
Eskender Daniel
Eskender Daniel malt mit seinem Zeigefinger ein imaginäres Kreuz auf Maximilian Derks‘ Knie. „Wie heißt dieses? Du weißt, das mit Norden und Süden?“ „Kompass“, antwortet Maximilian. Maximilian und Eskender, der in Deutschland nur Alex genannt wird, sind zwei ungleiche Freunde. Während der 25-jährige Krefelder wohlbehütet in der Komfortzone der westlichen
Wohlstandsgesellschaft aufgewachsen ist, stammt Alex aus Eritrea. Bis vor seiner Flucht im Februar des vergangenen Jahres, lebte er dort unter der Fuchtel eines autokratischen Regimes; litt unter Unterdrückung; Leid und Armut. Doch die beiden unterscheiden sich nicht nur in ihren Lebenswegen, auch rein optisch haben sie nicht viel gemein. Maximilian trägt kurzes Haar und eine fast aristokratische Blässe, daneben sitzt Alex mit dunkler Haut und schwarzen Locken. Für Alex ist Maximilian ein Bindeglied in eine für ihn mit Hürden gespickte neue Welt. Für Maximilian ist Alex ein Gesicht zu einem Thema, das in Deutschland vermehrt politisiert und polemisiert aus den Elfenbeintürmen der Republik diskutiert wird; er ist für ihn die personalisierte Flüchtlingskrise. Ein Freund, dem er unter die Arme greift. Trotz aller Unterschiede.
„Das erste Mal habe ich Alex im Jugendchor der evangelischen Gemeinde Schutzengel in Oppum kennengelernt“, beginnt Maximilian zu erzählen, „er ist dort einfach mit drei weiteren Flüchtlingen aus Eritrea aufgetaucht. Am Anfang war das für uns durchaus befremdlich, aber nach kurzer Zeit haben wir uns angenähert.“ In den kommenden Wochen und Monaten verbringen die beiden viel Zeit miteinander. Alex schöpft Vertrauen. Stück für Stück erzählt er dem jungen Maschinenbaustudenten von seinem harten Leben in dem westafrikanischen Land und den Gründen seiner Flucht. „Das war teilweise wirklich nicht leicht zu ertragen“, sagt Maximilian und blickt an die Decke. Alex selbst präsentiert die Etappen seiner Flucht hingegen äußerlich unberührt, augenscheinlich getragen von der neuentdeckten Leichtigkeit, die ihm seine jetzige Heimat bietet. Gerne möchte Alex seine Geschichte selbst erzählen, denn er ist stolz darauf, nach so kurzer Zeit schon beachtlich Deutsch zu sprechen. Manchmal mangelt es allerdings an Worten, dann blickt er hilfesuchend in Maximilians Gesicht, der wie ein trainierter Souffleur den Lückentext ergänzt.
Alex hatte in Eritrea einen sehr guten Schulabschluss erworben und arbeitete anschließend am Hafen im Bereich Material-Management. Der heute 25-Jährige liebte diesen Job. Doch dann zwang ihn die eritreische Regierung dazu, als Lehrer zu arbeiten. „Das wird da einfach entschieden“, sagt Maximilian und schüttelt den Kopf, „ein Mitspracherecht hat man da nicht.“ Was passiert, wenn man sich den behördlichen Anordnungen widersetzt, erfährt Alex, als er sich nach fünf Monaten im Lehrberuf weigert, die im aufoktroyierte Arbeit fortzusetzen. „Ich kam ins Gefängnis“, erzählt er mit weit aufgerissenen Augen. So, als würden ihm dabei die Bilder der Gräuel dieser Phase durch den Kopf schießen. Sechs Monate ist er eingesperrt. Nicht in einer Zelle, sondern auf einem großen Platz. Privatsphäre gibt es keine, dafür Schläge: wenn man einmal auf Toilette möchte oder um etwas zu Essen bettelt. „Manchmal sind Leute weggerannt, dann alle tot“, sagt Alex und beugt den Finger. Die Flüchtigen wurden erschossen. Es ist sein Vater, der einen Wärter mit 1.000 US-Dollar besticht und somit seinem Sohn die Flucht ermöglicht. Persönlich danken konnte ihm Alex dafür nie. Wäre er zurück zu seine Familie gegangen, hätte man ihn gleich wieder inhaftiert.
„Den wichtigsten Satz habe ich ihm gleich beigebracht: Entschuldigen Sie bitte meine Verspätung“, sagt Maximilian und lacht.
Insgesamt sechs Monate braucht Alex, um sein Wunschziel – Deutschland – zu erreichen. Was er in dieser Zeit erlebt, wäre Grundlage für ein eigenes Buch und steht ein Stück weit exemplarisch für fast alle Flüchtlinge. Ein aberwitziges Spektrum von Ausbeutung, Tod und menschlichen Abgründen. Erst läuft er ohne Wasser und Essen in den Sudan, wo er in einem Auffanglager landet. Danach fährt er in einem völlig überladenen Konvoi nach Libyen, wo nach dem Fall Gadafis Sodom und Gomorrha herrscht. Oft muss er mit ansehen, wie Menschen auf der Reise verdursten; Frauen und Kinder trifft es als Erstes. Wer nicht spurt, wird erschossen. Alex sieht das Dunkelste der Menschheit. Mit Vergewaltigungen muss er in diesen Tagen genauso umgehen, wie mit raffgierigen Schleuserbanden, deren Profitgier einen gewissen menschlichen Verschnitt einkalkulieren. Buchstäblich unmittelbar vor dem rettenden Ufer Italiens sinkt dann auch noch ihr Schiff. Erst in letzter Sekunde werden sie von der Küstenwache gerettet. 10.000 Euro muss Alex für seine Flucht an verschiedene Banden zahlen. Das Geld bekommt er zum Teil von seiner Familie, zu einem anderen Teil erarbeitet er es sich zwischen den Etappen selbst. Nicht jeder in seiner Familie möchte ihn unterstützen. Vor fünf Jahren konvertierte Alex vom Islam zum Christentum, eine Entscheidung, die ihm vor allem sein in New York lebender, muslimischer Onkel übelnahm.
Einmal im Schutzgebiet der EU angekommen, geht es für Alex mit einem LKW von Sizilien aus nach Palermo. Dabei sitzt er nicht etwa im Führerhaus, sondern liegt darunter eingeklemmt über dem Radkasten. Erst ab Rom nimmt er den Zug, wie jeder andere. Über Österreich geht es nach München, von dort aus in verschiedene Auffanglager der Republik. Nach sechs Monaten erreicht er Krefeld: erschöpft, pleite, aber glücklich. Sicherheit und Freiheit sind fortan seine Leitmotive, die ihn den großen Berg der westlichen Zivilisation erklimmen lassen. Mit vielem kann er nicht viel anfangen. Eine neue Sprache, neue Regeln, Bürokratie, Konventionen. Doch dann kommt die schicksalhafte Begegnung mit Maximilian, der nun Alex‘ Lotse im Dickicht der Verordnungen ist und dabei selbst an seine Grenzen stößt. „Es ist völlig absurd, anzunehmen, dass ein Flüchtling mit den schier unendlichen Auflagen und Behördengängen selbst zurechtkommt“, sagt Maximilian und winkt ab. „Selbst für mich war es fast nicht zu schaffen, verlässliche Aussagen darüber zu bekommen, was Alex darf und was er nicht darf. Ständig wird man von links nach rechts geschoben. Niemand möchte eine verbindliche Auskunft geben. Ich war mit ihm bei der Ausländerbehörde und wir mussten dort viereinhalb Stunden warten. Alle sind überfordert, wie soll es dann erst den Flüchtlingen gehen?“
Inspiriert von der Begegnung mit Alex, den gemeinsam bewältigten Hürden und vor dem Hintergrund einer ganz Deutschland in Atem haltenden Thematik, entschließt sich Maximilian zu einem Projekt mit dem Namen „Welcome to Europe“. „Ich spiele seit einiger Zeit in der Band ‚Better Late‘. Zusammen mit meinem Bandkollegen Lucas Andratschke und dem Designstudenten Maximilian Schröer habe ich die Idee entwickelt, die Flüchtlingsproblematik einmal in einen Song zu fassen. Wir wollten das ganze Thema anders anfassen: näher, freundlicher und direkter. Deswegen haben wir Alex gefragt, ob er Lust hätte, Teil des Videos zu sein“, erzählt Maximilian. Das Video des Songs, der inhaltlich an den Zusammenhalt Europas und die kleine Hilfe eines jeden appelliert, zeigt Alex bei einem Gang durch Krefeld. Es zeigt, wie Alex Fußball spielt und im Chor singt. Es ist ein Querschnitt durch seinen Weg in eine neue Gesellschaft. Eine komprimierte Darstellung seines Alltags, gespickt mit Wünschen, die ihm Passanten auf Tafeln mit auf den Weg geben. „Freunde, Glück und Gesundheit haben die meisten darauf geschrieben. Ausnahmslos jeder hat Alex eine positive Zukunft gewünscht. Das hat uns sehr gefreut“, erzählt Maximilian Schröer, der maßgeblich für die Kamera und den Schnitt verantwortlich war.
„Niemand möchte eine verbindliche Auskunft geben. Ich war mit ihm bei der Ausländerbehörde und wir mussten dort viereinhalb Stunden warten. Alle sind überfordert, wie soll es dann erst den Flüchtlingen gehen?“
Als der Krefelder Unternehmer, Gerd Frey, dessen Sohn Julian ebenfalls Bandmitglied von „Better Late“ ist, von dem Projekt erfuhr, wollte er Alex unbedingt kennenlernen. „Ich wollte einfach mehr über den Jungen wissen, von dem mir so viel erzählt wurde. Also bat ich Maximilian mit mir zu ihm zu fahren“, erzählt der Inhaber von „Niemann + Frey“, dem Krefelder Händler für Roller- und Motorradteile. „Alex hat mich gleich begeistert; er ist so fröhlich und engagiert. Am meisten beeindruckt hat mich allerdings sein unbändiger Wille, arbeiten zu dürfen. Für mich war es anschließend eine Ehrensache, ihm bei der Erfüllung dieses Wunsches zu helfen. Vor allem, weil er ja sogar entfernt aus unserer Branche kommt.“ Nach langem Ziehen und Ringen macht Alex nun ein Praktikum bei Niemann + Frey; gemeinsam mit seinen Helfern konnte er ein dreijähriges Bleiberecht erwirken. Seine Augen leuchten, wenn er über dieses jüngste Kapitel seines Lebens spricht. Alex ist angekommen, auch wenn er noch viel lernen muss. Darüber, was es bedeutet, in Deutschland einen Vertrag zu unterschreiben oder pünktlich zu einem Termin zu erscheinen. „Den wichtigsten Satz habe ich ihm gleich beigebracht: Entschuldigen Sie bitte meine Verspätung“, sagt Maximilian und lacht.
Alex‘ und Maximilians Freundschaft ist ein leuchtendes Beispiel dafür, wie Integration funktionieren kann. Aus Unkenntnis wurde Nähe, aus Nähe wurde Freundschaft. Alex hat Maximilians helfende Hand bereitwillig ergriffen und zahlt seine Bemühungen in purer Dankbarkeit zurück. Es sollten solch konkrete Beispiele sein, die uns beim Wort „Flüchtlinge“ einfallen. Keine beinahe entmenschlichten Diskussionen über ein politisches Thema. Keine generelle Ablehnung von Religionen oder Ethnien. Jeder Flüchtling ist ein Mensch, jeder Mensch hat ein Gesicht. Die Flüchtlingskrise hat viele Gesichter.