt
Die außergewöhnlichste Weidenskulptur ist das Fahrrad mit Flügeln. Die Weidenkünstlerin vereint darin die Tatsache, dass die Erfinder des Flugzeugs, die US-amerikanischen Brüder Wilbur und Orville Wright, eigentlich Fahrradmechaniker waren. Und verknüpft das mit der Aussage: „Niemand ist zu klein, dass er nicht auch ganz groß denken kann.“ Ihr Nebenthema lautet „Mit Leichtigkeit weiter voran.“
Irmgard Wissing, die bisher einige wenige ausgesuchte, hochwertige Handwerkermärkte bereist hat, ist zum ersten Mal auf dem Flachsmarkt dabei und freut sich darüber, dass ihre Bewerbung bei den Organisatoren so gut ankam. Die Teilnahmekriterien sind streng, schließlich sollen die Besucher möglichst vielen Handwerkern live bei der Arbeit zusehen und den Entstehungsprozess der Produkte verfolgen können. An ihrem Stand auf dem Kleinen Lindenberg flechtet die Weidenkünstlerin Ferkel und Glücksschweine und stellt unter anderem Engel aus. Es sind aber hauptsächlich Auftragsarbeiten, die sie individuell für ihre Kunden fertigt – für Menschen, die mit einer Weidenskulptur einen Teil ihrer eigenen Seele ausdrücken oder mit einem solchen Geschenk einen lieben Menschen in der Seele berühren möchten. //pet
Weidenwerkkunst Irmgard Wissing
Flachsmarkt: Stand 164 + 165, Kleiner Lindenberg
Mobil: 0151-7007 3163, Telefon: 02536-9303
irmgard.wissing@web.de, www.wissing-weidenwerkkunst.de