Tief im Südwesten Fischelns, durch eine lange Allee vom Trubel der Stadt getrennt, gibt es einen Ort, an dem Geschichte lebendig wird. Wer hier sein Vorstellungsvermögen bemüht, sieht raufende Buben mit Zuckerwasser-Frisuren, SA-Funktionäre über den Vorplatz laufen oder trockene Alkoholiker auf der Suche nach einer neuen Perspektive. Einst 1904 als Rheinische Provinzial-Fürsorge-Erziehungs-Anstalt erbaut, erlebte der 85.000 Quadratmeter umfassende Campus Fichtenhain über mehr als zehn Dekaden immer wieder wechselnde Verwendungszwecke. Bis zu seiner Revitalisierung als Gewerbepark, war das zwölf Häuser umfassende Gründerzeit-Ensemble allerdings vornehmlich ein Hort der Erziehung, Besserung und Ausbildung. Heute gastieren im Haus 66, dort, wo bis 2013 arbeitslosen renitenten Jugendlichen das Handwerk gelehrt wurde, gerne Vorstände weltweit agierender Großkonzerne, um in sogenannten Offsite-Meetings Jahresbudgets in dreistelliger Millionenhöhe zu verhandeln. Ein baukultureller Plot-Twist der Extraklasse, der selbst Experten ein Stirnrunzeln abnötigt.
Es ist noch gar nicht lange her, da wurde dem kreisförmig angeordneten Gebäudekomplex selbst von städtischer Seite ein Imageschaden attestiert. Zu präsent sei die Vornutzung als Erziehungsheim, zu braun die Vergangenheit.
Für Andreas Hochbruck ist der Campus Fichtenhain der ideale Standort zur Zusammenführung mehrerer Unternehmen
Es ist noch gar nicht lange her, da wurde dem kreisförmig angeordneten Gebäudekomplex selbst von städtischer Seite ein Imageschaden attestiert. Zu präsent sei die Vornutzung als Erziehungsheim, zu braun die Vergangenheit. Tatsächlich lösen die gründerzeitlichen Backstein-Zweckbauten mit Jugendstilelementen, wie Türmchen, Fachwerk und runden Fenstern, bei einigen ambivalente Gefühle aus: Ein bisschen Hogwarts, ein bisschen Nervenheilanstalt. Was für so manchen beängstigend oder befremdlich wirkt, hat beim Krefelder Unternehmer Andreas Hochbruck bereits in Kindertagen eine große Faszination hervorgerufen. „In den Achtzigern sind wir hier oft zum Kicken hergekommen“, erzählt er und schmunzelt, „damals war das hier noch eine Werkstatt für arbeitslose Jugendliche. Mit den Jungs konnte man richtig Spaß haben, aber eine große Klappe riskierte man besser nicht!“ Hochbruck, studierter Betriebswirt, hatte Ende der Neunziger zunächst Karriere in der Telekommunikations-Branche gemacht, ehe er sich zum Unternehmer aufschwang und bis heute zehn sich gegenseitig befruchtende Firmen in den Bereichen Markenarchitektur, -Kommunikation und -Distribution aufbaute. In Fachkreisen ist er vor allem durch die Lieblingsagentur und die Sonic Sales Support GmbH bekannt, die für Weltkonzerne wie Adidas, Reebok, Les Mills, Postbank, Sony, Norisbank, Scout24-Gruppe, Harley Davidson oder Bombardier arbeiten. Im Campus Fichtenhain hat er das für sich ideale Areal gefunden, um eine Vielzahl seiner Unternehmen an nur einem Standort zu vereinen. Den Anfang machte der Erwerb des 12.000 Quadratmeter großen Grundstücks der Nummer 66 mit zwei Shed-Hallen, einer Wohnung und zwei weiteren Hallen im Hof. Insgesamt zwei Millionen Euro hat der in Oppum geborene 50-Jährige in die Sanierung des Komplexes investiert und damit einen großen Teil zur Nutzungsveränderung des gesamten Campus‘ beigetragen. Das, was sich hinter der originalgetreu wiederhergestellten Fassade offenbart, sucht in der Seidenstadt vergeblich seinesgleichen.
„Für mich war der Campus schon immer als Gewerbestandort interessant. Die Anbindung
zu Autobahn und Flughafen könnte besser kaum sein und auch die Struktur der Anlage, eingebettet in ein Naturidyll, bietet aufgrund seiner Bau-Substanz perfekte Voraussetzungen für unsere Bedürfnisse.“
Von der Ruine zur architektonischen Perle – Eine Mammutaufgabe
„Für mich war der Campus schon immer als Gewerbestandort interessant. Die Anbindung zu Autobahn und Flughafen könnte besser kaum sein und auch die Struktur der Anlage, eingebettet in ein Naturidyll, bietet aufgrund seiner Bau-Substanz perfekte Voraussetzungen für unsere Bedürfnisse“, begründet Hochbruck seine Kaufentscheidung. „Anfangs standen wir hier allerdings in einer Ruine.“ Gekalkte Wände, zerbrochenes Glas, hastig eingezogene Trennmauern, verwaiste Maschinen und zahlreiche Altlasten forderten den visionären Geist ebenso wie die fragile Konstruktion der Sheddächer. „Trotzdem hat es keine fünf Minuten gedauert, bis sich ein Bild vor meinem geistigen Auge formte“, so Hochbruck weiter. „Ich wusste genau, wie es hier einmal aussehen sollte und wie wir es nutzen würden. Unmittelbar nach dem Notartermin haben bereits die ersten Sanierungsarbeiten begonnen.“ Und die hatten es in sich: Maschinen, an denen seinerzeit Lehrlinge zum Schlosser, Schweißer, Schuster, Schneider oder Korbflechter ausgebildet wurden, mussten entfernt werden. Genauso wie Schutt, Teer und Altlasten. Dazu wurden Wände entweder eingerissen oder gestrahlt, und der Boden einen halben Meter ausgekoffert, um eine Fußbodenheizung zu verlegen, die anschließend mit Estrich übergossen und später mit PVC belegt wurde. Innerhalb eines Jahres verwandelt Hochbruck so die heruntergekommene Ruine in eine Perle der Architektur. Um den Charme der Jahrhundertwende zu erhalten, verzichtet er sogar auf eine Solaranlage, da diese zu schwer für die feine Stahlverästelung der Shed-Dachkonstruktion gewesen wäre. Und auch den Denkmalschutzvorgaben, die sich vor allem auf die äußere Erscheinung des Komplexes beziehen, trägt der Umbau Rechnung. Trotz der bisweilen widrigen Umstände hat Hochbruck seine Vision in die Realität überführt und ein 750 Quadratmeter großes Lofthaus, eine 250 Quadratmeter umfassende Wohnung und eine 500 Quadratmeter große Mixtur aus Garage und Fotostudio geschaffen. Die im Hof liegenden Hallen beherbergen nun ein Lager und eine prosperierende Motorradwerkstatt.
„Betrachtet man Lofthaus, Wohnung und Garage in Gänze, so ist im Bruch zwischen äußerlicher Gründerzeitanmutung und der klassischen Industrieoptik im Inneren der rote Gestaltungs-faden zu finden. Doch im Detail sind es ganz unterschiedliche Stilelemente, die den drei Bereichen einen ganz eigenen Charme verleihen.“
Gründerzeit trifft auf klassische Industrieoptik – Ein gekonnter Bruch
Betrachtet man Lofthaus, Wohnung und Garage in Gänze, so ist im Bruch zwischen äußerlicher Gründerzeitanmutung und der klassischen Industrieoptik im Inneren der rote Gestaltungsfaden zu finden. Doch im Detail sind es ganz unterschiedliche Stilelemente, die den drei Bereichen einen ganz eigenen Charme verleihen. Während im Lofthaus die zeitlos moderne Inneneinrichtung mit großen Tischen, Loungemöbeln, einem kupferfarbenen Kamin und der offenen Küche eine beinahe heimelige Symbiose aus Schroffheit und Wärme herbeiführt, sind es in der Garage wohl drapierte Retroelemente, die im Umfeld authentischer Vergangenheits-Architektur in Kombination mit exquisiten Autos und Motorrädern ein optisches Spannungsfeld hervorrufen. In der dazwischen liegenden zweistöckigen Wohnung dominieren die warmen Holztöne der Fußböden, die in einem gelungen Kontrast zur großzügigen Raumaufteilung stehen und sich auch in der blickfangenden Treppe widerspiegeln. „Ich habe dafür wohl ein Händchen“, sagt Hochbruck beinahe genant, ehe er die unterschiedlichen Nutzungszwecke illustriert. „Das Lofthaus nutzen wir entweder selbst für Business-Meetings oder stellen es unseren Kunden zur Verfügung. Bei großen Konzernen ist es üblich, dass größere Treffen nicht im eigenen Firmenumfeld stattfinden, weil man dort immer wieder gestört wird. Unsere Partner und Kunden schätzen das Ambiente hier und bleiben oft länger als eigentlich nötig. Die Garage wird zum einen tatsächlich zur Aufbewahrung von Autos und Motorrädern genutzt, findet aber auch immer wieder Verwendung als Fotostudio. Erst vor wenigen Tagen hatten wir hier ein Shooting für Harley Davidson.“
Der Zukauf der Häuser 46 und 48 bietet Platz für 160 Mitarbeiter
Für Hochbruck ist der Campus Fichtenhain nicht zuletzt wegen seiner infrastrukturellen Beschaffenheit ein Standort mit vielen Vorteilen. Deswegen hat er nach dem Erwerb und Ausbau des Komplexes 66 auch die ehemaligen Zöglingshäuser 46 und 48 hinzugekauft. Dort entstehen nun Büros für 160 Mitarbeiter der Sonic Sales Support Gmbh, der Lieblingsagentur, Ignition und Visionary Minds. Eine Win-win-Situation für den Unternehmer und den Standort, der sich inzwischen einer nahezu vollständigen Vermarktung erfreut. Ein Imageproblem hat der Campus wahrlich nicht mehr, aber ein Wahrnehmungsproblem. Oder wussten Sie, dass sich Global Player aus New York, London oder Peking neuerdings am liebsten dorthin begeben, wo einst schwererziehbare Zöglinge nach Besserung strebten?