Das Krefelder Rathaus in seiner stadtgeschichtlichen und baukulturellen Historie

 

Wer heute vor dem Krefelder Rathaus mit seiner prägenden weißen klassizistischen Fassade steht und zu den sechs markanten ionischen Säulen aufschaut, der denkt unweigerlich an die Blütezeit der Seidenweberfamilie von der Leyen. Blickt man aber hinter die Fassade, wird deutlich, dass das ehemalige Wohn- und Geschäftshaus bereits kurz nach seiner Fertigstellung stürmischen politischen und wirtschaftlichen Zeiten ausgesetzt war. Dass das Gebäude sogar erweitert wurde und heute noch steht, erscheint vor diesem Hintergrund alles andere als selbstverständlich.

 

 

 

Nordflügel

1892 wird der Nordflügel im Renaissance-Stil errichtet

Als die Familie von der Leyen 1794 ihr neues klassizistisches Stadtpalais außerhalb der damaligen Stadtmauer bezieht, ist das Wohn- und Geschäftshaus noch nicht einmal fertiggestellt. Ein Umzug vom sogenannten Floh’schen Haus an der Ecke Friedrichstraße/Carl-Wilhelm-Straße ist zu diesem Zeitpunkt auch nicht zwingend erforderlich. Aber Familienoberhaupt und Seniorchef Conrad von der Leyen hat vor dem Hintergrund des seiner Familie etwa 50 Jahre zuvor durch den Alten Fritz gewährten Monopols in der Seidenindustrie ein Ziel: Er möchte mit dem neuen Domizil, das alle anderen Krefelder Häuser um ein Vielfaches überragt und architektonisch an das Weiße Haus in Washington erinnert, seiner wirtschaftlichen Vormachtstellung ein Denkmal setzen.

Paradox: Zu diesem Zeitpunkt ist der Zenit bereits überschritten. Ausgerechnet im Jahr des Einzugs – der Alte Fritz ist schon acht Jahre tot, und die französischen Revolutionstruppen haben Krefeld besetzt – kippt Frankreich das Monopol durch die Einführung der Gewerbefreiheit. Somit können alle Bürger eigenes Gewerbe ansiedeln. Neue Arbeitsplätze entstehen, und das bürgerliche Kapital wächst. Bei aller Selbstüberschätzung des Seniorchefs und angesichts der Kritik einiger seiner mennonitischen Glaubensgenossen, die dessen Großmannssucht missbilligen, darf man nicht vergessen, dass die von der Leyens durch ihre prosperierende Firmenentwicklung viele Jahrzehnte lang großen Einfluss auf die wirtschaftliche und damit auch auf die bauliche Entwicklung der Stadt hatten. Mehr Wohnraum wurde benötigt, denn nicht nur die meisten Krefelder, sondern auch viele Menschen aus dem Umland standen bei der Seidenweber-Dynastie unmittelbar oder mittelbar in Lohn und Brot. Diese gute wirtschaftliche Situation in Krefeld „belegt auch die Tatsache, dass es in einer relativ kurzen Zeitspanne, nämlich zwischen 1692 und 1766, fünf Stadtauslagen gegeben hat“, erläutert Eva-Maria Eifert von der Unteren Denkmalbehörde der Stadt Krefeld das schnelle Wachstum. Und Georg Opdenberg, langjähriger Landvermesser bei der Stadt Krefeld, fügt hinzu: „Es war die Familie von der Leyen, die Mitte des 18. Jahrhunderts im Auftrag der preußischen Regierung die Stadterweiterung rund um ihr späteres Palais organisiert hat. Richtung Friedrichsplatz entstehen neue Quartiere, und weiteres Gewerbe siedelt sich an. 1778 leben in Krefeld schon mehr als 6.000 Einwohner.“

In den kommenden Jahrzehnten klettern die Einwohnerzahlen weiter nach oben. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird somit auch das erste Krefelder Rathaus, das 1633 an der Hochstraße/Ecke Schwanenmarkt gebaut und 145

Der heutige Rathauskomplex mit seinen deutlich sichtbaren fünf Baukörpern steht als Sinnbild für die wechselvolle Historie der Stadt zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert. Seine Architektur symbolisiert die dramatische Auf- und Abwärtsentwicklung der Textilindustrie, die von zwei Weltkriegen geprägt  war.

Georg Opdenberg

Er kennt jeden Rathauswinkel: Georg Opdenberg war langjähriger Vermesser bei der Stadt Krefeld

Jahre später durch einen Neubau ersetzt worden war, zu klein. Sollte man nun ausbauen oder an einer anderen Stelle neu bauen? Im Gespräch sind der Carlsplatz, der Luisenplatz, Ostwall und Rheinstraße. 1858 kommt das Stadtschloss in den Fokus. Conrad Wilhelm von der Leyen, ein Enkel des Seniorchefs, stimmt einem Verkauf sofort zu, was wohl auch daran gelegen haben mag, „dass man dort scheinbar nicht so recht glücklich geworden ist“, mutmaßt Eva Maria Eifert und ergänzt: „Bis 1857 lebte in dem Palais nur noch Maria von der Leyen, eine unverheiratete Tante der Familie.“ Hauptgründe aber sind vermutlich die abebbenden finanziellen Mittel der Familie und der baulich schlechte Zustand des Palais. Gutachter stellen statische Probleme durch eine mangelhafte Kellerkonstruktion und Feuchtigkeit an der Westseite fest. Dennoch kauft die Stadt 1859 das Schloss. Der günstige Kaufpreis von 25.000 Talern wird den Ausschlag gegeben haben. Zum Vergleich: Zur selben Zeit wird in Krefeld ein Altenheim für 20 Männer für 50.000 Taler gebaut. Zu dem Zeitpunkt war der Wohnsitz der Familie von der Leyen schon zum Ostwall gewandert, wo 40 Jahre später die Hauptpost gebaut wurde. Das „neue“ Rathaus bietet optimale räumliche Voraussetzungen für die Verwaltung der inzwischen 51.000 Bürger. Es verfügt über einen repräsentativen Eingangsbereich, einen großen und einen kleineren Saal sowie über 17 große und 15 kleinere Zimmer, die sich problemlos in Büros umwandeln lassen. Lediglich ein Arresthaus muss angebaut werden, denn damals waren Gerichtsbarkeit und Polizei noch in den Rathäusern angesiedelt. Zum Komplex gehört außerdem der repräsentative Garten, der allerdings schon damals durch den Westwall zerschnitten ist – eine Folge der Vier-Wälle-Planung durch den Architekten Adolph von Vagedes. Heute erinnern der Neptuns-Brunnen auf dem Mittelstreifen des Westwalls und ein Gingko-Baum noch an den ehemaligen von Leyenschen Park.

1887 ist ein weiterer Meilenstein der Stadtgeschichte. In diesem Jahr zählt Krefeld seinen Hunderttausendsten Einwohner. Obwohl die Jahre bis zum 1. Weltkrieg durch Wachstum geprägt sind, erlebt die Seidenindustrie einen kurzfristigen, aber empfindlichen Einschnitt mit dem Drei-Kaiser-Jahr 1888. Innerhalb von drei Monaten sterben Kaiser Wilhelm I. und sein Sohn und Nachfolger, Kaiser Friedrich III. „Die Staatstrauer hatte zur Folge, dass die Stadt sprichwörtlich am seidenen Faden hing. Weil die Menschen nur Schwarz trugen, waren die bunten leichten Stoffe der Krefelder Textilindustrie nicht gefragt“, erläutert Georg Opdenberg. Doch die Industrie erholt sich. Die Stadt wächst weiter, und das Rathaus muss erweitert werden. 1892 wird der Nordflügel im Renaissance-Stil errichtet. Kurz darauf bekommt das Rathaus eine Zentralheizung und elektrisches Licht.

Sechs Säulen überstehen die Bombennacht 1943: eine symbolische Aufforderung für den Wiederaufbau? Den ersten Weltkrieg überstehen Rathaus und Innenstadt baulich unbeschadet. Aber die folgende Inflation, Reparationszahlungen und die Weltwirtschaftskrise setzen den Menschen schwer zu. Trotz Wegzugs des Polizeipräsidiums aus dem Rathaus in das Hansahaus im Zuge der Verstaatlichung der Polizei im Jahr 1927, entscheidet sich das nationalsozialistische Stadtverordnetenkollegium wegen akuten Raummangels für die Errichtung eines Südflügels mit einer breiten Front am Westwall. Die Anmutung ist – gemäß dem Erbauungsjahr 1936 – faschistisch-düster: mit einer Muschelkalkverkleidung und hohen marmornen Scheinkaminen auf den Gängen.

Der 22. Juni 1943 markiert den schlimmsten Einschnitt in die Krefelder Baukultur und trifft das Herz der Krefelder ins Mark. In einem nächtlichen Bomben-Inferno mit über 1.000 Toten und über 9.000 Verletzten wird die Innenstadt zu 98 Prozent zerstört. Vom Rathaus bleiben nur die sechs Säulen. Eine symbolische Forderung für den Wiederaufbau? Der erfolgt bis 1955. „Das war angesichts des Zerstörungszustandes bewundernswert. Offensichtlich hat den Krefeldern ihr Rathaus viel bedeutet. Es war zum Identifikationsmerkmal ihrer Stadt geworden“, resümiert Eva-Maria Eifert und erinnert an die Rede des Krefelder Schriftstellers Otto Brües bei der Neueröffnung: „Das Haus, das wir soeben betreten haben (…) ist unser aller Haus, das Haus der Bürgerschaft.“ Mit diesem Impetus soll das Rathaus weiterwachsen. Nur drei Jahre nach der Wiedereröffnung setzt Baurat Hans Volger, ein ehemaliger Bauhaus-Schüler, den 3. Erweiterungsbau mit Arkadengang an der Sankt-Anton-Straße um. Der Bauhaus-Stil ist erkennbar und findet sich auch in der zur selben Zeit erbauten Gesamtschule Kaiserplatz wieder. Wiederum 30 Jahre später, 1988, wird das Rathaus letztmalig erweitert. Es entsteht der sogenannte „C-Block“ an der Gartenstraße.

Der heutige Rathauskomplex mit seinen deutlich sichtbaren fünf Baukörpern steht als Sinnbild für die wechselvolle Historie der Stadt zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert. Seine Architektur symbolisiert die dramatische Auf- und Abwärtsentwicklung der Textilindustrie, die von zwei Weltkriegen geprägt war. Steht man heute als Krefelder vor dem Rathaus auf dem Von-der-Leyen-Platz, verbinden sich die Epochen der Zeitgeschichte zu einem Gefühl der Identifikation mit der Stadt – genauso, wie es damals bei den Bürgern war, die das Palais einer Fabrikantenfamilie zu ihrem „Schloss“ erhoben haben.